Fall der „SZ“-Vizechefin Föderl-Schmid: Wir sollten mehr Ethik lernen
Das Drama um die Vizechefin der „Süddeutschen Zeitung“ sollte den Medien ein Lehrstück darüber sein, wie man besser nicht mit Verdächtigungen umgeht.
I n dieser Wochenrückblicks-Kolumne sollte es eigentlich unter anderem um Plagiate gehen – schmunzelnd, ironisch. Alexandra Föderl-Schmid, der stellvertretenden Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, wird vorgeworfen, in ihrer Doktorarbeit geschummelt und für Artikel von anderen Texten abgeschrieben zu haben.
Besonders skandalös sind die Sachen nicht. Als berufsbedingter Zeitungsvielleser stoße ich ständig auf Pseudo-Quellenangaben wie „heißt es“ oder auf butterweiche Abschwächungen wie „Person XY gilt als …“. Übersetzt: Man hat es irgendwo gelesen, macht sich jetzt aber nicht die Mühe, das mal selbst zu prüfen. Eine regelrechte Kampagne mit schadenfrohem Unterton lief an, vorne dabei natürlich der ruchlose Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, der einen sogenannten Plagiatsjäger dafür extra bezahlte. Endlich kann man es einer verhassten linksliberalen Elitejournalistin einmal zeigen!
Diesen Donnerstag und Freitag wurde Alexandra Föderl-Schmid vermisst; die Polizei suchte am Inn zwischen Bayern und Österreich nach einer Frau wegen „Suizidgefahr“. Schließlich wurde die Journalistin unter einer Brücke gefunden; „unterkühlt“, aber lebend. Wie kann es sein, dass eine Person abtaucht, von der Welt nichts mehr wissen will, weil ihr handwerkliche Fehler in ihrem Beruf vorgeworfen wurden? Der zeitliche Zusammenhang mit der Kampagne gegen sie ist offensichtlich. Wo liegt die Verantwortung der Medien, die darüber, nun ja, berichteten?
Die SZ prüfte die Verbindungsdaten ihrer MitarbeiterInnen, um den Whistleblower über die zunächst intern gehaltenen Vorwürfe in ihren Reihen ausfindig zu machen – und machte die Sache damit erst recht groß. Die Zeitung kündigte eine externe Überprüfung der Vorwürfe an und schrieb: „Bis dahin will sie sich aus dem operativen Geschäft zurückziehen.“ Will? Nein, ganz sicher wurde sie dazu gezwungen – das übliche verlogene Unternehmenskommunikations-Deutsch. Der Druck auf Alexandra Föderl-Schmid muss unmenschlich gewesen sein.
David Foster Wallaces großartige Rede
Der Schriftsteller David Foster Wallace hielt mal eine großartige Rede vor den Absolventen einer Hochschule in Ohio, die als kleines Büchlein erschien. Wallace, der unter schweren Depressionen litt und im Jahr 2008 Suizid beging, konfrontierte die Studenten mit ihren „Standardeinstellungen“: ihrer Art, wie sie Menschen beurteilen. Er empfahl, auf nervige Mitmenschen oder die, über die man sich leichthin lustig machen kann, mal ganz anders zu blicken; etwa die „bräsige Frau“ in der Supermarktschlange, die „gerade ihr Kind angeschnauzt hat, mit anderen Augen zu sehen – vielleicht ist sie sonst nicht so; vielleicht hat sie gerade drei Nächte nicht geschlafen, weil sie ihrem an Knochenkrebs sterbenden Mann die Hand gehalten hat; vielleicht hat genau diese Frau auch den unterbezahlten Job im Straßenverkehrsamt und hat gestern Ihrem Mann geholfen, durch einen kleinen Akt bürokratischer Güte einen albtraumhaften Papierkrieg zu beenden“.
Es wäre gut, Alexandra Föderl-Schmid jenseits der Standardeinstellungen zu sehen. Was mag sie zu Copy-and-paste bewogen haben, sollten die Vorwürfe denn stimmen? Ist der Performancedruck zu groß? Und die in dieser Sache federführenden Medien sollten mal eine kleine Inspektion bei sich machen, von wegen „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.
Sind wir immer Vorbild?
Diese und vergangene Woche wurden in den Schulen die Halbjahreszeugnisse ausgegeben, und wir Eltern und Erwachsene haben wieder kritisiert oder beiläufig gelobt. Du hast eine Zwei in Ethik? Toll! Aber warum nehmen wir Erwachsene uns nicht mal die Zeit, den tollen Stoff, den unsere Kinder unterrichtet bekommen, selbst zu studieren? Das volle Programm der Ethik: Was ist richtig und was ist falsch? Was ist Vernunft, was ist verhältnismäßig? Wie gehen wir miteinander um? Sind wir wirklich immer für die Kinder ein Vorbild? Wie viel Niedertracht, und wenn sie noch so versteckt ist, steckt in uns?
Einer der letzten Sätze der Rede von David Foster Wallace, drei Jahre vor seinem Tod, lautete: Es ist unvorstellbar schwer, tagein, tagaus bewusst und erwachsen zu leben.
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