Expertin über Dauerkrise in Thüringen: „Die Politik ist unberechenbar“
Thüringen steckt in einer Regierungskrise. Wichtig sei, dass CDU und FDP als Opposition konstruktiv mitarbeiten, sagt die Politikwissenschaftlerin Marion Reiser.
taz: Frau Reiser, der Landespolitik in Thüringen ist in der vergangenen Zeit schwer zu folgen. Erst sollte es nach dem Kemmerich-Debakel von 2020 in diesem Jahr Neuwahlen im April geben. Die wurden wegen der Pandemie auf September verschoben. Vor zwei Wochen zogen Linke und Grüne dann den Antrag auf Auflösung des Landtags zurück und kippten die Neuwahlen. Kurz darauf verlor die AfD ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bodo Ramelow. Was ist da los?
Marion Reiser: Ausgangspunkt für diese „Thüringer Verhältnisse“ war das Wahlergebnis der Landtagswahl 2019. Die Regierungsbildung gestaltete sich sehr kompliziert, da keine der in Deutschland etablierten Regierungskoalitionen eine Mehrheit erlangt hatte.
Die Regierungskrise nach der Wahl Kemmerichs wurde zwar mit der Einigung von Linken, SPD, Grünen und der CDU auf den sogenannten Stabilitätspakt sowie den Beschluss, den Landtag im Jahr 2021 neu zu wählen, zunächst überwunden. Aber die aktuellen Entwicklungen sind nur vor dem Hintergrund dieser Ereignisse des letzten Jahres zu verstehen.
Inwiefern?
Als sich abzeichnete, dass entgegen der vorherigen Vereinbarung die erforderliche Zweidrittelmehrheit zur Auflösung des Landtags und damit für Neuwahlen nicht durch die Abgeordneten der vier Fraktionen gesichert ist, zogen Linke und Grüne den Antrag zurück. Sie wollten damit verhindern, dass die AfD bei der Landtagsauflösung wieder ausschlaggebend sein könnte – wie bei der Kemmerich-Wahl 2020.
Die CDU hat ja bereits angekündigt, keinen erneuten Stabilitätsmechanismus zu unterzeichnen. Was glauben Sie, wie es weitergeht?
Das ist schwer zu prognostizieren. Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie unberechenbar die Politik in Thüringen aktuell ist. Nach dem Ende des Stabilitätsmechanismus muss sich die rot-rot-grüne Minderheitsregierung nun jeweils neue Mehrheiten für ihre Vorhaben suchen. Entscheidend ist dafür jedoch, dass die Oppositionsparteien, also CDU und FDP, bereit sind, konstruktiv mitzuarbeiten, und die Regierung zumindest für einen Teil ihrer Gesetzesprojekte Unterstützung bekommt. Dies gilt kurzfristig insbesondere für den Haushalt für 2022.
Wie sehen das die Einwohner:innen Thüringens?
Die aktuelle Umfrage des Thüringen-Trends des mdr zeigt, dass sich die deutliche Mehrheit der Thüringer:innen für Neuwahlen ausspricht. Für eine Fortsetzung der aktuellen Minderheitsregierung sprach sich hingegen nur ein Viertel aus. Wenn sich also abzeichnet, dass die Minderheitsregierung für ihre Projekte beziehungsweise den Haushalt keine Unterstützung bekommt, halte ich es für wahrscheinlich, dass es nach der Bundestagswahl einen erneuten Versuch zur Landtagsauflösung geben wird.
ist Politikwissenschaftlerin und Lehrstuhlinhaberin für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Jena. Sie forscht unter anderem zu politischer Soziologie, Parteien sowie regionaler und lokaler Politik.
Sie sind Mitherausgeberin des „Thüringen-Monitors“, einer jährlich erscheinenden Studie zu den politischen Einstellungen der Bürger:innen in Thüringen. Inwiefern hat sich die Regierungskrise 2020 auf die Demokratie ausgewirkt?
Die Entwicklungen rund um das Coronavirus nur wenige Wochen nach der umstrittenen Ministerpräsidentenwahl stellten alle anderen politischen Fragen in den Schatten. In unserer Befragung äußerten die Thüringer:innen eine hohe Zufriedenheit mit der Praxis der Demokratie und auch ein sehr hohes Vertrauen in die Landesregierung. Die Werte stellten sogar bisherige Rekordwerte seit Beginn der Erhebung im Jahr 2001 dar.
Wie das?
Das lässt sich unter anderem auf die zum damaligen Zeitpunkt sehr hohe Zufriedenheit mit dem Corona-Krisenmanagement zurückführen. Insofern konnten wir aufgrund der Überlagerung durch die Coronapandemie keine direkten Auswirkungen der Regierungskrise auf die politischen Einstellungen feststellen.
Die thüringische Gesellschaft scheint auch gespalten zu sein: Die Linke bleibt bei aktuellen Umfragen stärkste Partei mit 27 Prozent. Die AfD jedoch liegt noch vor der CDU bei 22 Prozent.
In der Tat deuten die aktuellen Umfragen darauf hin, dass sich wohl auch durch Neuwahlen nicht viel an den unklaren Mehrheitsverhältnissen und der schwierigen Regierungsbildung in Thüringen ändern würde.
Insgesamt zeigt sich in den Umfragewerten somit eine politische Polarisierung, wie wir sie auch bei den Landtagswahlen in anderen ostdeutschen Bundesländern gesehen haben: zwischen der AfD, die bei diesen Landtagswahlen jeweils ungefähr ein Fünftel bis ein Viertel der Wähler:innen gewinnen konnte, und der jeweils größten Regierungspartei. In Thüringen ist dies die Linke, die weiterhin von hohen Bekanntheits- und Zustimmungswerten für Bodo Ramelow profitieren kann.
Im Herbst steht uns vermutlich eine vierte Coronawelle bevor. Glauben Sie, dass Ministerpräsident Bodo Ramelow und die rot-rot-grüne Minderheitsregierung das Bundesland gut durch die Krise führen könnten?
Diese Frage ist aktuell schwer zu beantworten. Ob das Regieren ohne Stabilitätsmechanismus und mit wechselnden Mehrheiten funktionieren wird, wird davon abhängen, wie konstruktiv die Minderheitsregierung mit CDU und FDP zusammenarbeitet.
Was bräuchte das Bundesland, um den Einwohner:innen Sicherheit und Stabilität zu vermitteln?
Wie die aktuelle Umfrage zum Thüringen-Trend des mdr zeigt, wünschen sich mehr als zwei Drittel der Thüringer:innen Neuwahlen, drei Viertel sind gegen die Fortführung der Minderheitsregierung. Das spricht dafür, dass sich die Thüringer:innen weiterhin klare Mehrheitsverhältnisse wünschen. Aber: Die Bürger:innen waren mit dem Corona-Krisenmanagement der Regierung zufrieden. Insofern kann man von einem gewissen Vertrauensbonus der Bürger:innen bei einer möglichen vierten Coronawelle ausgehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück