Kampf gegen Verdrängung: Berliner Tuntenhaus sucht Finanzier
Das queere Hausprojekt in Prenzlauer Berg ist von Verkauf bedroht. Das Gebäude ist sanierungsbedürftig. Berlin müsste einspringen – zögert aber.
D as hat der Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg lange nicht gesehen: Das Tuntenhaus hat zu einer „Ravekundgebung“ geladen, und weit über tausend Menschen sind an diesem 14. April gekommen, um Selbstbestimmung und Diversität zu feiern – und um das Tuntenhaus zu unterstützen.
Die Menschen drängen sich auf einem kleinen Abschnitt vor der Kastanienallee 86, einem der letzten unsanierten Häuser in der Kastanienallee. Technobeats wechseln sich ab mit furchtbarem Schnulzenpop. Mehrere Redner*innen in ausgefallenen Outfits präsentieren beißende Satire und kämpferische Kapitalismuskritik.
Auch der Abgeordnete Mathias Schulz von der SPD steht auf der Bühne und bekundet seine Unterstützung: „So viele Menschen auf der Kastanienallee. Das Tuntenhaus zeigt der Stadt heute erneut, warum uns der Erhalt dieser besonderen Institution über das Vorkaufsrecht etwas wert sein muss.“
Jil Brest und Alessandro U. sitzen in der Küche im Vorderhaus der Kastanienallee 86 und erzählen vom Zusammenleben „jenseits der Heteronormativität“. Das Tuntenhaus sei ein Wohnort, aber auch ein Ort für viele andere Zwecke, sagt Brest, die seit zehn Jahren hier wohnt.: Hoffeste, Katerfrühstück, Tunten- und Tortenrausch, Kundgebungen und Veranstaltungen finden hier statt.
Im Mai 1990 in Friedrichshain gegründet
Das Tuntenhaus wurde im Mai 1990 bei der Besetzung der Mainzer Straße in Friedrichshain von queeren Aktivist*innen gegründet, nach der Räumung wenige Monate später fand es Zuflucht im Hinterhaus der ebenfalls besetzten Kastanienallee 86. Mit dem damaligen Vermieter, der Wohnungsbaugesellschaft Prenzlauer Berg, wurden Mietverträge abgeschlossen, doch im Rahmen der Rückübertragung von Eigentum in der ehemaligen DDR ging das Haus 1999 an einen Steuerberater aus Düsseldorf über, der es 2004 wieder verkaufte.
Die neuen Eigentümer wollten das Haus teuer sanieren. Gegen die damit verbundenen Mietpreiserhöhungen protestieren die Bewohner*innen seitdem mit der auffälligen Leuchtschrift „Kapitalismus normiert, zerstört, tötet“ auf der Fassade des Vorderhauses. Die Sanierung fand nie statt. Danach wurde es ruhiger um die Kastanienallee 86.
Das ging so bis zum 15. Februar 2024, als das Haus an einen unbekannten Käufer verkauft wurde. Die dort lebenden knapp 40 Menschen riss das aus ihrem Dornröschenschlaf, denn sie müssen davon ausgehen, dass der neue Eigentümer das lukrative, aber baufällige Gebäudeensemble teuer sanieren oder gleich ganz abreißen will. Die Tuntenhaus-Bewohner*innen sind seitdem permanent auf den Beinen, um ihr Zuhause zu retten. Der Schlüssel dazu ist das Vorkaufsrecht.
„Da das Haus im Milieuschutzgebiet steht, muss der Käufer einen Antrag auf Negativbescheid stellen“, erklärt Hausbewohnerin Jil Brest – er muss sich also versichern lassen, dass kein Vorkaufsrecht besteht. „Dann hat der Bezirk drei Monate Zeit, um das Vorkaufsrecht zu prüfen, wenn bauliche Mängel vorliegen.“ Und genau das sei hier der Fall: Toilette auf dem halben Stock, Kachelöfen, Probleme am Dach, veraltete Elektrik, feuchte Keller.
Drei Millionen für Instandsetzung
Dann könne der Bezirk das Vorkaufsrecht zugunsten eines Dritten gemeinwohlorientiert ausüben, weil zu erwarten ist, dass die Mieten durch die nachzuholende Instandsetzung zu sehr ansteigen werden. Das Problem dabei ist, dass dieser „Dritte“ dann nicht nur den Kaufpreis (rund 1,5 Millionen Euro) aufbringen muss, sondern auch noch die Mittel für die Instandsetzung (weitere 3 Millionen). Und die Zeit drängt, denn bis zum 15. Mai muss das Vorkaufsrecht angewendet werden.
Die Tunten und ihre Unterstützer*innen machen nun Kundgebungen vor der Bezirksverordnetenversammlung und dem Abgeordnetenhaus. Bereits zuvor gab es im Tuntenhaus regelmäßig das „unholy Katerfrühstück“, eine Küche für alle. Nun finden an jedem Wochenende Veranstaltungen statt, die Ravekundgebung ist der bisherige Höhepunkt. Eine Person auf der Bühne interpretiert gerade „Wir sind alle Terroristen“ von Georg Kreisler und Barbara Peters: „Andere bestimmen, ob du stirbst oder ob du lebst; / andere bestimmen, was du denkst und wonach du strebst – / und sie bestimmen dich zum staatlichen Terroristen.“
Die anschließenden Dragshows laufen alle ähnlich ab: Eine Dragqueen kommt mit fantasievollem Namen und ebensolchen Klamotten auf die Bühne und zieht diese dann zu seichter Musik wieder aus. Doch die Menge jubelt bei jedem Beitrag frenetisch, spätestens wenn „Tuntenhaus bleibt!“ skandiert wird. Und dann geht es mit Techno weiter, zu dem Dragqueens leicht bekleidet in den Fenstern des Vorderhauses tanzen. Viele im Publikum sind ebenfalls gestylt, die Stimmung ist ausgelassen, fast schon euphorisch.
Das Tuntenhaus ist vor allem für seine legendären Hoffeste bekannt. Aber darüber hinaus hätten die Leute „lange nichts gemacht“ und nur in ihrer „Bubble“ gelebt, kritisiert eine Frau. Doch heute wird gefeiert und demonstriert. „Das Tuntenhaus bedeutet für mich: Schutzraum für queere Menschen, alternative Lebensform, Feiern unter sicheren Verhältnissen, also sicher vor heteronormativer Anmache“, sagt Bine. „Berlin täte gut daran, sich genau diese letzten Freiräume von queerem Leben und Subkultur zu erhalten.“
Skulpturen wie „Spendentunte“ und „schwule Sau“
Mittendrin ist auch Miss Tobi. Sie hat Ende der 1990er Jahre hier gewohnt und schweißt bis heute nebenan in ihrer Werkstatt. Einige ihrer Skulpturen wie die „Spendentunte“ und die „schwule Sau“ stehen herum. Berlin stehe für Offenheit und Toleranz gegenüber queeren Menschen. Für diese sei es wichtig, einen Ort zu haben, wo sie sich sicher fühlen – gerade auch angesichts zunehmender Übergriffe. „Viele Leute aus unterschiedlichen Kulturen zu treffen und auch dieses queere Einfach-da-sein-Können ist für mich ein starker Ausdruck der Kreativität.“
Alessandro U. wohnt seit 2018 im Tuntenhaus. Zuvor hat er in der brasilianischen Metropole São Paulo im Teatro Oficina gearbeitet, das sich bereits seit 37 Jahren gegen Gentrifizierung wehrt. „Es ist für mich sehr vertraut, um einen Platz zu kämpfen, wo man Veranstaltungen machen kann und eine queere Community aufbauen kann“, sagt er. „Für mich ist das Tuntenhaus auch ein brave space, wo du die Energie bekommst, um mutig zu sein.“
Bereits Mitte März haben die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke den Berliner CDU-SPD-Senat aufgefordert, den zuständigen Bezirk Pankow dabei zu unterstützen, sein kommunales Vorkaufsrecht für das queere Wohnprojekt auszuüben. Der Bezirk Pankow tue bereits alles, was an Vorbereitungen notwendig ist, um das Vorkaufsrecht zu ziehen. Jetzt müsse auch der Senat „seine Hausaufgaben machen und die notwendigen Gelder zur Verfügung stellen“. Auch Politiker*innen von SPD und CDU haben Unterstützung für das Tuntenhaus signalisiert.
