Grüne zu Obergrenze in der Sondierung: 200.000 als Rahmen
Die Grünen legen ein Kompromissangebot in der Flüchtlingspolitik vor. Unangetastet bleiben soll die Möglichkeit des Familiennachzugs.
Die Ökopartei kommt CDU, CSU und FDP damit bei dem heiklen Thema entgegen, an dem die Verhandlungen zuletzt zu scheitern drohten. Das Angebot sei der Versuch, Bewegung in die festgefahrene Situation zu bringen, hieß es in Grünen-Kreisen. Ein solcher Kompromiss sei für die Grünen „schwer erträglich“. Man müsse aber zu Kenntnis nehmen, wie wichtig die Zahl 200.000 für die CSU sei. Die Union will die Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen auf einen Richtwert von 200.000 pro Jahr begrenzen.
Das Angebot der Grünen, dessen Formulierungen der taz vorliegen, nimmt darauf Bezug. „Seit der Wiedervereinigung hat die Zahl der Flüchtlinge insgesamt nur in 5 Jahren 200.000 überschritten“, heißt es in dem Text. „Deswegen wollen wir in diesem Rahmen auch in Zukunft handeln, gerade mit Blick auf die Integrationsmöglichkeit in den Kommunen.“ Das kann man als Bekenntnis zu einer Steuerung lesen, die es dem Staat ermöglicht, besser mit Geflüchteten umzugehen.
Das Wort „Rahmen“ ist dabei bewusst gewählt, es klingt flexibel. Mit den Grünen gebe es keine Obergrenze, betonte Parteichefin Simone Peter auf Twitter. In ihrem Angebot an CDU, CSU und FDP schreiben die Verhandler der Ökopartei weiter: „Das Grundrecht auf Asyl gilt. Es kennt keine Obergrenze. Wir werden es weder infrage stellen noch aushöhlen.“ Die Grünen stünden zur individuellen Bearbeitung jedes einzelnen Asylantrags und den entsprechenden Vorschriften in Europarecht, Völkerrecht und Grundgesetz.
Asylrecht schon lange entkernt
Dass Beharren der Grünen auf dem Grundrecht auf Asyl ist keine harte Bedingung. Selbst die CSU hatte es nicht ernsthaft in Frage gestellt. Außerdem hätte eine Jamaika-Regierung sowieso nicht die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, um die Verfassung zu ändern. Das deutsche Grundrecht auf Asyl spielt zudem faktisch kaum noch eine Rolle. Es wurde durch die Asylrechtsverschärfung 1993 von Union, SPD und FDP entkernt. Seitdem können sich Flüchtlinge, die aus einem EU-Land oder einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen, nicht mehr darauf berufen. Sie können nach der Dublin-Regelung in das Land abgeschoben werden, in dem sie zum ersten Mal den Boden der EU betreten haben.
Die entscheidende Stoßrichtung des Grünen-Kompromisses ist deshalb der Familiennachzug. Die Große Koalition hatte entschieden, dass subsidiär Geschützte bis März 2018 Ehepartner oder Kinder nicht nach Deutschland nachholen dürfen. Das sind Menschen, die vor Krieg geflohen sind oder denen in ihrer Heimat Folter oder Todesstrafe drohen. Im Moment werden vor allem Syrer in den subsidiären Schutzstatus eingestuft. Die Union möchte die Aussetzung des Familiennachzugs für sie verlängern. Die Grünen sind strikt dagegen und argumentieren, Flüchtlinge könnten sich nur dann integrieren, wenn sie ihre Familie in Sicherheit wüssten.
Der Kompromiss bedeutete also im Kern: Die Grünen retten den Familiennachzug, gehen aber einen Schritt auf die CSU zu. Wichtig ist: Aus den Formulierungen der Grünen geht nicht hervor, ob der Familiennachzug in einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr eingerechnet würde. Diese Frage ist aber entscheidend, weil er die größte Gruppe ausmachte. Wie viele Menschen durch den Familiennachzug neu ins Land kämen, ist schwer zu sagen. Das Bundesinnenministerium antwortete zuletzt ausweichend auf eine Linken-Anfrage. Das Auswärtige Amt hatte zuvor bekanntgegeben, dass gerade rund 70.000 Syrer und Iraker versuchten, zu Verwandten in Deutschland zu ziehen. Es gibt aber auch deutlich höhere Schätzungen.
Im Jahr 2015 kam hunderttausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland. Merkels Regierung ignorierte damals aus humanitären Gründen die Dublin-Regelung und ließ sie ins Land. Ein solches Szenario wäre wohl durch den Grünen-Kompromiss nicht mehr denkbar. Denn der „Rahmen“, auf den sich die Jamaika-Regierung geeinigt hätte, wäre so massiv überschritten, dass sie handeln müsste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl