Vor den Wahlen im Osten: Der lange Kalte Krieg
„Ossis“ und „Wessis“ sind zu einem Großteil soziale Imaginationen. Existierende Uneindeutigkeiten werden so in der Debatte überdeckt.
M an wird sie irgendwie nicht los: die Debatte über den Osten. Nach zwischenzeitlichem Abflauen hat sie angesichts der anstehenden Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen wieder Hochkonjunktur. Jüngst attestierte Gunnar Hinck ihr an dieser Stelle den Charakter eines „geschlossenen Kreislaufs“, der immer weiterlaufe, um seine Existenz zu rechtfertigen, weil schlicht zu viele von der Ost-West-Dichotomie profitieren.
Schaut man hinter die Dichotomie, geht es oft um Relevantes: Chancenungleichheit, Einkommensunterschiede, Fragen nach Ursachen von und den Umgang mit Rechtsradikalität oder die möglicherweise erodierende Akzeptanz der Demokratie. All das gerät jedoch schnell aus dem Blick, wenn es mal wieder um „Ossis“ und „Wessis“ und die Frage geht, ob und wie sie sich voneinander unterscheiden und wer woran gerade schuld sei.
Soziologisch betrachtet werden „Ossis“ und „Wessis“ dabei nach wie vor als etwas behandelt, was Benedict Anderson als Imagined Communities bezeichnete. Mit diesem Konzept wies Anderson darauf hin, dass jede Rede von einem Kollektiv als Akteur („die Deutschen“; „wir Franzosen“) zu einem Gutteil eine soziale Imagination darstellt. Die Idee von den Ostdeutschen als einem „Volk“, wie sie jüngst Jana Hensel vorgebracht hat, rekurriere daher nicht einfach auf eine natürlich vorhandene Formation, sondern produziere und reproduziere die Vorstellung davon permanent neu und lasse sie zu einer Realität werden, so Anderson. Faktisch existierende Uneindeutigkeiten – historische wie aktuelle – werden überdeckt.
Derart simplifizierend wird nicht mehr nur unter denjenigen diskutiert, die den Großteil ihres Lebens im geteilten Deutschland verbracht haben. Was sich in familienbiografischen Forschungen schon vor Jahren andeutete, ist offenbar eingetreten: Die Ost/West-Unterscheidung hat den Sprung in die Generation jener geschafft, die zur Wende jugendlich oder jünger waren. Diese jungen Ostdeutschen verhandeln dabei eigene Anliegen, machen sich aber darüber hinaus auch zum Anwalt ihrer (Groß-)Eltern und deren Schicksal. Was dabei herauskommt, ähnelt oft der Identitätspolitik, wie sie auch anderswo betrieben wird.
Das erste gravierende Problem: Beobachtbare Unterschiede werden hoffnungslos vereinfacht. Natürlich gibt es Unterschiede, etwa was die Verteilung von Besitz oder gesellschaftlichen Positionen angeht. Natürlich wurde die kulturelle Wirkung dieser vierzig Jahre unterschätzt. Solche Unterschiede werden nun aber zu Identitäten aufgeblasen – auf beiden Seiten. Für die einen ist „der Osten“ schlichtweg rechts und demokratieunfähig, die anderen behaupten seine systematische Marginalisierung und fordern eine Ostquote.
Uta Karstein
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften der Uni Leipzig, sie forscht zu Religions- und Kultursoziologie sowie zu Differenzierungstheorie und Konfliktsoziologie.
Thomas Schmidt-Lux
ist ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Uni Leipzig, er forscht zur Soziologie der Selbstjustiz und Gewalt sowie zu Rechts- und Religionssoziologie.
Welchen Unterschied würde es aber tatsächlich machen, wenn 20 Prozent in den Chefetagen aus dem Osten kämen? Ergäbe das per se bessere Unternehmen, Universitäten, Krankenhäuser oder Landesregierungen? Und bis wann müsste jemand im Osten gelebt haben, um die Herkunft geltend machen zu können? Erlischt die Ostherkunft nach Studium und Promotion in Frankfurt am Main?
Die Komplexität realer Konflikte wird so systematisch verdeckt: etwa die Debatte innerhalb der alten Bundesrepublik, die sich um die Bewertung von 1968 und damit verbundene Fragen von gesellschaftlichem Wandel und weltpolitischer Positionierung Deutschlands drehten. Eine vordergründige Affirmation der Wiedervereinigung gründete bei vielen Akteuren, etwa der westdeutschen CDU, primär auf einem symbolischen Interesse am Osten. Zugleich richtete es sich gegen die Gesamtdeutschland eher skeptisch sehenden 68er und die Lafontaine-SPD. Und tatsächlich folgte ja auch keine Politik, die auf strukturelle Angleichung oder gar Umverteilung ausgerichtet gewesen wäre.
Verdeckt werden so auch unterschiedliche Sichtweisen innerhalb des Ostens. Und schließlich verdeckt das Ost/West-Gerede innerdeutsche und andere MigrantInnen und neue soziale Gruppen, die mit ganz eigenen, vermutlich wichtigeren Problemen befasst sind. All dies ergibt ein dramatisch komplizierteres Bild des aktuellen Deutschlands.
Naiver Glaube an die Statistik
Dass man sich dieser Komplexität nur selten stellt, hat auch mit dem naiven Glauben an die Aussagekraft statistischer Umfragen zu tun. Fast wöchentlich werden komplexe Sachverhalte gleich vorweg in vereinfachende Ost/West-Differenzen überführt oder eine einzige Frage als Indiz für weitreichende Differenzen gewertet. So hieß es kürzlich in der Welt: „Ostdeutsche – unwillig, den Pluralismus zu ertragen“. Alleiniger Beleg hierfür war eine Allensbach-Umfrage, bei der die ostdeutsche Zustimmungsrate zur Demokratie nur bei 40 Prozent lag. Unerwähnt blieb der Vergleichswert im Westen, die Gründe für die Unzufriedenheit und auch, was zahllose andere Untersuchungen zeigten: dass sich solch niedrige Zustimmungsraten eben nicht gegen die Demokratie als Staatsform generell richten, sondern als Unzufriedenheit mit den konkreten politischen Verhältnissen gelesen werden müssen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Uns ist nicht daran gelegen, das Nachdenken und Reden über die DDR, die BRD und das neue Deutschland einzustellen. Natürlich spielt Geschichte eine Rolle für die Gegenwart, natürlich wird das auch zwischen Ost- und Westdeutschland sichtbar.
Aber man wird dies auch sehen können, ohne dabei an Unterscheidungen aus dem Kalten Krieg anknüpfen zu müssen. Unbedingt braucht es neue Aufmerksamkeit für Differenzen jenseits von Ost und West: für neue Koalitionen entlang von Ähnlichkeit in Alter, sozialer Klasse, politischen Haltungen, (neuer) regionaler Zugehörigkeit. Sonst werden die wirklich relevanten Probleme nicht angemessen diskutiert und bleiben damit ungelöst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“