Historiker über Wege zum Frieden: „Wann ist Krieg reif für Frieden?“
An vielen Orten auf der Welt herrscht Krieg. Wie kann hier nachhaltiger Frieden geschlossen werden? Ein Gespräch mit dem Historiker Jörn Leonhard.
wochentaz: Herr Leonhard, kann man aus der Geschichte lernen, wie man Kriege beendet?
Jörn Leonhard: Die Geschichte liefert keine Blaupause für die Gegenwart. Man kann Entscheidungen, die man jetzt treffen muss, nicht an sie delegieren. Sie hilft aber, genau hinzuschauen: Mit welchen Konstellationen muss man am Ausgang eines Krieges rechnen? Welche Hürden gibt es, welche Handlungsmöglichkeiten? Man sieht in der Gegenwart mehr, wenn man diese Spannbreite von Möglichkeiten kennt.
Der Historiker
Jörn Leonhard, Jahrgang 1967, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Er beschäftigt sich unter anderem mit Imperien und der Geschichte von Krieg und Frieden. Für seine Arbeit wurde ihm gerade der wichtigste deutsche Forschungsförderpreis, der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, zuerkannt.
Das Buch
Im Oktober erschien von Leonhard das Buch „Über Kriege und wie man sie beendet“ (C.H. Beck).
Zurzeit beschäftigen uns zwei Kriege besonders, die sehr unterschiedlich sind: im Nahen Osten und in der Ukraine. Wie würden Sie diese charakterisieren?
In der Ukraine haben wir es – wie bei den meisten Kriegen – mit einem Hybrid aus verschiedenen Kriegsarten zu tun. Es ist aus russischer Sicht ein Krieg, der sehr viel mit imperialen Geschichtsbildern zu tun hat. Aus Putins Sicht ist es aber auch ein Krieg um eine Werteordnung. In praktisch jeder Rede greift er die angebliche moralische Dekadenz des Westens an. Aus Sicht der Ukraine ist es dagegen ein Abwehrkrieg zur Verteidigung des souveränen Territoriums und ein Krieg um die eigene Nationsbildung. Es geht in diesem Krieg aber auch um die Chancen einer regelbasierten internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert. Denn wenn Russland Erfolg hat, wird das andere ermutigen, ähnlich vorzugehen.
Und im Nahen Osten?
Dieser Krieg hat eine längere Vorgeschichte. Ein wesentlicher Unterschied zur Ukraine besteht darin, dass es im Nahen Osten etablierte Vermittler gibt, mit den USA gegenüber Israel, mit Saudi-Arabien, Katar, vielleicht auch Ägypten gegenüber den Palästinensern. Der Krieg in Gaza ist sehr viel kleinräumiger. Auch die Verbindung von Krieg und Terror hat hier eine neue Qualität, denn die Hamas ist kein Staat, sondern eine Terrororganisation. Sie besitzt kein politisches Mandat, das Israel für ernsthafte Verhandlungen akzeptieren könnte. Hier zeigt sich exemplarisch, dass der Charakter des Krieges bestimmt, welche politischen Akteure Frieden schaffen könnten.
In Ihrem Buch über das Ende von Kriegen unterscheiden Sie vier Szenarien. Können Sie diese kurz skizzieren?
Das erste Szenario, mit dem zu Beginn oft kalkuliert wird, ist der schnelle Sieg durch eine Entscheidungsschlacht. Militärs geben vor, dass sie mit ausgefeilten Plänen und Waffentechnologien eine schnelle Entscheidung erzwingen könnten. Der Erste Weltkrieg begann mit der Erwartung, dass die Soldaten in drei Monaten wieder zu Hause seien. Ebenso der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Und auch bei dem großflächigen Angriff Russlands auf die Ukraine waren sich viele Experten sicher, dass die Ukraine keine 72 Stunden überleben könne. Schnelle Entscheidungen sind aber eher die Ausnahme, und im 20. Jahrhundert entwickelten sich die meisten größeren Konflikte zu langen Kriegen. Deshalb ist der Blick auf die anderen Szenarien aufschlussreicher.
Wie sehen die aus?
Das zweite Szenario ist das militärische Patt. Allerdings wird auch das oft von der Hoffnung geprägt, doch noch eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld erzwingen zu können. Wo das nicht geschieht, entsteht aus dem Patt häufig ein langwieriger Abnutzungskrieg. In ihm spielen Ressourcen eine zentrale Rolle – dabei geht es nicht allein um die Zahl von Granaten oder Panzern, sondern auch um Finanzmittel und die Deutungshoheit über Bilder und Nachrichten. All das, was wir im Ukrainekrieg im Augenblick erleben. Die westliche Meinungsbildung und die US-Präsidentschaftswahlen werden zu Kriegsressourcen, genauso wie während des Vietnamkriegs die Nordvietnamesen genau auf die Friedensbewegung in den USA achteten.
Gibt es einen Ausweg aus dem Abnutzungskrieg, außer bis zur totalen Erschöpfung weiterzukämpfen?
Das wäre mein drittes Szenario. Wenn bei den Akteuren die Einsicht wächst, dass der Krieg nicht militärisch entschieden werden kann und sie von einer Fortsetzung der Kämpfe weniger zu erwarten haben als von einem politischen Ausweg, kann der Moment für eine Vermittlung gekommen sein. Dann kann ein glaubwürdiger Vermittler einen Ausweg in kleinen Schritten skizzieren – sei es über eine Waffenpause, einen Waffenstillstand, eine international abgesicherte Sicherheitszone. Das vierte Szenario verweist auf das Ende von Kriegen, das nach 1945 immer häufiger eintrat: Der Krieg endet nicht mit einem klassischen Friedensvertrag, sondern als verlängerter Waffenstillstand, der den Konflikt einfriert, aber Spielräume für Eskalationen auf niedrigerem Gewaltniveau erlaubt.
Haben Sie ein Beispiel?
Der Koreakrieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, der seitdem über 100.000 Mal verletzt wurde – wenn man alle Grenzzwischenfälle zusammenzählt. Das könnte für die Ukraine leider auch ein realistisches Szenario sein. Damit endet zwar zunächst die große militärische Eskalation, aber es entwickelt sich eine blutende Grenze, an der es immer wieder zu lokalen Konflikten kommt. Ein solcher Waffenstillstand kann immer auch von einer Seite als taktische Pause genutzt werden, um aufzurüsten und bei nächster Gelegenheit wieder zuzuschlagen.
Sehen Sie in der Ukraine im Moment einen Abnutzungskrieg?
Ein Abnutzungskrieg würde voraussetzen, dass die Ukraine vom Westen weiterhin stark unterstützt wird, weil sie sonst ihre Verteidigungsfähigkeit verliert und den russischen Angreifern nichts entgegenzusetzen hätte. Im Moment setzt Putin auf die Ressource Zeit, die für ihn arbeitet. Dass in den USA die Republikaner unter Trumps Einfluss von der Ukrainehilfe abrücken, ist ein verheerendes Zeichen. In Europa sehen wir in Ungarn, der Slowakei und in den Niederlanden mit dem Wahlerfolg von Geert Wilders Risse in der Unterstützung für Kyjiw. Und es fehlt in Paris und Berlin eine strategische Antwort auf einen möglichen Wechsel im Weißen Haus.
Besitzen Autokratien in Kriegen Vorteile gegenüber Demokratien, weil sie zum Beispiel einfacher auf eine Kriegswirtschaft umstellen können und es keine Öffentlichkeit gibt, die Entscheidungen kritisch hinterfragt?
Sie nutzen jedenfalls zunächst taktische Vorteile aus, aber langfristig können sie auf Glaubwürdigkeitskrisen zusteuern. Demokratien sind in der Regel besser gewappnet, um Kriegslasten langfristig zu verteilen, sie agieren auch in Krisen transparenter in der Kommunikation. Im Ersten Weltkrieg gingen die Regierungen in Paris und London früh auf die Gewerkschaften zu, um die Arbeiter zu integrieren. Angesichts der autokratischen Militärmonarchie wurde in Deutschland im Verlauf des Krieges die fehlende Parlamentarisierung des Regimes immer schärfer kritisiert. Ab 1917 erodierte bei den Mittelmächten das Vertrauen in die politischen Führungen. In langen und verlustreichen Kriegen können sich plötzlich Kipppunkte für die Glaubwürdigkeit eines politischen Systems entwickeln – und es ist kein Zufall, dass sich 1917/18 in den Autokratien Russland und Deutschland Revolutionen entwickelten, während die Demokratien überlebten.
„Ein erstes Zeichen zur Friedensbereitschaft auszusenden, erweist sich oft als besonders schwierig“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Weshalb ist das so?
Eine der schwierigsten Fragen lautet: Wann ist ein Krieg wirklich reif für den Frieden? Für diesen Moment müssten alle am Konflikt beteiligten Akteure von einer politischen Lösung mehr erwarten als von der Fortsetzung der Kämpfe. Signalisiert nur eine Partei Konzessionsbereitschaft, kann das zur Eskalation der Gewalt führen. Denn die andere Seite schließt von solchen Zeichen auf Erschöpfung und wird ihre militärischen Anstrengungen steigern, um die eigenen Ziele doch noch zu erreichen. Gerade die Endphase von Kriegen war häufig besonders blutig. Für die Ukraine bin ich skeptisch, ob bereits der Moment für glaubwürdige Verhandlungen gekommen ist.
Sie warnen in Ihrem Buch auch vor der Gefahr eines faulen Friedens.
Ein sehr häufiges Phänomen in der Geschichte. Das bekannteste Beispiel im 20. Jahrhundert waren die Konzessionen der westlichen Alliierten gegenüber dem Aggressionskurs Hitlers nach 1936. Als Großbritannien und Frankreich im Münchner Abkommen von 1938 die Tschechoslowakei preisgaben, glaubte der britische Premier Neville Chamberlain daran, er habe den Frieden in Europa bewahrt. Faktisch aber verstärkte diese Politik bei Hitler die Überzeugung, dass die Demokratien auch die Übertretung weiterer roter Linien akzeptieren würden.
Im Blick zurück kann man den faulen Frieden erkennen, aber wie ist das in der Gegenwart, wenn man noch nicht weiß, wie es ausgeht? Auf was müsste man da achten, um zu erkennen, dass ein angebotener Ausweg aus dem Krieg nicht ernst gemeint ist?
Das Sondieren möglicher Konzessionen ist nicht per se etwas Falsches. Es ist wichtig, um keine einzige Chance eines Auswegs zu verpassen, um Handlungsoptionen auszutesten, um die Kommunikationskanäle offen zu halten. Aber die Diplomatie muss eine Antwort darauf haben, wie man mit einem Aggressor umgeht, der sich auf die angedeuteten Zugeständnisse nicht glaubwürdig einlässt. Etwa wenn er sich gegen internationale Sicherheitsgarantien oder ein starkes Mandat für einen Vermittler wehrt. Putin will territoriale Zugeständnisse und einen demilitarisierten und neutralen Status der Ukraine, die dann in einer neuen Krise in einer sehr schwachen Position wäre.
Was viele historische Beispiele auch zeigen: Der Weg zum Frieden ist oft sehr langwierig.
Frieden ist kein Moment, sondern ein langer, oft widersprüchlicher Prozess. Der erste Schritt ist häufig eine Waffenpause, in der sich testen lässt, ob Kommunikation und ein Minimum an Vertrauen funktionieren. Der zweite Schritt kann dann ein stärker formalisierter Waffenstillstand sein. Auf der Basis einer so stabilisierten Situation wäre der nächste Schritt der Versuch einer politischen Lösung. Waffenpausen werden häufig von militärischen Kommandeuren ausgehandelt. Bei einem Waffenstillstand und anschließenden Friedensverhandlungen kommt die Politik ins Spiel. Als Historiker interessiert mich besonders die langfristige Gestaltung des Friedens, wenn die Tinte unter den Dokumenten trocken ist. Anders als in früheren Phasen der Geschichte gehört für uns zum Frieden ja nicht allein die Vorstellung der Abwesenheit kriegerischer Gewalt. Wir verbinden damit Gerechtigkeit, etwa die Verfolgung von Kriegsverbrechern und die Anerkennung von Opfern, egal wie lange das dauert. Zu einem gelingenden Frieden, der den Krieg und die Feindbilder in den Köpfen der Menschen beendet, gehört eine Perspektive für Gesellschaften, also ökonomische Sicherheit, politische Partizipation, Vertrauen in eine bessere Zukunft. Ohne den amerikanischen Marshallplan wäre der europäische Nachkrieg nach 1945 anders verlaufen.
Im Ersten Weltkrieg gab es Weihnachten 1914 an manchen Stellen der Front eine spontane Waffenruhe. Deutsche und britische Soldaten kamen aus ihren Gräben und begegneten sich im Niemandsland.
Das ist eine im Dezember häufig erzählte Episode – und es ist völlig nachvollziehbar, dass Menschen nach diesen Erzählungen hungern, auf die ich als Historiker eher nüchtern blicke. Das Phänomen kennen wir aus vielen Stellungskriegen: Soldaten in den Gräben sprechen sich spontan ab, vereinbaren Gefechtspausen, auch um im Niemandsland zwischen den Fronten Tote und Verletzte zu bergen. Dort trifft man sich, tauscht Lebensmittel und Zigaretten aus. Das passierte auch an Teilen der Westfront. Als die Kommandeure davon erfuhren, fürchtete man um die Disziplin, und Truppen der betroffenen Frontabschnitte wurden ausgewechselt. Diese Begegnungen zu Weihnachten 1914 blieben jedenfalls sehr lokale Ereignisse. Sie sind leider keine Antwort auf die Frage, wie man aus einem Krieg herauskommt und dauerhaft Frieden schließt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku