Juso-Chef über die SPD: „Wir müssen aggressiver auftreten“
Kevin Kühnert gilt vielen in der SPD als Hoffnungsträger. Bei Fragen der Spaltung zwischen Basis und Spitze gibt sich der Juso-Chef kompromissbereit.
taz: Herr Kühnert, in Frankreich protestieren die Gelbwesten gegen die Regierung. Wo stehen Sie – auf der Seite von Präsident Macron oder auf der des Protests?
Kevin Kühnert: Diese Frage ist mir zu schematisch.
Sympathien werden Sie doch haben?
Die Heilsversprechen von Macron haben das Leben der Menschen nicht verbessert. Er hat den Arbeitsmarkt liberalisiert und Arbeitsschutzstandards gesenkt – und wollte die Benzinsteuer erhöhen, was normale Beschäftigte getroffen hätte. Protest dagegen ist natürlich notwendig und hat meine Solidarität. Aber manche Gelbwesten wettern im selben Atemzug gegen den UN-Migrationspakt, gegen Zuwanderung und gegen die EU. Das delegitimiert den Protest noch nicht grundsätzlich, aber …
… ist Ihnen zu unordentlich?
Nein. Protest hat immer ein anarchisches Moment. Man muss sich ja nicht erst bei einer Gewerkschaft oder Partei anmelden, um auf die Straße gehen zu dürfen. Trotzdem fände ich gut, wenn die Gelbwesten einen Minimalkonsens formulieren würden. Etwa: Hey, wir sind wütend. Aber Rassismus lassen wir nicht zu.
Muss die SPD mehr auf linken Populismus setzen?
Wir müssen auf dem Feld von Verteilungsfragen und Sozialpolitik viel aggressiver auftreten. Das ist mittlerweile auch in den meisten Köpfen der SPD angekommen.
Mit Verlaub, davon merkt man von außen wenig.
Immer mehr Leute in der SPD sagen hinter vorgehaltener Hand, dass es im Rahmen der Erneuerung natürlich nach links gehen muss. Wenn Sie Leute auf der Straße fragen, ob Reiche stärker besteuert und so an der Finanzierung der Gesellschaft beteiligt werden sollen, kriegen Sie Zustimmungsraten von 80 Prozent.
Hinter vorgehaltener Hand? Das nützt doch nichts, Herr Kühnert.
Sie sind jetzt wieder auf der taktischen Ebene. Natürlich wird das noch viel lauter werden müssen. Aber die Verteilungspolitik allein ist nicht mehr der entscheidende Kampf für die Sozialdemokratie. Die eigentlich spaltende Frage haben Wagenknecht in Deutschland oder Mélenchon in Frankreich aufgemacht. Wollen wir einen progressiven Populismus à la Nancy Fraser, der Umverteilung und Minderheitenrechte nicht gegeneinander ausspielt? Oder haben wir die Leute mit der gesellschaftspolitischen Liberalisierung überfordert, war es zu viel Eheöffnung, Frauenrechte und Migrations-Hurra?
Lassen Sie uns raten: Sie sind bei Nancy Fraser?
Ja. Ich finde das Konzept richtig, das Bernie Sanders in den USA vertritt. Er hat die Stahlarbeiter im Rust Belt angesprochen ohne dabei zu verhehlen, dass er sich für Minderheiten einsetzt und die Grenzen nicht dicht machen will.
Nils Heisterhagen, ein Genosse von Ihnen, hält linksliberale Gesellschaftspolitik für ein Elitenkonzept. Er argumentiert, die SPD müsse sozialpolitisch linker und innenpolitisch härter werden.
Kevin Kühnert, 29, seit einem Jahr Vorsitzender der Jungsozialist*innen, hat mit seiner No-Groko-Kampagne 2017 beinahe die Regierung verhindert
Ich habe Heisterhagens Texte teilweise gelesen. Aber mir hat bis heute keiner erklären können, warum beide Aspekte – Umverteilung und Liberalisierung – im Widerspruch zueinander stehen. Das ist doch kein Entweder-Oder!
