Einmaliger Feldversuch: Flatrate für den Nahverkehr
Die Länder haben dem 9-Euro-Ticket zugestimmt. In den kommenden drei Monaten dürfte es nun voll werden in Bussen und Bahnen.
„Das Angebot ist an hohe Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger geknüpft und bietet dem ÖPNV eine tolle Chance, sich als attraktives Verkehrsmittel zu präsentieren“, sagte die Vorsitzende der Landesverkehrsministerkonferenz Maike Schaefer (Grüne). Der Bund müsse aber die Mittel für den ÖPNV erhöhen, sonst würde das Projekt zu einem Strohfeuer, mahnte sie.
Zum ersten Mal haben Interessierte die Möglichkeit, mit einer einzigen Fahrkarte für wenig Geld und ohne nervtötende Suche im Tarifdickicht zwischen Flensburg und Berchtesgaden Busse und Bahnen zu nutzen. Das Ticket kostet pro Kalendermonat 9 Euro und kann für den Juni, Juli und August gekauft werden. Es ist bundesweit im Nahverkehr gültig, auch in Regionalzügen. Es gilt aber nicht im Fernverkehr, also nicht im IC, ICE, Fernbus oder den Zügen des Deutsche-Bahn-Konkurrenten Flixtrain. Inhaber von Monats- und Jahreskarten haben ebenfalls etwas von dem Angebot, sie bekommen die Differenz zwischen dem 9-Euro-Ticket und dem jeweiligen Preis für ihr Billett erstattet.
Wie viele Bürger:innen die Flatrate zum Fahren kaufen werden, ist unklar. „Das ist aufgrund fehlender Erfahrungswerte momentan nicht seriös vorherzusagen“, so Lars Wagner vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Es könnten im Extremfall bis zu 30 Millionen pro Monat werden, wenn man die Abonnent:innen mitrechnet, sagt er.
Das 9-Euro-Ticket ist ein einmaliger Feldversuch, der auch international mit Interesse beobachtet wird. Es ist Teil des Entlastungspakets für Bürger:innen, mit dem die Bundesregierung die hohen Energiepreise ausgleichen will. Es soll dazu beitragen, die Fahrgastzahlen hochzutreiben, die noch immer hinter dem Niveau der Zeit vor der Coronakrise zurückbleiben – und Autofahrer:innen zum Umsteigen bewegen.
Der Bund will dabei in Erfahrung bringen, aus welchen Gründen Bürger:innen den ÖPNV nutzen und aus welchen nicht. „Wir werden eine umfangreiche Befragung im Anschluss an die drei Monate durchführen und die Daten auch international zur Verfügung stellen“, kündigte Verkehrsminister Wissing diese Woche zum Auftakt des Weltverkehrsforums in Leipzig an.
Dirk Flege, Allianz pro Schiene
Viele Gründe, lieber Auto zu fahren
Ein Grund dafür, warum Bürger:innen den ÖPNV meiden, ist allerdings auch ohne große Befragung offensichtlich: Es ist zu voll, Busse und Bahnen sind oft unpünktlich, und auf dem Land fahren sie zu selten oder gar nicht. Daran wird auch das 9-Euro-Ticket nichts ändern.
„Während sich die Menschen etwa in Hessen und Nordrhein-Westfalen auf das Sonderangebot freuen dürfen, werden viele in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern in die Röhre gucken“, sagte Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, eines Bündnisses aus Gewerkschaften und NGOs. Zahlreiche Landkreise auf dem Land seien praktisch vom ÖPNV abgehängt, insbesondere in Bayern. „Wer im Bayerischen Wald lebt, profitiert kaum vom 9-Euro-Ticket“, erklärte Flege.
Ein weiteres Problem: Auf attraktiven Strecken etwa zwischen Berlin und der Ostsee dürfte es sehr voll werden. Und im Berufsverkehr sind Busse und Bahnen schon jetzt überfüllt. Der baden-württembergische Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) warnt daher davor, dass das Angebot zum „Eigentor“ wird – denn wenn Gelegenheitsfahrende am Bahnsteig stehen gelassen werden, weil die Züge überfüllt sind, dreht sich der gewünschte Werbeeffekt für den ÖPNV um.
Große Spielräume, um in den kommenden drei Monaten mehr Fahrzeuge einzusetzen, haben die Verkehrsbetriebe nicht. „Es wird alles fahren, was fahren kann“, sagte VDV-Sprecher Wagner. „Aber wir haben keine großen Betriebsreserven, die nur darauf warten, eingesetzt zu werden, weder bei Fahrzeugen noch beim Personal.“ Die Verkehrsunternehmen sind chronisch unterfinanziert, sie haben keine Puffer.
Der Bund hat zwar zugesagt, die Kosten für das 9-Euro-Ticket zu übernehmen – allerdings gilt dies nur für die Einnahmeausfälle in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Die Länder fürchten, auf weiteren Kosten sitzen zu bleiben. Und das ist nicht das einzige Problem der Verkehrsbetriebe: Die ohnehin prekäre finanzielle Lage wird aktuell verschärft durch steigende Kosten für Personal, Energie und Bauprojekte.
Die Landesverkehrsminister:innen fordern deshalb vom Bund mehr Geld, für 2022 wollten sie zusätzliche 1,5 Milliarden Euro. In diesem Zusammenhang hatten sie auch damit gedroht, das Projekt Flatrate im Bundesrat scheitern zu lassen – gegen den enschlossenen Widerstand Wissings: „Er bleibt beinhart, obwohl er bis vor Kurzem selbst noch einer von ihnen war und weiß, dass der ÖPNV unterfinanziert ist“, sagte ein Insider, der nicht genannt werden will. Wissing war von 2016 bis 2021 Verkehrsminister von Rheinland-Pfalz.
In dieser Zeit habe er mit seinen Kolleg:innen gemeinsam mehr Geld vom Bund für den ÖPNV gefordert – jetzt aber stellt er sich quer. Doch das 9-Euro-Ticket kommt. Viele Bürger:innen freuen sich darauf, mancherorts wird es bereits verkauft. „Wir wollen der Bevölkerung das Ticket nicht vorenthalten, deshalb stimmt auch Bayern mit geballter Faust zu“, erklärte CSU-Landesverkehrsminister Bernreiter. Der gesichtswahrende Kompromiss: Dem Bundesratsbeschluss wurde eine Protokollerklärung beigefügt.
Darin lässt der Bund die Bereitschaft erkennen, den Ländern künftig mehr Geld zu geben. Eine genaue Zahl wird allerdings nicht genannt, weshalb die Landesverkehrsminister:innen nach wie vor ungehalten sind. Sie wollen nicht lockerlassen und es bei den Haushaltsverhandlungen für 2023 erneut versuchen. „Wir werden wiederkommen“, kündigte der baden-württembergische Verkehrsminister Hermann an.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Unklar ist, was nach dem Ende des 9-Euro-Tickets im September geschehen wird. „Meine große Sorge ist: Anschließend erhöhen die Verkehrsverbünde die Preise oder dünnen den Verkehr aus“, sagte Hermann. Damit würde der gewünschte Werbeeffekt für den ÖPNV ins Gegenteil umschlagen. Die Linkspartei fordert indes ebenfalls, dass der Bund mehr Geld zur Verfügung stellen soll.
„Die Ampel will 100 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr ausgeben, hat aber keine 1,5 Milliarden Euro für das 9-Euro-Ticket übrig“, kritisierte die Vorsitzende der Linkspartei Janine Wissler. Die Linke will eine Fortführung des Tickets bis mindestens zum Ende des Jahres. „Die Fahrpreise müssen auf dem Weg zu einem Nulltarif dauerhaft drastisch gesenkt und Bus und Bahn massiv ausgebaut werden“, sagte Wissler.
Damit der Nahverkehr auch nach Auslaufen des 9-Euro-Tickets attraktiv bleibt, fordert die Deutsche Umwelthilfe (DUH) die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets, mit dem die Stadt Wien gute Erfahrungen gemacht hat. „Bahn, Bus und Straßenbahn müssen dauerhaft bezahlbar werden“, verlangte DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch.
Nicht alle sind jedoch von dem Feldversuch im Sommer begeistert. Der Bahnkundenverband kritisiert, dass das 9-Euro-Ticket „mit heißer Nadel gestrickt“ und entsprechend schlecht vorbereitet ist. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) ist ebenfalls skeptisch. „Wichtiger wäre, den öffentlichen Verkehr längerfristig günstiger zu machen, die Schnittstellen mit Rad, Fuß und Carsharing zu verbessern und das Angebot im ländlichen Raum deutlich auszubauen“, sagte ADFC-Bundesgeschäftsführerin Ann-Kathrin Schneider.
Für die Radmitnahme gelten auch beim 9-Euro-Ticket die Bedingungen des jeweiligen Verkehrsverbunds, für Räder sind zum Teil separate Tickets erforderlich. „Wir appellieren an Fahrgäste, die Fahrräder mitnehmen wollen, im Zweifel wenn die Bahn zu voll ist, darauf zu verzichten“, so VDV-Sprecher Wagner. „Sonst kann es passieren, dass Bahnen aus Sicherheitsgründen nicht weiterfahren können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf