Essay zu Flüchtlingen in Polen: Die unbarmherzigen Vier
Polen will keine Flüchtlinge. Die Hartherzigkeit des katholischen Landes hat auch mit der Homogenität der Bevölkerung nach 1945 zu tun.
Die Rede des Kommissionspräsidenten zur Flüchtlingswelle empörte die polnische Rechte: „Junckers Erpressung“, titelte die nationalkatholische Zeitung Nasz Dziennik auf der ersten Seite. Im Blatt kritisierte Exdiplomat Witold Waszczykowski Junckers Hinweis, dass etwa 20 Millionen Menschen polnischer Abstammung im Ausland lebten. Dieser Vergleich sei unangebracht, weil Juncker „der deutschen Zivilisation angehört“, die jahrhundertelang das ihre dazu beigetragen habe, dass Polen emigrieren mussten.
Sie hätten hart gearbeitet und ihre Ankunftsländer nicht nach ihrem Gusto umkrempeln wollen, während die Muslime Assimilation ablehnten und „Klein-Syrien“ oder „Klein-Libyen“ errichten wollen, „wie es in Frankreich der Fall“ sei. Waszczykowski, der außenpolitischer Experte der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist, will sogar in Fernsehberichten gesehen haben, wie Flüchtlinge Verpflegungspakete ablehnten, weil sie vom Roten Kreuz verteilt wurden.
Die Debatte um den Ansturm der Flüchtlinge in die EU erwischt Polen aus mehreren Gründen auf dem falschen Fuß.
Zum einen sind am 25. Oktober Parlamentswahlen. Die nationalkonservative Opposition befindet sich nach den gewonnenen Präsidentenwahlen vom Mai im Aufwind und verweigert jegliche Zusammenarbeit mit der liberalkonservativen Regierung.
Schlechtes Timing
Die Flüchtlinge sind mittlerweile zum Hauptthema des Wahlkampfes geworden. Beata Szydło, die Spitzenkandidatin von „Recht und Gerechtigkeit“, greift die Argumentation des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf und sagt: „Dies ist ein deutsches Problem.“ In konservativen Kreisen beklagt man, dass Berlin nach eigenem Gutdünken Dinge entscheide, die andere beträfen.
Das Timing der EU ist für die seit acht Jahren regierende „Bürgerplattform“ fatal. Wenige Tage vor den Wahlen wird der EU-Gipfel Aufnahmequoten bekannt geben. Fallen sie für Polen höher aus als erwartet, hat die schwächelnde Regierung ein Problem.
Zum anderen ist Polen infolge des genozidalen Weltkriegs seit 1945 ein ethnisch gezwungenermaßen mehr oder weniger homogenes Land, in dem man sich erst in den 80er Jahren seiner angestammten nationalen Minderheiten wieder bewusst wurde: der jüdischen, ukrainischen, deutschen, weißrussischen und winzigen tatarischen.
Intelligent sein heißt lernen zu können. Das können auch Maschinen. Sie erkennen Emotionen in menschlichen Gesichtern und lernen zu sprechen. Muss uns das Angst machen? Lesen Sie ein Dossier über neuronale Netze und künstliche Intelligenz in der taz.am wochenende vom 12./13. September. Außerdem: Ludwig Minelli leistet in der Schweiz Sterbehilfe. Er findet, der Suizid sollte kein Tabu mehr sein. Im Interview spricht er über seine Arbeit, die vielen Suizide, die misslingen und die Kosten, die daraus folgen. Und: eine Reportage aus dem österreichischen Großraming, einem Dorf, das seine Angst vor Flüchtlingen verloren hat. Und das, obwohl die manchmal ohne Warnweste Fahrrad fahren. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Ankunft von 40.000 Tschetschenen in den nuller Jahren war die erste Begegnung mit muslimischen Asylberechtigten, aber angesichts der gewaltigen Herausforderungen der „Transformation“, also der Umstellung fast aller Bereiche der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit im Lande, wurde sie schnell als marginal empfunden, zumal viele der Einwanderer tatsächlich weiterzogen in Länder mit viel besseren Konditionen.
Nationale Egozentrik
Derzeit ist die Verunsicherung der Polen oft mit der Angst vor Islamisten verbunden. Viele fürchten, dass die Flüchtlingswelle auch eine Einschleusung von Terroristen erleichtert. Auch Jarosław Gowin, bis vor Kurzem Justizminister in der Regierung Tusk, inzwischen aber in die Nähe der Kaczyński-Partei gerückt, warnt vor Attentätern, die sich „in Parks mit polnischen Säuglingen in die Luft sprengen werden“.
Diese nationale Egozentrik ist keineswegs „polnisch“ – man findet sie in der Rhetorik Le Pens in Frankreich, Wilders in den Niederlanden, in der Pegida-Bewegung. Es stimmt aber, dass sie in den früheren „Bruderländern“, inklusive der DDR, stärker zum Vorschein kommt als im Westen und der Altbundesrepublik, wo man die individuelle „Aufarbeitung“ der Vergangenheit betonte und es eingeübte Formen zivilgesellschaftlicher „Einmischung“ gab.
Polen hatte zwar die riesige Solidarność-Bewegung, in der auch liberale, weltoffene und gegenüber nationalem Autismus kritische Tendenzen stark vertreten waren. 25 Jahre danach ist die Gewerkschaft aber zu einer streitbaren Fußtruppe der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zusammengeschrumpft. Unter einer neuen Führung, die personell nichts mit den heroischen 80er Jahren gemein hat, hält sie ihre Hausmacht in den reformbedrohten Kohlegruben und unter den Verlieren der Transformation, die mit der Globalisierung und Öffnung des Landes nicht zurechtkommen.
ist Redakteur des polnischen politischen Wochenmagazins Polityka. Er studierte Germanistik an der Universität Warschau und der Universität Leipzig.
Und dennoch: Die Umfragen zur Aufnahme von Flüchtlingen fallen je nach Fragestellung anders aus. Laut der Zeitung Rzeczpospolita lehnen 61 Prozent der Befragten eine Einquartierung von Flüchtlingen in ihrem Haus ab. Laut der Gazeta Wyborcza bejahen immerhin 53 Prozent ihre Aufnahme im Land. 44.000 Menschen gaben im Netz an, dem Aufruf radikaler Rechter zu einem Protestmarsch am Sonnabend in Warschau folgen zu wollen. Das Rathaus legte aber wegen Volksverhetzung sein Veto ein.
Nicht so sein wie Ungarn
Die katholischen Würdenträger sind gespalten. Während Erzbischof Henryk Hoser vor einer Islamisierung Europas warnte, rief Erzbischof Stanisław Gądecki jede katholische Gemeinde in Polen zur Aufnahme von mindestens einer Flüchtlingsfamilie auf. Journalisten errechneten, dass mit einer solchen „Willkommenskultur“ bis zu 40.000 Menschen betreut werden könnten.
„Lassen wir uns nicht zu den ‚unbarmherzigen Vier’ rechnen“, schreibt in der Gazeta Wyborcza Janina Ochojska und meint die Visegrád-Gruppe: Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen. Ochojska leitet seit den 80er Jahren die Polnische Humanitäre Aktion und wurde 1994 zum europäischen „Menschen des Jahres“ gewählt.
„Als ich mir die Fotos lächelnder Flüchtlinge ansah, die mit Plakaten begrüßt wurden, auf denen ‘Willkommen in München’ stand, dachte ich, dass wir uns an den Deutschen ein Beispiel nehmen sollten, was eine offene Gesellschaft ausmacht, die mit Taten beweist, dass humanitäre Werte in ihrem Leben präsent sind. Doch ich hoffe, dass wir Polen uns als eine solidarische und offene Nation erweisen werden, dass in uns Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Sensibilität für fremdes Leid sind.“
Der Migrationsexperte Maciej Duszczyk beklagt, dass es wegen der gängigen Meinung, Polen sei für Flüchtlinge nicht attraktiv und überhaupt eher ein Auswanderungsland, immer noch keine Ansätze für eine Migrationspolitik gibt. Dies sei aber EU-weit so, es gebe nur ein Ad-hoc-Krisenmanagement. „Das Problem in Calais versuchen britische und französische Minister zu lösen, indem sie Geld von der EU fordern. Das ist nicht gut.“
Humane Werte durchsetzen
„Europa braucht gemeinsame Politiken, auch eine Migrationspolitik, doch jetzt müssen wir unser eigenes Gewissen prüfen“, schreiben Kazimierz Bem, evangelischer Pastor, und Jarosław Makowski, Philosoph und Abgeordneter im schlesischen Landtag, in der Gazeta Wyborcza. Polen müsse sich darauf besinnen, dass es jahrhundertelang ein multiethnisches Land war.
„Wenn unsere Vorfahren sich an den Stuss der radikalen Rechten gehalten hätten, die von einem ,weißen Polen für die Polen‘ krakeelten, gäbe es unter uns keine Fukiers, Norblins, Marconis, Scheiblers, Chopins, Kronenbergs, Lorentz’, Szuchs, Achmatowicz’, Anders’ und viele andere Familien, die sich um Polen verdient gemacht haben.“ Es gehe nicht um blauäugige Willkommenskultur, sondern um die Durchsetzung der christlichen und humanen Werte einer liberalen Demokratie, die allerdings auch die Flüchtlinge respektieren müssten.
Ihren Aufruf überschrieben sie sinnigerweise mit „Die armen Polen schauen auf die Flüchtlinge“ – eine Anspielung auf den bitter-ironischen Titel eines berühmten Essays von Jan Błoński: „Die armen Polen schauen aufs Ghetto“. Er löste eine Debatte aus über die Gleichgültigkeit vieler Menschen angesichts des Holocausts. Nicht die beiden Sachverhalte sind analog, sondern die Heuchelei derjenigen, die sagten, sie glaubten an einen barmherzigen Gott, aber die gleichzeitig bedürftigen Flüchtlingen die Hilfe verweigerten.
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