Identität und Demokratie: Erst Teilnahme ermöglicht Teilhabe
Verantwortungsvolle Politik muss immer auch eines im Blick haben: Dass das Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit befriedigt wird.
W er in einer Gesellschaft die Identitätsfrage stellt, fragt nach dem Zusammenhalt. Und umgekehrt: Wo das Gefühl vorherrscht, Bindungen schwinden, werden Identitätsfragen virulent. Wir erleben das in allen westlichen Demokratien. Wir spüren, dass unsere Gesellschaften unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher werden. Soziologen beschreiben eine Zersplitterung in vorwiegend kulturell bestimmte, kaum noch kompatible Lebenswelten: zwischen den mobilen „Anywheres“, deren Identität auf individuellen Bildungs- und Berufserfolgen basiere, und den sicherheitsorientierten „Somewheres“ mit ihrer stärkeren Orts- und Gruppenzugehörigkeit. Die Kluft dazwischen scheint tief – und führt zu gegenseitiger Verachtung, wenn der Überlegenheitsanspruch der einen auf das Gefühl der anderen trifft, gesellschaftlich ignoriert zu werden.
In Deutschland fällt eine Besonderheit auf: ein spezifisch ostdeutsches Identitätsgefühl. Laut einer Studie identifizieren sich viele Ostdeutsche nach wie vor mit ihrem früheren Staatsgebiet. Eine Mehrheit von ihnen sieht sich, anders als Westdeutsche, die sich in erster Linie als Deutsche verstehen, vorrangig als Ostdeutsche – ein bemerkenswerter Befund 30 Jahre nach der staatlichen Einheit.
Als zu groß empfundene Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen, ein Mangel an Anerkennung von Lebensleistungen, selbst erfahrene und in der Familie tradierte Kränkungen im Transformationsprozess, wie sie sich in der Verteufelung der Treuhand manifestieren, schließlich die demografischen Folgen der Abwanderung: das alles bildet ein Gemisch für eine Identität, die die Spaltung in Ost und West eher zementiert als sie zu überwinden hilft. Mancher pflegt geradezu den eigenen Opferstatus, statt selbstbewusst darauf zu verweisen, den Menschen im Westen eine wertvolle Erfahrung vorauszuhaben: die Anpassung an massive gesellschaftliche Umwälzungen. Es würde nachhaltig zur inneren Einheit beitragen, angesichts der Zumutungen von Globalisierung und Digitalisierung, die vor den westlichen Gesellschaften nicht haltmachen, diesen Erfahrungsvorsprung gesamtgesellschaftlich zu erkennen und gemeinsam zu nutzen.
Identität schärft sich durch die Begegnung mit einem Gegenüber. Gruppenidentitäten ist stets die Ambivalenz eigen, Zusammengehörigkeit nach innen durch Abgrenzung nach außen zu schaffen. Das eine geht nicht ohne das andere. Davon erzählt die gewalttätige Geschichte der Nationen als eine der wirkmächtigsten Fiktionen von Zugehörigkeit. Die Frage, wer dazugehört, berührt das sensible Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten. Es braucht deshalb den verantwortungsbewussten Umgang damit. Geht die Balance verloren, sind die Folgen verheerend, nach innen wie nach außen. Gerade wir Deutschen sollten das wissen.
war bis 2000 Bundesvorsitzender der CDU und ist seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestages.
Von dem britischen Philosophen Kwame Anthony Appiah stammt das schöne Bild, dass das Nationalgefühl kein Mineral sein muss, das man ausgräbt, sondern ein Stoff, den es zu weben gilt. Nationale Identität setze nicht voraus, dass wir alle bereits dieselben wären, von einem einheitsstiftenden „Volksgeist“ beseelt. Es braucht aber eine gemeinsame Erzählung, eine Aufgabe. Gerade in einem Land, das von Zuwanderung geprägt ist, braucht es Identifikationsangebote auch für diejenigen, die nicht selten aus Gemeinschaften mit starker eigener Identität zu uns kommen. Unser Ziel muss deshalb sein, eine Basis des Zusammenlebens zu finden, auf der niemand seine eigene Identität, seine kulturellen Wurzeln aufgeben muss, wir andererseits aber offen genug sind, um uns als Teil eines Gemeinwesens zu fühlen.
Erst Teilnahme ermöglicht schließlich Teilhabe: Jede demokratisch verfasste Gemeinschaft braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihr identifizieren, sich ihr zugehörig fühlen. Nur so vertrauen sie sich in Freiheit und in den rechtsstaatlichen Grenzen dem Mehrheitsentscheid an. Allein durch den Bezug auf politische Institutionen kann das nicht erreicht werden. Der „Verfassungspatriotismus“ kann nicht erklären, warum wir beim Länderspiel Deutschland gegen Frankreich unsere eigene Mannschaft anfeuern, obwohl beide Seiten ähnliche politische Werte vertreten. Wenn wir uns einem Gemeinwesen zugehörig fühlen, muss es etwas geben, was uns auf einer tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet: gemeinsame Erfahrungen, Mythen, auch Bedrohungen und Herausforderungen.