Ist der Kampf für Gleichberechtigung nicht gewonnen? Homosexualität ist, siehe Westerwelle, Wowereit oder von Beust, gesellschaftlich normalisiert worden.
Falsch.
Falsch?
Homosexualität wird toleriert. Aber bei weitem nicht so akzeptiert, wie es echte Gleichstellung erfordern würde.
Wieso?
Ich erlebe als schwuler Mann noch genügend diskriminierende Situationen. Zum Beispiel darf ich wegen meiner sexuellen Orientierung kein Blut spenden. Weil mir ein Lebenswandel unterstellt wird, der mich als Spender disqualifiziert. Was stimmt ist, dass wir über solche Diskriminierungen kaum noch reden.
Es gibt also eine latente Diskriminierung?
Kevin Kühnert, Juso-Chef
Es gibt den Pay Gap nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen heterosexuellen und anderen Lebensweisen. Diskriminierungen werden meist mit einem freundlichen Gesicht vorgetragen. Kramp-Karrenbauer formuliert ihre Ablehnung der Ehe für alle ja konziliant. Zum Glück gelingt heute mehr Jugendlichen ein lockeres Outing ohne Verwerfungen. Aber es gibt bei queeren Jugendlichen immer noch erschreckend viele Selbstmorde. Viele Tabus sind noch nicht überwunden.
Didier Eribon beschreibt in dem Buch „Rückkehr nach Reims“, dass es in der Pariser Elite kein Problem war, homosexuell zu sein, sehr wohl aber aus einem Arbeiterhaushalt zu kommen. Die harte Grenze für sozialen Aufstieg ist nicht mehr, einer Minderheit anzugehören, sondern aus der falschen Klasse zu kommen. Einverstanden?
Klasse ist häufig ein großer Bremsklotz, einverstanden. Aber Eribon wurde oft falsch interpretiert. Er plädiert für mehr Repräsentanz der Arbeiterklasse und ihrer Interessen. Aber er sagt zu Recht auch, dass Arbeiter homosexuelle und transsexuelle Kinder haben, Migranten sind oder dass Arbeiterinnen Diskriminierung als Frauen kennen. Frauen- oder Minderheitenrechte sind keine Themen, die erst ab 3.000 Euro netto im Monat relevant werden.
Die Entfernung zwischen Regierungen und Regierten wächst in vielen westlichen Demokratien. Die SPD setzt auf kleine Reparaturen im System. Reicht das, um den Groll der Basis zu besänftigen?
Das ist ein schwer auflösbarer Konflikt. Bei vielen Menschen ist der emotionale Dispo überzogen. Wer lange das Gefühl hat, die SPD baue sowieso nur Mist, schaltet ab – und nimmt reale Verbesserungen nicht mehr zur Kenntnis.
Andrea Nahles ist in der Partei sehr gut vernetzt, trotzdem hat sie sich im Fall Maaßen eine krasse Fehleinschätzung geleistet. Warum?
Die Nöte der jeweiligen Rollen zu verstehen ist wichtig. Die Spitzenleute haben den Koalitionsvertrag verhandelt, sind tief in Themen drin und addieren im Kopf, welche Erfolge noch kommen. Dieses Jahr gleiche Krankenkassenbeiträge für Beschäftigte und Arbeitgeber, nächstes Jahr die Grundrente und die Bildungsinvestitionen für die Kommunen. Die Perspektive vieler Mitglieder ist eine ganz andere. Die kriegen Zuhause im Sportverein nur negatives Feedback, im Sinne von: Mensch, eure Leute da oben sind schon wieder eingeknickt. Beide Perspektiven haben eine Berechtigung und müssen in Übereinstimmung gebracht werden.
Ende 2019 will die SPD eine Halbzeitbilanz der Groko ziehen. Rechnen Sie damit, dass Ihre Partei die Koalition verlässt?
