Essay zur EU-Wahl: Die verratene Generation
Will Europa überleben, muss es sich von der Logik des Alten lösen. Beispielsweise mit einer Jugendquote und Wahlrecht schon ab 12 Jahren.
E in Riss geht durch Europa, und dieser Riss prägt immer stärker die Konflikte des Kontinents, politisch, ökonomisch, kulturell, technologisch, sozial. Er widersetzt sich der Logik der etablierten Parteien, Interessenverbände, Allianzen und schafft neue Bündnisse, Bewegungen, politische Realitäten: Es ist die Konfrontation von Jung und Alt oder Jung und Mittelalt, und die Art und Weise, wie diese Konfrontation ausgetragen wird oder nicht, wird darüber entscheiden, wie offen, progressiv und letztlich erfolgreich Europa sein wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.
Die Ausgangslage ist klar: Europa hat eine Geschichte, die sich gerade vor den Europawahlen auf die EU verengt. Diese Geschichte ist damit eine der Väter und Mütter und vor allem der Großväter und Großmütter. Es ist die Geschichte von Krieg und Wiederaufbau, es ist die Geschichte einer Wirtschaftsunion, die auf Kohle und Stahl und einen gemeinsamen Markt aufbaute und daraus so etwas wie ein gemeinsames europäisches Bewusstsein ableitete, die 30 Jahre Wachstum und Wohlstand produzierte, der allerdings auch wiederum seit etwa 30 Jahren stagniert.
Die Väter und Mütter machen noch mit, sie sind oft fast reflexhaft für Europa, das für sie so sehr Teil ihres Lebens ist, Eurovision, Fall der Mauer, mit Air Berlin nach Mallorca. Aber die Kinder? Sie sehen eine andere Welt, die nicht mehr von den Problemen des 20. Jahrhunderts geprägt ist, aus denen heraus und als Antwort auf die jenes Europa entstanden ist, das sie nun als wertvoll erachten sollen.
Ihr Bewusstsein ist differenzierter, so scheint es, es ist weniger kontinental und mehr global (oder im Fall der jungen Rechten und Identitären dezidiert national, nationalistisch, rassistisch, also wiederum das krasse und entschiedene Gegenteil des Kontinentalen), es ist von der ökologischen Krise geprägt und von der Möglichkeit des Endes der ganzen Spezies. Was für eine Rolle spielt dabei Europa? Und vor allem ein Europa, in dem sie keine Repräsentation haben?
Umgedrehter Zeitstrahl
Tatsache ist: Das Durchschnittsalter der EU-Abgeordneten lag 2018 bei 54 Jahren, von 751 waren damals nur 83 jünger als 40 Jahre. Das war noch nie gut. Aber jetzt, wo sich in gewisser Weise die Zeit oder die Zukunft als politische Komponente erweisen, weil die Folgen des Klimawandels die Jungen viel mehr betreffen als die Alten; jetzt, wo sich Fragen von Erfahrung, Existenz und Einfluss anders stellen sollten und das Lebensalter einer Person mehr durch noch zu lebendes Leben als durch gelebtes Leben bestimmt ist; jetzt, wo die notwendigen Veränderungen der Gegenwart dezidiert vor dem Hintergrund der zukünftigen Folgen aus betrachtet werden müssen und sich der Zeitstrahl in gewisser Weise umgedreht hat – jetzt ist dieses Repräsentationsproblem fast schicksalhaft.
Dabei überlagern sich, wie fast in allen Feldern, politische und technologische Faktoren. Die Jugend ist Vernetzung gewöhnt und mit der Verfügbarkeit von Informationen und damit den Veränderungen von Öffentlichkeit und Privatsphäre und den Konsequenzen für Gesellschaft und Politik aufgewachsen. Sie hat nach der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa erlebt, wie Verteilungsfragen zu ihren Ungunsten ausgetragen wurden und in Ländern wie Spanien oder Griechenland, wo die Jugendarbeitslosenquote teilweise 50 Prozent betrug, eine ganze Generation auf dem Altar einer Sparpolitik geopfert wurde, die nach den politischen und ökonomischen Prinzipien und Interessen einer anderen Generation ausgerichtet war, denen der Babyboomer, die in den Wohlstandsjahren des Westens groß geworden sind und von dieser Logik, von diesem Anspruch, von dieser Macht nicht lassen wollen.
Der konservative Historiker Niall Ferguson hat das gerade zusammen mit einem, wie es im Text heißt, liberal denkenden Graduate Student, Eyck Freymann, in einem bemerkenswerten Essay für die Zeitschrift The Atlantic beschrieben, das den Titel „Der kommende Generationenkrieg“ trägt: Für die Politik in den USA, sagen die beiden, könnte die Kluft von Jung und Alt wichtiger werden als die eher traditionellen Kämpfe um „race“ oder „class“ – die Folge könnte eine grundsätzliche Neuordnung der amerikanischen Politik werden, ein Linksschwenk in der Zukunft, während die Gegenwart das Gegenteil erlebt, einen Gerontokraten-Battle zwischen Trump auf der einen und möglicherweise dem 76-jährigen Joe Biden oder dem 77-jährigen Bernie Sanders auf der anderen Seite.