Was eine plural verfasste Gesellschaft zusammenhält, in der Vielfalt ein Gefühl des Miteinander entstehen lässt, hat mit Bindekräften wie Toleranz, Respekt, Vertrauen und Empathie zu tun. Und damit, Konflikte auszuhalten. Stattdessen erleben wir, dass sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum auflöst und die Debatten zunehmend unversöhnlich geführt werden. Zumal es oftmals nicht mehr darauf ankommt, was gesagt wird, sondern nur noch darauf, wer es sagt, wie Mariam Lau in der Zeit konstatiert. Nur wer selbst Teil der Gruppe ist, sei legitimiert, über sie nachzudenken, zu forschen, zu sprechen; also nur Schwarze über Sklaverei, Frauen über Sexismus – oder eben Ostdeutsche über die DDR.
Der US-Politikwissenschaftler Mark Lilla konstatiert, in Umkehrung des alten Slogans „Das Private ist politisch“ werde das Politische heute zum bloßen Teil privater Identität. Mit der Folge, dass die Bereitschaft sinke, sich mit Themen zu beschäftigen, die nicht die eigenen Interessen und die eigene Identität berühren. Auch Francis Fukuyama warnt vor den Folgen davon, die politische Debatte quer zu den überkommenen ideologischen Gräben identitätspolitisch aufzuladen. Kleinteilige Identitätsgruppen zielten nicht mehr wie die wirkmächtigen großen sozialen Bewegungen primär auf Chancengerechtigkeit oder rechtliche und ökonomische Gleichheit. Ihnen gehe es vor allem darum, einer breiten Vielfalt benachteiligter Minderheiten gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Für sie seitens der Mehrheit nicht nur Respekt einzufordern, sondern Zustimmung zu erwarten.
Etwas teilen, was nicht mit unserer Identität zu tun hat
Der Aufmerksamkeitshaushalt einer Gesellschaft ist jedoch begrenzt, der Terraingewinn des einen bedeutet das Zurückdrängen des anderen und produziert neue Kränkungen – mit der Folge einer fast grotesken Umkehrung: Mehrheiten glauben sich durch lautstarke Minderheiten bedroht. Auch solche Opfergefühle sind instrumentalisierbar, wie wir erleben. Selbst wenn immer wieder darauf verwiesen wird, linke Identitätspolitik gelte der Minderheit, rechte dagegen der Sicherung von Mehrheitsansprüchen: Indem es vor allem darum geht, Menschen über erlittene Kränkungen zu mobilisieren, verschwimmen die Unterschiede. Dem politischen Diskurs, der gesellschaftlichen Debattenfähigkeit und letztlich der demokratischen Meinungsbildung leistet diese Form der Identitätspolitik einen Bärendienst; durch ein gesellschaftliches Klima, in dem es nicht mehr um den Wettstreit sachlicher Argumente geht, sondern nur noch darum, mit größtem moralischen Rigorismus recht zu haben.
Anstelle immer kleinteiligerer Gruppenidentitäten brauche es nach Mark Lilla die Rückbesinnung auf „etwas, was wir alle teilen, was aber nichts mit unseren Identitäten zu tun hat“. Für Lilla ist das die staatsbürgerschaftliche Gleichheit. Also doch Verfassungspatriotismus? Es bleibt wohl komplizierter, denn am Ende hat alle Politik eine identitätspolitische Dimension. Wir sollten jedenfalls nicht dem Trugschluss erliegen, allein mit den Mitteln sozialer Verteilungsgerechtigkeit alle Probleme lösen zu können. Wohlstand und Armut sind relative Begriffe, so wie das Glück. Inmitten unseres Wohlstands wächst Verunsicherung. Verantwortungsvolle Politik muss deshalb immer auch im Blick haben, dass man sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, Halt hat. Kurz: dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigt wird.
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Teilhabe daran, die Herausforderungen zu bewältigen, werden wir weiterhin nur in kleineren Einheiten schaffen. Für Francis Fukuyama, der das politische Potenzial von Gefühlen betont, gewinnt deshalb die Nation neu an Gewicht: Größere und einheitlichere nationale Identitäten, die gleichzeitig „die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen“. Und die sich als fähig erweisen, bei der Bewältigung der globalen Aufgaben miteinander statt gegeneinander zu agieren.
Deshalb wird auch, wer die europäische Einigung gegen das Bedürfnis der Menschen nach nationaler Identität auszuspielen versucht, Europa nicht stärken, sondern im Ergebnis schwächen. Identitäten lassen sich aber verändern, sie sind formbar. Wir können daran arbeiten, dass sich eine europäische Identität herausbildet. Eine „Bekenntnisidentität“, die den unterschiedlichen nationalen Erfahrungen, dem Eigenen, den Traditionen und kulturellen Prägungen der Vergangenheit gerecht wird, weil sie Teil unserer bindunggebenden Identität sind. Die aber den Blick vor allem auf die Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft lenkt. Und diese Zukunft kann in der globalisierten Welt nur europäisch sein. Die immensen Herausforderungen – Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Migration, Digitalisierung, ökonomische Stabilität – werden helfen, Europa als dieses identitätsstiftende Gemeinschaftsprojekt sichtbar und begreifbar zu machen. Über Aufgaben gewinnen wir die Zukunft – und in ihr wird sich die europäische „Schicksalsgemeinschaft“ herausbilden.
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