Das kann ich heute nicht abschätzen, vielleicht bricht das Bündnis ja auch schon davor. Viel hängt von den nächsten Monaten ab. Wie wirkt sich der Führungswechsel in der Union aus? Wie weit muss Kramp-Karrenbauer den Merz-Leuten entgegenkommen?
Sie waren von Beginn an gegen die Groko, die die SPD nun in den Abgrund zieht. Hätten Sie militanter auftreten müssen?
Nö. Wieso?
Sie haben auf dem Bonner Sonderparteitag, als es um die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ging, eine moderate Rede gehalten. Mit einer harten Ansage hätten Sie vielleicht gewonnen.
Ich kenne meine Partei ganz gut und weiß, wann ich wie auftrete, um meine Überzeugungen bestmöglich zu vertreten. Wäre ich in Bonn krawalliger aufgetreten, hätten wir weniger Zustimmung für unser Anliegen bekommen.
Echt? Die Entscheidung für die Groko auf dem Parteitag war knapp.
Ich musste ja nicht die überzeugten Groko-Gegner mit den roten Zipfelmützen für mich gewinnen, sondern die zweifelnden Delegierten. Die, die wissen wollten, wie es danach weitergeht. Außerdem: Wir als Jusos hatten kein Interesse daran, dass der Laden nach der Entscheidung implodiert.
Trotzdem haben wir das Gefühl, dass Sie ein zahmer Rebell sind. „Diese GroKo ist final erledigt“, twitterten Sie nach der Hessen-Wahl. Aber Taten lassen Sie nicht folgen, oder?
Kevin Kühnert, Juso-Chef
Die Haltung der Jusos zur Groko ist bekannt. Wir haben sehr grundsätzlich argumentiert, warum wir die Koalition für nicht sinnvoll halten – auch wegen demokratietheoretischer Aspekte. Es bringt doch aber nichts, wenn ich jeden Montag ein Facebook-Bild poste, auf dem steht, wir sind immer noch dagegen.
Weil Sie damit falsche Erwartungen wecken würden?
Klar. Wir Jusos sind für viele zu einem Fixpunkt einer politischen Kultur geworden, die sich mehr traut und zuspitzt. Und unsere Position ist unverändert. Aber ich weiß auch, dass es keine unmittelbaren Auswirkungen hat, wenn ich ständig das Ende der Groko fordere. Wir müssen dann attackieren, wenn die Attacke angebracht und erfolgsversprechend ist. Sonst benebeln wir die Leute mit Illusionen.
Viele in der SPD projizieren Hoffnungen auf sie. Belastet Sie das manchmal?
Einerseits fühle ich mich wie jeder Mensch geschmeichelt, wenn mir jemand sagt, ich mache meine Sache gut. Gleichzeitig geht mir alles etwas schnell und zu oberflächlich. Ich bin jetzt seit einem Jahr Juso-Chef. Und nur, weil ich ab und zu sinnvolle Sachen sage, qualifiziert mich das noch nicht automatisch für ein Spitzenamt.
Bayerns SPD-Fraktionschef Horst Arnold hat Sie als Parteichef vorgeschlagen.
Ja, mit einer spannenden Begründung. Ich hätte die Debatte über die Groko hingekriegt, ohne dass Verletzungen zurückgeblieben seien. Aber das allein ist ja noch keine Qualifikation für den Parteivorsitz. Diskutieren ohne zu verletzen können ziemlich viele SPD-Mitglieder.
Ein Journalist hat geschrieben: „Je dunkler es um die SPD wird, desto heller strahlt Kühnert.“ Empfinden Sie das als gefährlich?
Gefährlich?
Erinnert ein bisschen an Martin Schulz.
Aber die These ist dünn. Ich bin bewusst in eine Partei eingetreten. Der Ort, wo ich Politik machen will, ist eine große Kollektivorganisation. Auf dem Zettel steht SPD – und nicht Kevin Kühnert.
Aber Personal entscheidet heute Wahlen.
