Historiker Snyder über Ukraine-Krieg: „Russland ist am Limit, wir nicht“
Die Lage der Ukraine ist schwierig, aber das Land könne gewinnen, sagt der Historiker Timothy Snyder. Das hänge von der Unterstützung des Westens ab.
Timothy Snyder zählt zu den wichtigsten US-Intellektuellen. Der britische Guardian nannte ihn kürzlich „den führenden Interpreten unserer dunklen Zeiten“. Auf Einladung der American Academy ist er für zwei Tage in Berlin. Am Vorabend hat er eine Vorlesung über ukrainische Geschichte als Teil der Weltgeschichte gehalten, jetzt sitzt er an einem langen Holztisch in der Bibliothek der American Academy. Der Blick geht durch die Fenster auf den Wannsee.
wochentaz: Herr Snyder, die Situation in der Ukraine ist düster. Die militärische Lage ist extrem schwierig, viele Menschen sind vom Kriegsalltag zermürbt. Sind Sie noch zuversichtlich, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann?
Jahrgang 1969, ist Professor für Geschichte an der Yale University, USA. Zu seinen Schwerpunkten gehören Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung. Die erste Folge seiner Yale-Vorlesung über die Geschichte der Ukraine hat auf Youtube über 1,5 Millionen Aufrufe.
Timothy Snyder: Ganz sicher kann die Ukraine gewinnen. Das Problem sind nicht die Ukrainer, das Problem sind wir – Europa und Nordamerika. Wir verfügen zweifellos über die wirtschaftliche und industrielle Basis, um diesen Krieg zu entscheiden. Wir ziehen es aber vor, sie nur sehr langsam oder gar nicht einzusetzen. Darum muss die Ukraine jetzt ihre Munition stark rationieren. Und was die Stimmung betrifft: Auch da sind wir das größere Problem.
Wie meinen Sie das?
Ich denke da vor allem an uns Amerikaner. Wir reden uns ein, dass dieser Krieg ewig weitergehen wird. Und Russland ihn auf jeden Fall gewinnen wird. Die Russen sind sich sehr bewusst, dass Washington psychologisch verwundbarer ist als Kyjiw, und sie versuchen, diese Schwachstelle zu bearbeiten. Insofern: Ja, die Stimmung in der Ukraine ist zurzeit düster, aber aus objektiven Gründen. Diese können geändert werden – durch die Lieferung von mehr Waffen und anderer Unterstützung.
Die ukrainische Gegenoffensive hat nicht die Erfolge gebracht, die viele sich erhofften. Der Streit zwischen Präsident Selenskyj und Oberbefehlshaber Saluschnyi endete mit dessen Absetzung. Die Ukraine hat zu wenige neue Soldaten.
Es gibt aber eine Geschichte, über die westliche Medien nur wenig berichten – dass es der Ukraine gelungen ist, die russische Marine aus dem westlichen Teil des Schwarzen Meers zu vertreiben. Das hatte wirklich niemand erwartet. Damit hatte der Westen nicht so viel zu tun. Da wir es nicht für uns in Anspruch nehmen können, reden wir aber auch nicht so viel darüber.
Wir übersehen die Erfolge?
Es ist jedenfalls militärisch ein großer Erfolg. Wenn Russland das Schwarze Meer noch kontrollieren würde, würden wir nun große Geschichten darüber lesen, wie es Länder im Nahen Osten und in Afrika mit Hunger erpresst. Aber weil Russland das Schwarze Meer nicht kontrolliert, halten wir es plötzlich für selbstverständlich, dass die Ukraine ihr Getreide exportieren kann. Getreide, von dem hunderte Millionen Menschen abhängig sind.
Sie haben viele Kontakte in der Ukraine, sind oft dort. Was ist zurzeit die größte Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft?
Die Trennungen der Familien, würde ich sagen. Viele Frauen und Kinder sind in EU-Länder geflüchtet, während die Männer meist geblieben sind. Und Mobilisierung ist so ein abstraktes Wort. Ich kenne mehrere Männer, die jetzt an die Front gehen. Für sie und ihre Familien ist das extrem schwierig, es macht ihnen Angst. Auch das Fehlen von genügend Flugabwehr und Artilleriemunition hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen, das ist keine militärische Abstraktion. Wenn die Ukrainer nicht genug Artillerie haben und die Russen einen Durchbruch erzielen, bedeutet das, dass mehr Ukrainer unter russischer Besatzung leben müssen. Das bedeutet mehr Morde, mehr Vergewaltigungen, mehr Entführungen von Kindern, mehr Folter. Für Ukrainer gibt es in diesem Krieg keinen Unterschied zwischen einer militärischen Lage und einer sozialen Erfahrung. Es läuft auf das Gleiche hinaus.
Was würde es bedeuten, wenn Russland den Krieg gewänne?
Das russische Kriegsziel ist die Zerstörung der ukrainischen Gesellschaft. Ein Sieg Russlands würde bedeuten, dass es eine europäische Nation weniger geben würde – und die anderen Europäer müssten damit leben. Alle, die glauben, dass die Demokratie scheitern muss, würden durch einen Sieg Russlands gestärkt. Wenn Chinesen oder Saudis diesen Krieg betrachten, gehen sie davon aus, dass es keinen Grund gibt, warum der Westen ihn verlieren sollte. Wenn der Westen der Ukraine nicht zum Sieg verhelfen kann, werden Diktatoren daraus schließen, dass die Demokratie schwach ist. Das wird Kriege künftig wahrscheinlicher machen.
Wladimir Putin hat Russland auf eine Kriegswirtschaft umgestellt und sich auf einen langen Abnutzungskrieg eingestellt. Sind Demokratien im Nachteil, weil sie ihre Wirtschaft nicht so leicht auf ein Ziel ausrichten können und die Politik immer die nächste Wahl im Blick hat?
Ich glaube nicht, dass Putins Zeithorizont so viel langfristiger ist. Er versucht im Moment bis zum Januar 2025 zu kommen und hofft, dass Donald Trump dann wieder ins Weiße Haus einzieht. Wir nehmen immer an: Wenn die Ukraine leidet, dann muss es Russland gut gehen. Das ist ein Trugschluss. Russland hat Probleme mit der Mobilisierung. Ein großer Teil des russischen Bruttoinlandsprodukts ist für den Krieg gebunden. Putin mobilisiert die Wirtschaft in einem Maße für den Krieg, die gefährlich für die russische Wirtschaft ist. Russland ist da am Limit, wir sind es nicht.
Wenn Sie sich den US-Wahlkampf anschauen, was erwarten Sie von diesem Jahr?
Es ist sehr schmerzhaft, das zu beobachten. Donald Trump droht offen mit dem Abriss der US-Demokratie. Er hat angekündigt, er werde am ersten Tag seiner Präsidentschaft das Aufstandsgesetz anwenden, um die Armee gegen seine Gegner einzusetzen. Ich denke aber, Biden wird gewinnen. Er ist der Amtsinhaber, der Wirtschaft geht es gut und Trumps juristische Probleme werden sich in den nächsten Monaten noch zuspitzen. Es herrscht aber gerade eine seltsame Stimmung: Viele Leute haben Biden gewählt, weil sie Normalität wollten. Jetzt, wo sie Normalität haben, sind sie davon ein wenig gelangweilt. Das macht Trump auf eine bizarre Weise attraktiv. Auch für die Medien. Die US-Presse ist gerade dabei, viele Fehler von 2016 zu wiederholen.
In Europa gibt es viele Diskussionen, ob man sich schon auf das Schlimmste vorbereiten sollte, auf Trumps Rückkehr.
Ich bin schon lange der Meinung, dass Europa in Sicherheitsfragen unabhängiger von den USA werden sollte. In diesem Jahr muss es das europäische Ziel sein, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. In den nächsten zwei, drei Jahren sollte es das Ziel sein, ihr zum Sieg zu verhelfen. Unabhängig davon, was die Amerikaner tun, denn wir Amerikaner sind zurzeit einfach unberechenbar. Wenn im November Trump gewinnen sollte, hätten die Europäer zumindest schon ein knappes Jahr Übung darin, Verantwortung für die Ukraine zu übernehmen.
Nach dem 24. Februar 2022 haben Sie Deutschland scharf dafür kritisiert, dass es so lang versucht hatte, eine besondere Beziehung zu Russland zu pflegen. Deutschland habe seine Vergangenheit mit Blick auf die Ukraine und den Zweiten Weltkrieg nicht richtig aufgearbeitet. Hat sich diesbezüglich etwas verändert?
Das Beste am öffentlichen Leben in Deutschland ist, dass es ernsthafte Debatten gibt und Menschen ihre Meinungen überprüfen und mitunter auch ändern. Ich habe den Eindruck, dass die Debatte in die richtige Richtung geht. Als ich 2017 eine Rede vor dem Bundestag gehalten habe, habe ich betont, dass Deutschland gerade wegen des Zweiten Weltkriegs eine besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine hat. Viele Deutsche haben vor dem 24. Februar 2022 kaum darüber nachgedacht. Das hat sich geändert.
Sie nennen Russland ein faschistisches Land. Andere Historiker widersprechen. Es gebe keine Massenbewegung, die frenetisch einen Führer trägt. Die meisten Russen würden sich einfach nur bedeckt halten.
Vor dem großen Angriffskrieg war ich mit der Formulierung noch vorsichtig. Ich habe von den Zügen einer faschistischen Ideologie gesprochen. Es gibt in der russischen Öffentlichkeit wichtige Stimmen, die eindeutig faschistisch sind. Putin selbst zitiert immer wieder Iwan Iljin, einen klassischen christlichen Faschisten. In der Tat fehlte das Moment der Massenmobilisierung. Wie sich das mit dem Krieg verändert hat, ist schwer zu sagen.
Dafür wissen wir zu wenig, was im Land vorgeht. Aber es gibt eigentlich nur eine Partei, einen Führerkult, ein Propagandamonopol und eine Tendenz, die Welt im Sinne einer Verschwörung zu interpretieren. Der Krieg selbst ist auch ein Indiz. Es geht darum, eine andere Gesellschaft zu zerstören. Putin will außerdem zeigen, dass das internationale Rechtssystem nur eine Farce ist und es letztlich nur um Macht geht.
Geschichte ist in diesem Krieg zu einem politischen Schlachtfeld geworden. Putin bezieht sich auf historische Ereignisse, um den Überfall zu legitimieren.
Was Putin betreibt, ist keine Geschichtsschreibung. Es ist Erinnerungspolitik. Putins Sicht lässt sich so zusammenfassen: Wir Russen waren schon immer hier. Wir sind unschuldig. Die Schuld liegt bei den Anderen. Deshalb gilt: Egal, was wir tun, ihr könnt uns nicht kritisieren. Wir allein können bestimmen, wo unsere Grenzen sind. Es ist bemerkenswert, wie die Ukrainer darauf reagiert haben. Sie haben nicht gesagt: Na ja, aber wir waren doch zuerst hier. Sie haben gesagt: Wir sind eine komplizierte Gesellschaft und kommen von überall her. Aber für uns geht es in diesem Krieg nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft, über die wir selber entscheiden wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?