G20 und die Ausschreitungen in Hamburg: Die Stunde der Diskurs-Chaoten
Die Ausschreitungen waren gefährlich, überflüssig und idiotisch. Aber eines waren sie mit Sicherheit nicht: so schlimm wie rechter Terror.
Die Bilder aus Hamburg waren, wie Bilder von Ausschreitungen sind: dramatisch, beängstigend, spektakulär. Wer sie aus der Ferne sieht, denkt an Bürgerkrieg. Tatsächlich spielte sich die von maximal 500 Beteiligten betriebene Randale im Wesentlichen an einer einzigen Ecke, über eine etwa 400 Meter lange Strecke, ab. Direkt daneben saßen Hunderte völlig ungerührt in den Bars und Cafés.
Das angeblich komplett dem Mob überlassene und von diesem in Schutt und Asche gelegte Hamburg sah an genau dieser Stelle am nächsten Tag aus, als ob nichts geschehen wäre – und zwar schon bevor der als „G20-Helden“ gefeierte Bürgerputztrupp mit Besen und Anti-Graffiti-Schaum am Sonntag anrückte.
Die Ausschreitungen am Freitag waren völlig idiotisch, brutal, überflüssig, gefährlich. Eins waren sie unter Garantie nicht: „so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten“. Das war Kanzleramtsminister Peter Altmaier dazu eingefallen. Der Mann bekleidet eines der wichtigsten Ämter in diesem Staat, mit seiner Geschichte des NSU und den islamistischen Anschlägen mit vielen Toten der vergangenen Zeit.
SPD-Chef Martin Schulz spricht von „Mordbrennern“, Welt-Journalist Ulf Poschardt von „Faschisten“. Nach den Ausschreitungen schlägt die Stunde der Diskurs-Chaoten. Jan Fleischhauer vom Spiegel schreibt: „Wer am Samstag gegen G20 auf die Straße geht, solidarisiert sich mit dem Mob.“ So hätte er es gern.
In Haftung genommen
Am Samstag waren 76.000 Menschen, die meisten mit redlichen Anliegen, unterwegs. Es flog kein Stein, keine Flasche. Doch sie alle und auch die, die Sitzblockaden organisierten und dabei niemandem ein Haar krümmten, werden in Haftung genommen. Von der „Katharsis“, die nun kommen müsse, ist die Rede.
Am Montag war dazu etwa zu hören, „die Linke“ habe 2001 in Genua „Glück gehabt“, dass der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde. So sei sie als moralischer Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgegangen und habe sich die Gewaltdiskussion ersparen können. In Hamburg aber habe die Polizei „besser agiert“, also niemanden erschossen. Jetzt ist die „Linke“ der moralische Verlierer und müsse die eigenen Reihen säubern.
Und wehe, jemand wagt es, noch über etwas anderes sprechen zu wollen.
Peter Altmaier auf Twitter
Zum Beispiel darüber, dass Demonstranten in Hamburg geknüppelt, gepfeffert, auseinandergetrieben wurden, und zwar keineswegs nur da, wo es knallte. Oder darüber, dass auch Journalisten, Unbeteiligte und offenbar sogar eine Anwältin verprügelt wurden. Jeder, der darauf verweist, muss sich sofort für den Freitagabend rechtfertigen.
Oder über die Behauptung der Polizei, dass sie die Schanze nicht gleich zu Beginn der Krawalle räumen konnte. War es tatsächlich so? Es standen ein halbes Dutzend Wasserwerfer, dazu viele Räumpanzer bereit. Die Sache wäre erledigt gewesen. Genauso hatte sie es an den Abenden zuvor gehalten. Die Frage interessiert niemanden mehr.
Eine von denen, die die friedlichen Blockaden organisiert haben, war die Sprecherin der Interventionistischen Linken, Emily Laquer. Sie hat – auch in der taz – die Frage aufgeworfen, warum der strukturellen Gewalt – Hunger, Kriegen, Mittelmeertoten, Frauenmorden, Klimawandel, Umweltzerstörung – so erbärmlich wenig und der Gewalt des Mobs auf der Straße so überbordend viel Aufmerksamkeit beigemessen wird. Und damit hat sie recht. Die Reaktion auf die Ereignisse vom Freitagabend haben genau das gezeigt. Wieder einmal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen