Ex-Spiegel-Reporter Relotius: Schreiben als Selbstbetrug
Ex-Journalist Claas Relotius hat seine Reportagen zum Teil frei erfunden. Jetzt begründet er es mit seiner psychischen Krankheit. Ist das glaubwürdig?
„Ich log und log – und dann log ich noch mehr.“ So einfach war das also. Der Journalist, der damit ein renommiertes Blatt in eine mittlere Existenzkrise stürzte, packt aus. Beruflicher Stress im Newsroom des legendären Titels, Schreibsucht und eine psychische Krankheit hätten ihn dazu gebracht, systematisch und über Jahre hinweg Zitate, Interviews, atmosphärisch dichte Beschreibungen aus vielen Versatzstücken zusammenzufassen – oder gleich ganz zu erfinden.
Nein, die Rede ist hier nicht von Claas Relotius und dem Skandal beim Spiegel vor drei Jahren. Sondern von Jayson Blair, der 2003 bei der New York Times aufflog. „Ich war schließlich nicht der Erste, der […] bei der New York Times verrückt geworden ist“, schrieb Blair später im Enthüllungsbuch in eigener Sache über seinen Fall.
Es ist frappierend, wie ähnlich sich die Erklärungen in beiden Fällen sind. „Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten“, ist das Interview mit Relotius im Schweizer Magazin Reportagen betitelt. Auch für diese Zeitschrift, der er nun das erste große Interview in eigener Sache gab, hatte Relotius gearbeitet. Bei vier seiner fünf Beiträge fand die Redaktion nach eigenen Angaben später „Ungenauigkeiten, fehlerhafte Beschreibungen, faktische Fehler“ und, schweizerisch fein formuliert, „Imaginationen“.
Dabei hatte Relotius’ Karriere durch seine freie Mitarbeit bei Reportagen den entscheidenden Schub bekommen. Mit einem Text für das Magazin gewann er 2013 den Deutschen Reporterpreis. Das brachte viel Aufmerksamkeit. Nach diversen Beiträgen für renommierte Titel von der Neuen Zürcher Zeitung bis zur FAZ folgte schließlich 2017 die Festanstellung als Reporter beim Spiegel.
Schonungslose Selbstkritik
Im 26 Seiten langen Interview schildert Relotius, wie das Schreiben therapeutisch war. „Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus. Ich habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an missbraucht.“
Schonungslos berichtet Relotius von Denk- und Wahrnehmungsstörungen, die er schon vor der Zeit beim Spiegel hatte. „In meinem Alltag waren die Grenzen über Monate verschwommen. Die Grenze in einem Text war für mich in dieser Zeit nicht existent. Ich habe das Schreiben benutzt, um wieder Klarheit zu bekommen. Später habe ich mich nicht gefragt, ob wirklich alles so gewesen ist. Ich habe meinen Text in der Zeitung gesehen, mich daran festgehalten und hochgezogen, mich normal gefühlt. Ich hatte es ja hinbekommen, einen Text zu schreiben, der in der Zeitung stand.“
Das bedeutet Schreiben als Therapie und Selbstbetrug. Am Ende ergibt sich eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung, bei der der Fälscher an die Echtheit seines Werkes glaubt, weil es da schwarz auf weiß steht. Auf die Frage, wie viele seiner Texte überhaupt korrekt waren, sagt er heute: „Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ Das könnte nach Koketterie klingen. Zumal er betont, er habe zu keiner Zeit seiner journalistischen Tätigkeit auch nur ansatzweise Karriereambitionen gehabt.
Eben das warf ihm Spiegel-Reporter Juan Moreno vor, der 2019 seine Sicht der Dinge im Buch „Tausend Zeilen Lüge“ veröffentlichte. Auch wenn Relotius 2019 zunächst mit einem Anwaltsschreiben gegen Moreno vorgegangen war, wird die juristische Auseinandersetzung wohl nicht weitergehen.