Die SPD hat auch andere Erfahrungen gemacht. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück hatten in ihren Bundestagswahlkämpfen gute Beliebtheitswerte. Trotzdem fuhren sie für die SPD keine grandiosen Ergebnisse ein. Die Leute verstehen schon, dass wir ein komplexer Apparat sind. Und dass einer allein nicht alles vom Kopf auf die Füße stellen kann.
Nervt es Sie, dass Sie auf der Straße erkannt werden?
Kevin Kühnert, Juso-Chef
Wenn ich in Eile bin, erwische ich mich dabei, dass ich den Kopf nach unten halte. Damit mich möglichst keiner anspricht und ich meinen Zug erwische oder so. Ich bin ganz schlecht darin, Leute stehen zu lassen. Aber ich sehe die Bekanntheit eher als Privileg. Es ist toll, im ICE oder sonstwo ungefiltertes Feedback für meine Arbeit zu kriegen.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Ich mache keine Karriereplanung. Die SPD ist im Moment eine 14-Prozent-Partei. Wer seine Karriereplanung darauf aufbaut, hat den Schuss nicht gehört.
Jetzt machen Sie sich klein. Sie werden doch auf dem kommenden SPD-Parteitag kandidieren, oder?
Ja, ich werde auf dem nächsten Parteitag für ein Amt kandidieren. Aber für welches, da habe ich noch keine Idee. Ich will erst schauen, wie der Erneuerungsprozess vorankommt. Wichtig finde ich, dass für den Vorstand mehrere Menschen antreten, die eine bestimmte Agenda unterstützen …
Was für Punkte meinen Sie?
Die ließen sich leicht entwerfen. Sie müssten zum Beispiel sagen: Wir heben unsere Hand im SPD-Vorstand nur für verteilungspolitische Projekte, die die Schere zwischen Arm und Reich schließen. Es geht auch um Machtfragen – und darum, Mehrheiten im Vorstand zu ermöglichen.
Traut die SPD sich, sich mit den Eliten anzulegen? Sie haben mal gesagt, SPDler würden nervös, wenn Welt-Chef Ulf Poschardt einen bösen Kommentar schreibt.
Stimmt leider. Danach hat mich übrigens Ulf Poschardt gefragt, ob wir uns mal zum Mittagessen treffen sollen.
So fängt es an. Sie haben doch schon eine Kolumne im Handelsblatt.
Eine unbezahlte Kolumne, wie ich betonen möchte.
Wie verdienen Sie eigentlich Ihr Geld?
Ich arbeite für ein Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus.
Arbeiten Sie da wirklich? Ihr Job als Juso-Chef ist doch recht aufreibend.
Es ist natürlich nur ein Teilzeit-Job. Und, da rollen viele mit den Augen, es ist ein Politik-Job. Aber anders geht es nicht. Meine Chefin hat Verständnis, wenn ich kurzfristig eine Stunde in einer Telefonkonferenz hängen muss – und dafür abends länger bleibe.
Wäre es nicht ehrlicher, das Amt als Juso-Chef zu bezahlen?
Das ist eine grundsätzliche Frage. Bei uns ist das politische Amt ein Ehrenamt, auch wenn der Aufwand natürlich vom Verband getragen wird. Für mich ist das kein Problem, ich bin kein sonderlich anspruchsvoller Mensch. Aber ich sehe mit Sorge, dass mein Amt für bestimmte Gruppen junger Menschen nicht leistbar ist. Wer eine Ausbildung macht, kann nebenher keinen Verband mit 80.000 Mitgliedern leiten.
Blüht Ihnen eigentlich auch die typische Funktionärskarriere? Schröder und Nahles waren früher Juso-Vorsitzende.
Diese Beispiele stecken tief in den Köpfen drin, weil sie jeder kennt. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg gab es gut zwei Dutzend Juso-Vorsitzende, und viele sind nicht mehr im Politikbetrieb. Von links unten nach rechts oben, das ist mir zu einfach. Fragen Sie mich in ein paar Jahren nochmal.
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