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Grünes DesasterDer Fall Gelbhaar und die Partei

Die Grünen wollten vorbildlich mit sexualisierter Gewalt umgehen – doch gefälschte Vorwürfe überfordern ihre Ombudsstelle.

Stefan Gelbhaar bei der Sitzung des Pankower Kreisverbands am 8. Januar Foto: Joerg Carstensen/dpa/picture alliance

Berlin taz | Am Anfang stand ein Satz. „Der Bundesverband, die Landesverbände und die Grüne Jugend werden Ombudspersonen benennen, die Anlaufstellen für Parteimitglieder zum Thema sexualisierte Gewalt sind.“ Im November 2014 einigten sich die Grünen auf einem Parteitag auf dieses Vorhaben. Die Öffentlichkeit nahm nicht viel Notiz davon: Der Satz verbarg sich im vorletzten Absatz eines dreiseitigen Beschlusses, mit der die Grünen Konsequenzen aus ihren Pädophilie-Verstrickungen in den Achtzigerjahren zogen. Sie waren ein Jahr zuvor bekannt geworden, erschütterten die Partei und vermasselten ihr den Bundestagswahlkampf.

Zehn Jahre nach dem Beschluss ist wieder Wahlkampf. Wieder kommt den Grünen ein Skandal in die Quere. Und plötzlich stehen die Strukturen, mit der die Partei doch vorbildlich im Umgang mit sexualisierter Gewalt werden wollte, voll im Fokus.

Ab dem 11. Dezember erreichen 18 Beschwerden über den Berliner Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar die Ombudsstelle der Bundespartei. Am 13. Dezember gibt es ein Gespräch zwischen Gelbhaar, einer Mitarbeiterin der Ombudsstelle und Vorstandsmitglied Manuela Rottmann – als „Mitglied des Kriseninterventionsteams“, wie es aus der Parteizentrale heißt. Die Frauen teilen Gelbhaar mit, dass ein Verfahren gegen ihn läuft, und „beraten“ ihn zu „Risiken“. Oder, wie es bei Gelbhaar ankommt, der darüber in dieser Woche mit der Zeit redete: Sie drängen ihn dazu, auf dem Landesparteitag am Tag darauf nicht für die Liste zur Bundestagswahl zu kandidieren.

Der Rest ist bekannt: Gelbhaar zieht wirklich zurück und begründet dies knapp mit dem eingeleiteten Verfahren. Einen Tag vor Heiligabend beschließt der Kreisverband Pankow, im neuen Jahr auch über Gelbhaars Wahlkreiskandidatur erneut abzustimmen. An Silvester berichtet der RBB über Details der Vorwürfe, der Sender schildert vermeintliche Übergriffe mit strafrechtlicher Relevanz. Kreis-, Landes- und Bundesvorstand rufen den Abgeordneten öffentlich auf, auch auf die Direktkandidatur zu verzichten. Er tritt trotzdem an und verliert.

Sieben Weitere bleiben bei ihren Vorwürfen

Erst in der Woche darauf kommt die Wende: Durch Recherchen von Gelbhaars Anwälten und dem Tagesspiegel wird öffentlich, dass zentrale Vorwürfe mutmaßlich erfunden sind – unter falschem Namen erhoben von der grünen Bezirkspolitikerin Shirin Kreße. Das Motiv ist unklar, Strafanzeigen gegen sie sind gestellt.

Sieben weitere Personen, die sich bei der Ombudsstelle über Gelbhaar beschwert hatten, bleiben laut Parteichef Felix Banaszak weiter bei ihren Vorwürfen. Wie gut die Identitäten dieser Personen geprüft wurden, worum es in den Vorwürfen geht und ob sie durch Indizien oder Beweise gestützt sind, ist unklar.

Der Vorgang ist ein Desaster. Die Karriere eines Abgeordneten ist zerstört und sein Ruf beschädigt, das Misstrauen gegen tatsächliche Opfer von Belästigungen und Übergriffen wieder gestiegen. Und die Grünen-Spitze, die vor dem Parteitag am Sonntag eigentlich eigene Themen im Wahlkampf setzen wollte, wird von Jour­na­lis­t*in­nen zu kaum etwas anderem befragt als zum Fall Gelbhaar/Kreße.

Der Parteivorstand versucht, mit einer neuen Kommission aus dem Debakel herauszukommen. Geleitet werden soll sie von den erfahrenen Rechts­po­li­ti­ke­r*in­nen Anne Lütkes und Jerzy Montag. Sie dient als Bad Bank für unangenehme Fragen, stets wird nun auf die Kommission verwiesen. Das Gremium soll aufklären, was an den verbliebenen Vorwürfen gegen Gelbhaar dran ist und Vorschläge für eine Reform der internen Strukturen machen, die offensichtlich versagt haben.