In Europa könnte die Kombination aus einer alternden Gesellschaft und einer Politik, die die Jugend diskriminiert, ähnlich dramatische Konsequenzen haben. Sie könnte mehr als die inhaltlichen Zuschreibungen der Parteien verändern, die Jugend immer noch ganz unten einsortieren, weil diese sich hochdienen muss zu einer Vernunft, von der am Ende nur jemand wie Christian Lindner weiß, wie sie aussieht. Die sehr viel grundsätzlicheren Folgen der demografischen Veränderungen hat vor Kurzem der Politikwissenschaftler David Runciman von der Cambridge University beschrieben: Die repräsentative Demokratie im antiken Athen und in ihrer Logik bis heute, so Runciman, ist gegründet auf die dreifache Angst der reichen Eliten vor den Armen, den Ungebildeten und den Jungen. Alles drei, so argumentiert er, hat sich heute verschoben, die Armen sind weniger arm, die Ungebildeten informierter, die Jungen nicht mehr in der Mehrheit und damit auch weniger eine Bedrohung – und gleichzeitig sehen sie die Ungerechtigkeit eines Systems deutlicher, was ihre Wut auf die Generation, die dafür verantwortlich ist, dass der Planet stirbt, noch anheizt.
Jugendquote für alle EU-Institutionen
Das erklärt übrigens auch die Wucht und die Wirkung der „Zerstörung der CDU“ durch den YouTuber Rezo. Was passiert aber nun und was bedeutet es für Europa, wenn nicht nur metaphorisch, sondern sehr direkt genau die Geschichte, die Zugehörigkeit und Orientierung liefern soll, in ihrem Kern zum Problem wird? Die Kohle jedenfalls, die am Beginn der EU stand, ist für den Teil der heutigen Jugend, die sich mit dem Klimawandel auskennt, ganz klar der Feind. Oder anders gefragt: Wie schafft es Europa, die klima-, sozial- und wirtschaftspolitischen und auch die demokratietheoretischen Ansätze aufzunehmen, die im Green New Deal angelegt sind, ein echtes generationelles Zukunftspapier?
Es wird sich mehr verändern müssen als nur die inhaltliche Debatte von Politik, ob im EU-Parlament oder im Deutschen Bundestag, so viel scheint klar. Die Schüler, die den Protest auf die Straße getragen haben, was zu zum Teil krassen und hässlichen Abwehrreaktionen von Teilen der Politik und der Medien geführt hat, die mehr darüber aussagen, wie verzweifelt hier um das eigene Überleben, sprich die eigene Karriere oder die Interessen, die dahinter stehen, gekämpft wird – die Schüler sind jedenfalls geprägt von einer anderen Welt, wie sie sie wahrnehmen, bedroht in ihrem Wesen, erschaffen durch die Technologien, die sie benutzen. Das verändert Theorie und Praxis von Politik, wie es etwa Fridays for Future zeigt. Es geht nun darum, die Demokratie in Europa für das digitale Zeitalter und eine andere Generation neu zu erfinden.
Der erste Schritt wäre hier eine Jugendquote für alle EU-Institutionen, 40 Prozent unter 40 etwa, und eine Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre oder jünger. Der zweite Schritt wäre eine Reflexion über die Position und den Sinn Europas, das sich nicht als Wirtschaftsunion definieren kann, wenn für viele junge Menschen diese Wirtschaft zum einen nicht funktioniert, weil sie arbeitslos sind, und zum anderen dieses System von Industrie und Wachstum genau für jene Klimakatastrophe verantwortlich ist, die längst zum prägenden Teil ihrer eigenen Geschichte gehört.
Oder anders gesagt: Das Gerechtigkeitsversprechen Europas muss neu definiert werden, wenn die Verteilungskämpfe der Vergangenheit in vielem geschlagen sind oder sich anders definieren lassen – soziale Grundsicherung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine europäische Arbeitslosenversicherung, andere Gewerkschaftsformen oder das Konzept „Data as labor“, all das sind mögliche Ansatzpunkte für einen anderen Diskurs über Arbeit, Wohlstand, Wachstum in Europa und letztlich darüber hinaus. Ein Europa, das sich von der Welt abgrenzt, wie im Konzept der „Festung Europa“ gegen Migration, wird hier wenig Unterstützung finden.
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Letztlich aber würde es darum gehen, ganz andere Formen von demokratischer Praxis zu etablieren, die näher an der Logik einer Regierungsform des ständigen Experiments sind: deliberative Demokratie etwa, also offene und langgezogene und bodennahe Debattenprozesse, mehr lokale Verantwortung, Dezentralisierung wesentlicher Entscheidungen, Einsatz von Technologie, um die Demokratie transparenter und schneller zu machen, Abschied vom Repräsentationsprinzip, dadurch eine andere parlamentarische Praxis. Das alles wird schon verstreut diskutiert. Es ist aber wichtig, es unter der Prämisse einer jungen Generation zu tun, die sich nicht der Demokratie entfremdet hat, sondern umgekehrt: die von der Demokratie, wie sie sie kennt, praktisch verraten wurde.
Die Wahlen zum EU-Parlament sind dabei nicht einmal ein erster Schritt, weil sie nur die Logik des Alten reproduzieren. Es braucht, europaweit, Diskussionen, Initiativen, Ideen, wie die Politik ganz konkret anders gedacht und gestaltet werden kann. Nur dann wird Europa eine Realität auch für die Jungen werden.
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