Gewalt an Schulen: In der Eskalationsspirale
Aufgebrachte Eltern, eine entsetzte Lehrerin, ein Konflikt, der eskaliert – das ist der Klassiker. Aber bei näherem Hinsehen ist manches anders.
![Eine Kinderhand ragt ins Bild, ein Schüler meldet sich, im Hintergrund ist verschwommen eine Lehrerin vor einer Tafel zu erkennen Eine Kinderhand ragt ins Bild, ein Schüler meldet sich, im Hintergrund ist verschwommen eine Lehrerin vor einer Tafel zu erkennen](https://taz.de/picture/7225123/14/459363169-1.jpeg)
S eit ich hier über diese Veranstaltungen zum Thema Gewalt gegen Lehrer schrieb, spukt mir eine Geschichte im Hinterkopf herum, die mir ein Sozialarbeiter erzählt hat. Sie geht so: Ein 15-Jähriger hat Streit mit einem Klassenkameraden und tritt im Zuge dessen ein paar Mal so heftig gegen dessen Fahrrad, dass es beschädigt wird. Natürlich werden die beiden Streithähne getrennt und die Eltern alarmiert.
Die Familie des 15-Jährigen erscheint mit gleich vier Personen: Mutter, Vater, zwei Brüder. Alle vier sind sehr aufgebracht, sehr laut und sprechen wenig Deutsch. Die zuständige Klassenlehrerin fühlt sich verständlicherweise bedroht und versteht nicht, warum die Eltern sich einer in ihren Augen vollkommen logischen und berechtigten pädagogischen Maßnahme verweigern.
Der Sozialarbeiter, der eigentlich für ein Präventionsprojekt an der Schule war, versucht zu vermitteln, was aber anfangs nur schwer gelingt, weil alle so aufgebracht sind. Die Lehrerin spricht von einem „arabischen Clan“, der wohl seinen kleinen Prinzen schützen wolle, von mangelndem Unrechtsbewusstsein und Respektlosigkeit.
Die Familie davon, dass ihr Sohn sowieso immer an allem Schuld sei und man doch erst einmal feststellen müsse, was dieses andere Kind eigentlich getan habe. Die beiden Jungen rücken nicht mit der Sprache heraus, worum es zwischen ihnen eigentlich ging, behaupten aber, sie hätten das jetzt geklärt.
Hintergründe verstehen hilft manchmal schon
Im Laufe mehrerer Einzelgespräche kristallisiert sich allerdings heraus, warum der Konflikt zwischen den Erwachsenen derart eskalierte. Als erstes klärte der Sozialarbeiter, der selbst eine entsprechende Migrationsgeschichte hat, die Lehrerin darüber auf, dass die Familie keineswegs arabisch sei, sondern kurdisch. Das war der Lehrerin nicht bewusst, obwohl sie das Kind schon einige Zeit unterrichtet.
Diese Information wäre aber deshalb wertvoll gewesen, weil sie auf die Erfahrungen verweist, die diese Familie bisher mit Schule gemacht hat. In der türkischen Region, aus der sie stammen, ist das Schulwesen ein Instrument von vielen, das dazu dient die unerwünschte kulturelle Minderheit zu unterdrücken und zu schikanieren.
Und erst vor zwei Monaten war der Junge nach Hause gekommen und hatte ihnen erzählt, dass ihm ein Lehrer auf dem Schulhof verboten hätte, kurdisch zu reden. Für die Familie reihte sich das ein in andere Enttäuschungen und schlechte Erfahrungen, die sie seit ihrer Flucht nach Deutschland gemacht hatte: Die Sprache lernen ist schwerer als gedacht, Arbeit finden auch, bei Ämtern und Behörden fühlten sie sich schlecht behandelt und nun auch noch das.
Für sie war damit klar: Es geht alles von vorne los, wir dachten, hier wäre es besser, aber hier sind wir auch bloß unerwünscht, Bürger zweiter Klasse, immer die Blöden, immer die Bösen. Um das aufzulösen, hilft es natürlich wenig die große Disziplinarkeule zu schwingen.
Elternarbeit nicht bloß als nervigen Störfaktor begreifen
Man müsste viel früher eingreifen und manche Schulen tun das auch sehr erfolgreich. Sie setzen auf aufsuchende Elternarbeit, weil sie genau wissen, dass Elternabende allein nichts bringen, auf Sprach- und Kulturvermittler aus migrantischen Vereinen oder der eigenen Schulgemeinschaft, auf niedrigschwellige Kontaktangebote wie Elterncafés und Schulfeste.
Sie haben erkannt, dass sie langfristig davon profitieren, wenn sie frühzeitig in vertrauensbildende Maßnahmen investieren und nicht erst dann mit den Eltern ins Gespräch kommen, wenn die Hütte schon brennt.
Aber vorgesehen ist das alles im Stundenkontingent natürlich nicht, funktioniert immer nur durch das überdurchschnittliches Engagement einzelner Lehrkräfte, die zur Belohnung quasi dauernd vom Burnout bedroht sind.
Vielleicht müsste man noch einmal über professionelle pädagogische Standards in der Arbeit mit Schülern und ihren Eltern nachdenken. Aber dazu müsste man natürlich auch erst einmal anerkennen, dass das – auch jenseits der Grundschule – ein wesentlicher Teil des Jobs ist. Und nicht bloß ein nerviger Störfaktor.
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