Aufklärung sei nicht die Aufgabe der Ombudsstelle

Das grüne Desaster ist zwar nicht der Ombudsstelle allein anzulasten. Kurz bevor sie sich mit dem Fall befasste, hatte Shirin Kreße schon auf einer Konferenz des linken Parteiflügels einen ersten Vorwurf erhoben. Gut möglich, dass er ohnehin an die Medien gelangt wäre. So oder so hätten die politischen Verantwortlichen in Bezirk, Land und Bund dann vor der Frage gestanden: Setzen wir auf die Unschuldsvermutung? Oder nehmen wir Gelbhaar aus dem Rennen, damit niemand sagen kann, die Grünen ignorierten Hinweise auf sexualisierte Gewalt?

Aber es ist auch nicht erkennbar, dass die Ombudsstelle etwas dafür getan hätte, die Vorwürfe aufzuklären. Die Identitäten derjenigen, die Beschwerden eingereicht hatten, hat sie nicht geprüft. Offenbar ermöglichte sie Gelbhaar nicht mal, sich zu verteidigen: Seinen Angaben zufolge erhielt er keine Details zu den Vorwürfen. Erst als der RBB berichtete, hatte Gelbhaar Anhaltspunkte, die er widerlegen konnte.

Aufklärung sei auch gar nicht die Aufgabe der Ombudsstelle, heißt es jetzt vielfach aus der Partei. Sie sei keine Ermittlungsbehörde. Stellt sich die Frage: Was macht sie dann?

Mit solchen Fragen stößt man in diesen Tagen bei den Grünen auf Schweigen. Verantwortliche im Bund und in den Ländern wollen noch nicht mal darüber sprechen, wie die Strukturen grundsätzlich aussehen. Aus wie vielen Menschen besteht eine Ombudsstelle? Keine Antwort. Noch nicht mal eine vertrauliche Antwort? Nein.

Vertraulichkeit als Grundprinzip

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Nach taz-Informationen sind auf Bundesebene regulär drei Mitarbeitende der Parteizentrale als Ombudsleute eingesetzt. Auch in den Landesverbänden gibt es Zuständige. Es sind keine Vollzeitjobs, die Personen haben auch noch andere Aufgaben. Für die Ombudsverfahren wurden sie extern fortgebildet.

Bei der Einführung vor zehn Jahren war eine Überlegung der Grünen, dass es für Opfer von Belästigungen und Übergriffen Anlaufstellen jenseits der Justiz geben müsse. Die Hemmschwelle, Anzeige zu erstatten, ist schließlich hoch. Für Vorfälle, die nicht strafbar sind und in einer progressiven Partei trotzdem nicht erwünscht, sind Gerichte ohnehin nicht zuständig.

Es gibt ein öffentlich einsehbares Leitbild, das sich die Ombudsleute von Bund und Ländern zu Beginn selbst gegeben haben. „Wir bieten einen geschützten Raum“, heißt es in einem der wenigen Punkte. „Wir begleiten den Prozess, so lange es notwendig ist.“ Und: „Je nach Verdacht leiten wir geeignete Schritte ein.“ So etwas wie eine formale Verfahrensordnung, demokratisch beschlossen und transparent einsehbar, existiert aber zumindest auf Bundesebene nicht. Im Bundesvorstand gab es in den letzten Jahren zwar Überlegungen dazu, aber kein Ergebnis.

Für viele Fälle funktioniert die Ombudsstelle dem Vernehmen nach trotzdem gut. Normalerweise dringt aus ihren Verfahren nichts an die Öffentlichkeit. Vertraulichkeit ist ein Grundprinzip und wenn es gut läuft, wird noch nicht mal der Parteivorstand behelligt. Ein Beispiel für einen solchen Vorgang aus der Vergangenheit veröffentlichte Stefan Gelbhaar selbst zwischenzeitlich auf seiner Internetseite: Eine Person, mit der er auf Instagram gechattet hatte, beschwerte sich demnach schon 2021. Seine Nachrichten waren ihr offenbar zu persönlich geworden. Dem Abgeordneten zufolge wurde die Angelegenheit in Ombudsgesprächen geklärt, und er selbst kam zur Erkenntnis, dass er mehr auf „Kommunikation und Grenzen“ achten müsse.

„Im Zweifel für die Betroffenen“

Wenn Fälle aber komplizierter werden, wenn der Vorwurf massiver ist, wenn Aussage gegen Aussage steht und wenn dann auch noch die Zeit drängt: Dann fehlen den Grünen belastbare Strukturen.

Auf der Suche nach neuen Regeln, die jetzt läuft, geht der Blick auch nach Brüssel. Die Grünen im Europaparlament haben schon länger ein festes Regelwerk, 18 Seiten lang und von der Fraktion verabschiedet. Für verfahrene Fälle sieht es ein klar definiertes Untersuchungsverfahren vor. Die mutmaßlich betroffene Person muss den Prozess namentlich beantragen. Mit dem Fall werden dann externe Ex­per­t*in­nen beauftragt. Der Beschuldigte erfährt, was ihm genau vorgeworfen wird. Beide Seiten können Stellung nehmen, Zeu­g*in­nen benennen und Beweise vorlegen. Nach spätestens fünf Monaten liefern die Ex­per­t*in­nen einen Bericht ab, auf dessen Grundlage die Verantwortlichen über Konsequenzen entscheiden.

Das Verfahren ist gegen Missbrauch gewappnet. Wer einen Vorwurf unter falschem Namen erhebt, kommt damit nicht weit. Allerdings überarbeitet die Fraktion ihr Regelwerk derzeit und es ist gut möglich, dass sie Hürden senkt. Im vergangenen Jahr berichtete der Stern über Belästigungsvorwürfe gegen einen bayerischen Europa-Abgeordneten, die der Brüsseler Ombudsstelle bekannt gewesen seien, dort aber nicht zu Konsequenzen führten. Es folgte öffentliche Kritik an den Europa-Grünen, auch in der taz: Die Vorgaben würden es Betroffenen zu schwer machen, sich zu wehren.

Dem Stern zufolge landete der Fall des EU-Abgeordneten schließlich vor der Ombudsstelle der bayerischen Grünen. Drei Tage, bevor ein Parteitag die Liste für die nächste Europawahl aufstellte, seien dort Beschwerden eingegangen. Die Landesvorsitzenden hätten mit dem Mann gesprochen und ihm Druck gemacht. Seine Kandidatur auf dem Parteitag zog er zurück.

Was folgt aus einem Vorfall?

Als der Vorgang Monate später öffentlich wurde, erklärte der Abgeordnete, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen, begrüße aber die Aufklärung im bayerischen Ombudsverfahren. Das ist der letzte Stand.

Es gilt als feministische Partei, Betroffenen zu glauben

Jette Nietzard, Bundessprecherin der Grünen Jugend

Wie im EU-Parlament gibt es auch dort ein mehrseitiges Regelwerk für die Verfahren, beschlossen vom baye­rischen Landesvorstand. In zentralen Punkten ist es ein Gegenstück zu den Brüsseler Vorgaben. Von Untersuchungen ist keine Rede. Folgt man dem Papier, ist es auch gar nicht nötig, Vorwürfe zu prüfen: Betroffenen könnten sich „im Vertrauen darauf, dass ihnen geglaubt wird“, bei der Ombudsstelle melden. Entscheidungen fielen „im Zweifel für die Betroffenen“.

Auch nach dem Fall Gelbhaar/Kreße gibt es für diesen Ansatz Unterstützung in der Partei. „Es gilt als feministische Partei, Betroffenen zu glauben“, sagte in dieser Woche Jette Nietzard, die Bundessprecherin der Grünen Jugend. Die Unschuldsvermutung, die andere in der Partei jetzt stärken wollen? Gelte vor Gericht, nicht für die Grünen.

Das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Partei bewegt, wenn sie ihre Strukturen in den nächsten Monaten mithilfe der neuen Kommission erneuert. Und wenn die eine Grundsatzfrage geklärt ist, bleibt noch die andere: Was folgt aus einem Vorfall, wenn er denn erst mal als wahr gilt? Wenn die Partei das Vergehen als bestätigt wertet: Muss sein Mandat verlieren, wer dreimal ungeschickt flirtet? Muss es dafür körperlich werden? Oder gar strafrechtlich relevant? Und wer entscheidet am Ende darüber?

All diese Fragen sind in der Partei strittig. Nur eine Erkenntnis zeichnet sich schon ab: Die schweren Fälle nach außen zu geben, so wie in der Europa-Fraktion, kann nicht schaden. Zum einen, damit die Verfahren frei sind von politischen Interessen. Und wohl auch: Damit die Verantwortlichen von all den Abgründen ein bisschen weniger an der Backe haben.

