Geschlechtersensible Medizin: Eine Frau ist kein Mann plus Hormone
Der Maßstab der meisten medizinischen Studien ist immer noch der 75-Kilo-Mann. Dabei könnte eine geschlechtersensiblere Medizin Leben retten.
![Ein Mediziner zieht eine Impfspritze auf Ein Mediziner zieht eine Impfspritze auf](https://taz.de/picture/4696114/14/26868266-1.jpeg)
V or Kurzem schrieb ein Autor bei Zeit Online einen aufsehenerregenden Kommentar: „Männer first!“ Gemeint war, dass Männer früher als Frauen die Corona-Impfung bekommen sollten. Der Grund: Männer erkranken häufiger schwer an Covid-19 und haben ein höheres Sterberisiko als Frauen.
Ich kann den Autor verstehen. Er ärgert sich über die geschlechterneutrale Medizin. Andere tun das schon lange. Der Autor benutzt das Wort zwar nicht, aber sein Text ist im Prinzip ein Plädoyer für die „geschlechtersensible Medizin“.
Also eine Medizin, die sowohl die biologisch-naturwissenschaftlichen und soziokulturellen Aspekte der Geschlechter als auch die personellen Geschlechterkonstellationen in Behandlung und Forschung berücksichtigt. Ob ihm die Ironie klar war, dass er mit seinem Kommentar für etwas plädiert, das Frauen und LGBTI-Personen schon lange fordern?
Mir gefällt der Begriff „geschlechtersensibel“ nicht, weil er suggeriert, Medizin müsse super sensibel gegenüber anderen Geschlechtern (außer dem männlichen) sein, weil das „politisch korrekt“ sei. Medizin, die Menschen als das behandelt, was sie sind, ist vor allem eins: vernünftig.
Die Suche nach „emotionalen“ Ursachen
Man weiß noch nicht, woran es genau liegt, dass Männer häufiger an Covid-19 versterben. Es gibt zwar erste Studien, die nahelegen, dass das etwas mit dem Immunsystem zu tun hat. Aber für eindeutige Antworten ist es zu früh. Das Immunsystem allein erklärt zum Beispiel nicht, dass in Indien als scheinbar einzigem Land der Welt nicht Männer, sondern deutlich mehr Frauen an Covid-19 sterben.
Das Problem ist eben, dass nicht das Geschlecht allein eine höhere Sterblichkeit verursacht. Es spielen immer auch individuelle Faktoren eine Rolle, wie Übergewicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deswegen kann auch nicht generell entschieden werden, dass Männer vor Frauen geimpft werden. Wäre das Geschlecht der einzige Faktor – na klar müssten dann Männer zuerst geimpft werden!
Gesichert sind generell aber folgende Fakten: Medikamentenstudien werden nicht verpflichtend an allen Geschlechtern durchgeführt; bei Frauen wird der Herzinfarkt oft spät oder gar nicht erkannt, weil Frauen nicht die „typischen“ (also männlichen) Symptome haben; bei Frauen mit Schmerzen wird eher nach „emotionalen“ Ursachen als nach körperlichen Ursachen gesucht; Osteoporose betrifft auch Männer; bei Männern wird häufiger nach körperlichen Symptomen gesucht und Depressionen werden seltener erkannt. Und vieles mehr.
Alles, was ich im Medizinstudium gelernt habe, war ausgerichtet am 75-Kilo-Mann. Eine Frau ist aber kein Mann plus Hormone. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt spielt in der Forschung bisher kaum eine Rolle. Es ist an der Zeit, dass sich das ändert. Also bitte nicht „Männer first!“, sondern „Alle first!“.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?