Das Problem sei, so Hausbewohnerin Jil Brest, dass das Land Berlin für zinsgünstige Kredite bürgen müsste. „Und da sperren die sich. Es gibt immer nur warme Worte, dass das Projekt erhaltenswert ist und wichtig für den Kiez und die Stadt und die queere Community; aber sie prüfen immer noch die Finanzierung.“
Jil Brest, Bewohnerin des Tuntenhauses
Den Einwand, dass Berlin gerade eine Haushaltssperre verhängt habe, lässt Brest nicht gelten: „Bei einem Haushalt von 40 Milliarden ist das immer eine politische Frage, ob Geld da ist oder nicht. Und wenn der Senat sagt, er hat kein Geld, heißt das in Wirklichkeit, er möchte kein Geld geben, denn er hat Geld! Was ist dem Senat Vielfalt und dieses Etikett Regenbogenhauptstadt wert, mit dem man sich gerne schmückt?“
Provinzhuhn aus dem fernen Westen
20 Uhr, draußen wird die letzte Technorunde eingeläutet und noch einmal ein beträchtlicher BPM-Wert zugelegt. Auch Benji ist hier, „um das Tuntenhaus zu feiern“, denn: „Das Tuntenhaus war für mich als Provinzhuhn aus dem fernen Westen das erste Mal, dass ich als queerer Mensch willkommen war.“
Benji hat ebenfalls hier gewohnt und das Drehbuch zum Film „Oi! Warning“ geschrieben. „Das ist alles dem Tuntenhaus zu verdanken. Es ist einer der wenigen Plätze, in dem Menschen, die normalerweise ausgegrenzt werden, willkommen sind. Und diese Plätze werden immer weniger, wie eine Eisinsel, wo immer mehr wegbricht, und ein einsamer Eisbär sitzt dann am Schluss noch drauf, der nicht mehr weiß, wohin. Und so geht es ja auch mit den Projekten, die freiheitlich und libertär organisiert sind. Das muss erhalten bleiben.“
Weggebrochen ist unter anderem das queerfeministische Hausprojekt Liebigstraße 34 in Friedrichshain. Es wurde an den berüchtigten Immobilienunternehmer Padovicz verkauft, der es 2020 kurzerhand räumen ließ. Die Unterstützung seitens des damals noch rot-rot-grünen Senats war äußerst gering, das Polizeiaufgebot dafür umso größer. Auch die kleine queerfeministische Wagenplatzgruppe DieselA ist weg. Nachdem sie aus der inzwischen zugebauten Rummelsburger Bucht vertrieben worden war, bemühte sie sich jahrelang um brachliegende Flächen der Bahn – vergeblich.
Am Tag nach der Ravekundgebung ist das Wetter umgeschlagen. Während im Hof der 86 noch immer aufgeräumt wird, findet nebenan im Café Morgenrot eine Veranstaltung zum kommunalen Vorkaufsrecht und zu Gentrifizierung in Prenzlauer Berg statt, die der Bildungsverein Helle Panke organisiert hat. Neben Jil Brest und Plutonia Plüschowa vom Tuntenhaus sitzen der Stadtsoziologe Andrej Holm und Birgit Ziener vom Mietshäuser Syndikat auf dem Podium.
Ein „klassischer Verdrängungsprozess“
Holm gibt einen Überblick, wie der Prenzlauer Berg vom runtergekommenen Aussteigerviertel der Wendejahre in nur 15 Jahren zum hippen Bionade-Biedermeier-Hotspot werden konnte. Fast alle Häuser wurden privatisiert, dann weiterverkauft und (zunächst mit öffentlicher Förderung) umfassend saniert. Das führte zu einer völlig neuen Zusammensetzung der Bevölkerung in dem Viertel, ein „klassischer Verdrängungsprozess“, der „im völligen Gegensatz“ zu der versprochenen Beteiligung der Mieter*innen und dem Erhalt der Bevölkerungsstruktur gestanden habe. Diese Versprechen seien nicht eingehalten worden, konstatiert Holm: „Wir waren zu naiv.“
Das kommunale Vorkaufsrecht sei ein „typisch deutsches Verwaltungsinstrument“, um die Mieter*innen vor Verdrängung zu schützen, erklärt Holm. Unter bestimmten Voraussetzungen hat eine Gemeinde die Möglichkeit, in einen Hauskauf einzusteigen. Eine Bedingung ist der Schutz der Milieustrukturen. In Berlin konnten so ab 2015 fast 400 Häuser dem Markt entzogen werden. Doch ein Berliner Hauseigentümer klagte dagegen und bekam im November 2021 vom Bundesverwaltungsgericht recht. Seitdem kann Berlin einen Vorkauf nicht mehr mit einer Gefahr in der Zukunft begründen (Verdrängung der Mieter*innen), sondern nur noch mit schweren baulichen Mängeln.
Eine Reform des Vorkaufsrechts auf Bundesebene wäre laut Holm juristisch problemlos machbar, die Bundesregierung muss bloß den entsprechenden Absatz im Baugesetzbuch ändern. Das hängt aber, wie so vieles, in der Ampelkoalition fest, konkret bei Bundesjustizminister Buschmann (FDP). Dabei geht es aber nicht nur um Geld, betont er, sondern auch um politischen Willen: „Man muss verhindern, dass ein Grundstück aus Verwertungsinteresse verkauft wird. Wir brauchen eine öffentliche Verantwortung für eine soziale Wohnversorgung.“
Im Fall der Kastanienallee 86 sind die Voraussetzungen für ein Vorkaufsrecht gegeben, das hat der Bezirk Pankow festgestellt. Dem neuen Eigentümer muss eine sogenannte Abwendungsvereinbarung vorgelegt werden, in der er sich zu umfangreichen Mieterschutzmaßnahmen und zur Beseitigung der baulichen Mängel verpflichtet. Lehnt er dies ab, kann der Bezirk das Haus vom Käufer auslösen und an eine städtische Wohnungsgesellschaft oder Genossenschaft verkaufen.
Ein spezielles Problem
Im Gespräch ist die Genossenschaft Selbstbau. Diese könnte das Haus aber nicht aus eigenen Mitteln finanzieren, sondern benötigte Hilfe vom Senat, etwa über Förderprogramme. Das Problem ist, dass nicht gefördert wird, wenn die Kosten für eine Sanierung deutlich höher als der Kaufpreis sind, was beim Tuntenhaus der Fall ist.
Der Bezirk Pankow und die Senatsverwaltungen für Finanzen und Bauen müssen sich einigen, und zwar schnell. Schon am 15. Mai muss eine Abwendungsvereinbarung an den Käufer zugestellt werden. Der Bezirk Pankow hat bereits zugesagt, sein Vorkaufsrecht geltend machen zu wollen. Das Tuntenhaus sei ein besonderer und fest im Kiez verankerter Ort der Vielfalt, so Bezirksstadtrat Cornelius Bechtler (Grüne): „Wir wollen daher gemeinsam dieses Leuchtturmprojekt erhalten.“ Die Förderung sei jedoch „der schwierigere Teil der Aufgabe, die der Senat übernimmt“. Der begünstige Dritte sei auf eine Ankauf-Förderung angewiesen; „der Bezirk kann grundsätzlich keine Häuser kaufen“.
Auch beim Senat sei „der politische Wille durchaus da“, dem Bezirk das Vorkaufsrecht für das Tuntenhaus zu ermöglichen, sagte Bausenator Christian Gaebler (SPD) am 22. April im Stadtentwicklungsausschuss des Abgeordnetenhauses. Seine Senatsverwaltung „arbeitet in konstruktiven Gesprächen intensiv daran, eine Lösung für das Tuntenhaus zu finden“, so Gaebler zur taz. Allerdings müssten die Mieten für die Bewohner*innen dann deutlich steigen; auch einen Abriss will Gaebler nicht ausschließen.
Noch schieben sich der Bezirk und die Senatsverwaltungen gegenseitig die Verantwortung zu. Denn das Problem der Finanzierung ist weniger der Ankaufspreis als die deutlich teurere anschließende Instandsetzung. Andrej Holm schlägt einen Runden Tisch zum Vorkaufsrecht in der Kastanienallee 86 vor, der alle Verantwortlichen zusammenbringt. Denn ein Kauf eines Hauses, das in öffentlicher Hand bleibt, sei eine Investition und kein Verlust.
Von wegen weltoffene queere Stadt
Miss Tobi zeigt sich dennoch optimistisch: „Berlin schreibt sich gerne eine weltoffene queere Stadt auf die Fahne. Und weil das Tuntenhaus auch eine sehr gute Kampagne macht und überregional bekannt ist, vermute ich mal, dass die Chancen eher gut aussehen. Es gibt ja auch positive Signale, aber das ganze Verfahren ist noch in der Schwebe und die Zeit rennt natürlich davon.“
„Es ist ein Pokerspiel“, sagt auch Plutonia Plüschowa, eine der Sprecher*innen des Tuntenhauses, „die Spannung steigt.“ Die Bewohner*innen des Tuntenhauses fordern den Senat auf, zeitnah eine tragfähige Finanzierung von Ankauf und Instandsetzung sicherzustellen.
Eine am 13. März gestartete Petition an Bausenator Christian Gaebler (SPD), Finanzsenator Stefan Evers und Bürgermeister Kai Wegner (beide CDU) hatte 25. April schon fast 20.000 Unterschriften erhalten. Und in den nächsten Wochen wird es weiter fantasievolle Aktionen geben. Am 27. April etwa sind ein Tuntenspaziergang („Gallery on Heels“) und ein Solikonzert geplant.
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