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12 Kommentare

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  • Unbedingt derartige Fälle nach außen geben. Es spricht jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn, wenn auf die Weise wie geschehen jem,and abgesägt werden kann. Und so: Art 21 Abs 1 Sätze 1und 2 GG: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen." Wenn die Ombudsstelle nicht zur inneren Ordnung der Partei gehört, wozu gehört sie dann? Liebe Grüne -?

  • "Die Unschuldsvermutung, die andere in der Partei jetzt stärken wollen? Gelte vor Gericht, nicht für die Grünen."

    Cool. Wenn es nach diesen Leuten ginge, könnte ich also den Grünen beitreten, ein beliebiges Mitglied der sexuellen Belästigung beschuldigen, dessen Karriere zerstören und wieder gehen.

    Merkt eigentlich keiner, wie autoritär solche Statements klingen? So etwas öffnet doch Tür und Tor für eine Atmosphäre der Denunziation, in der man in der politischen Auseinandersetzung stets fürchten muss, beschuldigt zu werden, wenn man sich politisch zu sehr mit irgendjemandem anlegt. Das kann doch nicht das Konzept einer progressiven Partei sein.

  • Was für ein Kasperlestheater. Natürlich ist es wichtig Betroffene ernst zu nehmen, gleichzeitig ist ein Verfahren, ohne Nennung von Namen oder Berücksichtigung von Zweifeln einfach nur lächerlich. Und jetzt ist es einem um die Ohren geflogen…

  • Den Betroffenen und den Opfern Glauben zu schenken - das klingt auf den ersten Blick natürlich gut. Aber: Wenn gegen jemanden falsche, erfundene Vorwürfe erhoben werden, ist der dann nicht auch betroffen und auch Opfer?



    Wer einfach immer dem vertraut, der Vorwürfe erhebt, und gar nicht erst versucht zu überprüfen, ob die Vorwürfe begründet oder auch nur plausibel sind, der macht es sich entschieden zu einfach.

  • Eine Partei ohne Unschuldsvermutung, unappetitlich.

    • @Konstantin Wosner:

      Ja.

  • Wenn die Partei nicht alles in ihrer Macht stehende tut um Gelbhaar vollständig zu rehabilitieren, dann ist sie für mich komplett unwählbar geworden.

  • Durch die unwidersprochene Aussage der Co-Bundessprecherin der Grünen Jugend, die Unschuldsvermutung gelte nicht für die Grünen, wird die Angelegenheit eskaliert.

    Bei der Unschuldsvermutung handelt es sich um eine der wichtigsten Säulen des Rechtsstaatsprinzips. Parteien sind nicht nur irgendeine "Organisation" sondern haben durch Art. 21 GG Verfassungsrang ("ihre Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen"). Das mag einer JungpolitikerInnen möglicherweise vollkommen unbekannt sein, nur dann wäre wohl eine unverzügliche öffentliche Klarstellung durch den Parteivorstand zu erwarten gewesen.

    Fehlanzeige.

    Habeck: Ein Mensch. Kein Wort.

  • "Wie gut die Identitäten dieser Personen geprüft wurden, worum es in den Vorwürfen geht und ob sie durch Indizien oder Beweise gestützt sind, ist unklar."

    Wenn die Grünen dazu schweigen sieht es wohl nicht gut aus. Sind dann womöglich nicht überprüfte Fälle.

    Offenheit sieht und lückenlose Aufklärung sieht anders aus. Nach der Wahl erfahren wir mehr.

  • Man kann hier schon klar sagen, dass es sich um eine Intrige handelt. Und die, die bei den Vorwürfen bleiben, tun dies wohl eher aus Selbstschutz. Denn ein Einräumen, dass auch ihre Vorwürfe erlogen sind, würde deren politische Karrieren ebenfalls beenden.



    Für die Grünen ein ziemliches Desaster. Denn das ganze zieht sich hoch bis in Habecks engsten Vertrautenkreis.



    Und wenn Kandidaten zum Rücktritt gedrängt werden, hat das nichts mit demokratischen Vorgängen mehr zu tun. Nähme man es penibel, könnte man die Gültigkeit der Berliner Landesliste anzweifeln.

    • @TeeTS:

      Bitte penibel nachschauen und klären. Andreas Audretsch - ehemaliger RBB Mitarbeiter?

  • "Setzen wir auf die Unschuldsvermutung? Oder nehmen wir Gelbhaar aus dem Rennen, damit niemand sagen kann, die Grünen ignorierten Hinweise auf sexualisierte Gewalt?"

    Der gemeinde Beobachter fragt sich, wie man eigentlich darauf kommt, daß das ein Gegensatzpaar ist.