Eskapistisches Schreiben
Er habe sich „nicht in der Position gesehen, jemanden zu verklagen, ohne mich selbst meiner viel größeren Schuld zu stellen“, so Relotious: „Ich habe den Menschen, den ich am meisten liebe, leiden sehen und trotzdem an meiner Realität festgehalten, um nicht an mir zweifeln zu müssen. Genau so habe ich mich Jahre später auch gegenüber Juan Moreno verhalten, als dieser alles aufdeckte und zeitweise wohl auch an seinem Verstand zweifeln musste, weil ich unerbittlich an etwas festgehalten habe.“
Relotius’ Arbeitstechnik bei seinen Texten entsprach dabei der von Jayson Blair. Der Reporter der New York Times erfand nie die komplette Geschichte, aber immer wieder wesentliche Handlungsstränge, Personen, Fakten.
Auch Relotius sagt: „Es gab kein systematisches Vorgehen, jeder Text ist anders entstanden. Ich habe nicht einfach möglichst beeindruckende Geschichten am Reißbrett konstruiert, sondern in den allermeisten Fällen recherchiert wie jeder andere auch.“ Beim Schreiben habe er sich dann in ganz unterschiedlichem Ausmaß von der Realität gelöst und in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, „es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht.“
Dass er damit so leicht durchkam, scheint ihn bis heute zu wundern: „Wenn ich mit Fehlern konfrontiert wurde, habe ich reflexartig Erklärungen dafür gefunden, auch für mich selbst. In anderen Momenten habe ich sehr bewusst gelogen, in der Überzeugung, dass andere nur nicht verstehen könnten, warum ich die Geschichte genau so schreiben musste.“
Frage nach Glaubwürdigkeit
Nachdem die Bombe beim Spiegel geplatzt war, ging Relotius für längere Zeit in psychologische Behandlung. Hier musste und konnte er sich seinen psychischen Problemen stellen. Angefangen hätten diese schon im Zivildienst, lange vor seiner Tätigkeit als Journalist.
Er habe sich aber erst in den vergangenen zwei Jahren und nur mit professioneller Hilfe damit auseinandersetzen können. „Ich hatte all das auch nach dem Skandal nicht einfach präsent, sondern musste lernen, diese Dinge überhaupt zu sehen.“ Er habe andere Menschen mit psychischen Erkrankungen gekannt, „aber ich habe mich selbst nicht als krank wahrgenommen“.
2012 habe beispielsweise nach einer Israel-Reise seine Sprache nicht mehr „funktioniert“. Er habe das Gefühl gehabt „meine Gedanken verschwinden und fremde Gedanken strömen ein. Der Typ, der am Bahnhof mit sich selbst redet – der war in der Zeit ich.“ Statt zu Hause zu bleiben, habe er versucht, gleich wieder zu verschwinden und der Reportagen-Redaktion ein Thema vorgeschlagen. „Das war wie eine Flucht“, sagt Relotius. Und an anderer Stelle: „Es gab keine Not zu erfinden, aber eine, ungebremst zu schreiben.“
„Der Typ, der am Bahnhof mit sich selbst spricht“ – da ist sie wieder, die von vielen gelobte, bildhafte Sprache, die auch Relotius’ Texte ausmacht(e). So stellt sich auch jetzt wieder die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Ja, dem einen Claas Relotius wäre zuzutrauen, sich auch eine solche Beichte inklusive Selbstanklage zusammenzustricken.
Doch in meiner Sicht spricht aus diesem von Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet geführten, sehr kritisch-vorsichtigen Interview ein anderer Claas Relotius. Dem zu entnehmen ist, dass er die letzten drei Jahre gebraucht hat, sich selbst zu erkennen, vielleicht zu finden und zu begreifen, dass Schreiben als Selbstbetrug zur Therapie nicht taugt.
Anmerkung d. Red.: Claas Relotius war 2008 Praktikant bei der taz Hamburg. Während seines Masterstudiums an der Hamburg Media School 2009–2011 war Steffen Grimberg dort zeitweilig als Dozent tätig.
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