„Edgy sein“ im Wahlkampf: Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Wer gerade ein neues 1933 heraufziehen sieht, verharmlost den Nationalsozialismus. Demonstrieren gegen rechts ist trotzdem richtig.
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M an wünscht sich fast die Zeit zwischen den Jahren zurück, diese merkwürdigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, in denen kollektiv die Klappe gehalten wird. Der Mund ist voll mit den letzten Lebkuchen oder der Kopf durch zu viel Glühwein so schwer, dass ernsthafte Gedanken kaum noch Platz finden.
Die vergangenen Wochen, den Bundestagswahlkampf, habe ich jedenfalls so erlebt, als hätte jemand das Radio zu laut aufgedreht. Ich kann es nicht herunterdrehen und bin gezwungen, den ganzen Tag zuzuhören, wie sich Politiker, Aktivisten, Moderatoren und Demonstranten durcheinander anschreien. Aufgebracht, wütend, ängstlich, bedrohlich.
Als Tanz am Abgrund wird die kommende Bundestagswahl von allen Seiten verkauft. Die einen sehen sie als letzte Chance, bevor Deutschland in den Faschismus abrutsche, und wähnen sich damit gar als Widerstandskämpfer, die anderen fantasieren von der alleinigen Macht und sehen die Aufgabe ihrer Partei als „historische Mission“ – wie Thüringens AfD-Chef Björn Höcke vor Jahren formulierte.
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Nie war es wichtiger, ein anständiger Bürger zu sein, heißt es, um die Brandmauer nach rechts zu schützen. Manche dieser „Anständigen“, die sich Anfang Februar in vielen deutschen Städten zu Demonstrationen zum „Aufstand der Anständigen“ versammelten, nahmen ihre Bürgerpflicht gleich so ernst, ein CDU-Verbot zu fordern, Büros zu belagern und zu beschädigen oder eine Sicherheitslage zu schaffen, sodass Mitarbeiter der Parteizentrale in Berlin vorzeitig nach Hause geschickt wurden.
Welche Sorge ich teile
Um es mit den Worten des ehemaligen SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert zu sagen, vorgetragen in seiner letzten Rede diese Woche im Bundestag: „Nein, Union und FDP sind keine Faschisten.“ Das macht die von CDU-Chef Friedrich Merz initiierte Aktion, sich mit AfD-Stimmen eine Mehrheit zu verschaffen, nicht weniger dramatisch und gefährlich.
Ich verstehe die Sorge vor einer Zusammenarbeit mit der AfD während einer Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Ich teile diese Sorgen.
Manchmal bin ich ratlos. Oft graut es mir vor der Zukunft. Es ist einfach, in einer Kolumne über andere zu urteilen, während man selbst gemütlich am Schreibtisch sitzt. Deshalb möchte ich eines klarstellen: Es ist lobenswert, gegen einen Rechtsruck auf die Straße zu gehen und vor jeder Normalisierung der AfD zu warnen. Verstehen Sie mich also nicht falsch, mir ist der Ernst der Lage bewusst.
Wenn die AfD eines in diesem Wahlkampf geschafft hat, dann, dass sie die Fähigkeit zur Differenzierung von der politischen Bühne verabschiedet hat.
Emotionalisieren, draufhauen
Um sich von den Rechten abzugrenzen, versuchen auch die demokratischen Parteien, Aktivisten und Zivilgesellschaft hin und wieder „edgy“ zu sein, zu emotionalisieren, draufzuhauen. Was wirklich wichtig ist, gerät dabei aus dem Blick. Differenziertheit in relevanten Themen zum Beispiel.
AfD-Chefin Alice Weidel und Elon Musk fallen mit krassem Geschichtsrevisionismus auf: Weidel deutet Hitler ernsthaft zum Linken und Kommunisten um; Musk fordert implizit den „Schlussstrich“ unter die NS-Aufarbeitung.
Und manche Linke überziehen, behaupten ein neues 1933 und setzen Merz mit den NS-Steigbügelhaltern von Papen und Hindenburg gleich. Auch das verharmlost den Nationalsozialismus. Merz selbst und Noch-Kanzler Olaf Scholz klingen auf der Zielgeraden vor der Wahl immer mehr wie verbitterte Männer, die sich gegenseitig ankeifen.
Wir erleben einen Angriff von rechts außen auf die demokratische Gegenwart: Eine wirkliche Vision, diesen Angriff zu bewältigen, und für eine bessere Zukunft, für das gute Leben zu sorgen, vermisse ich bei allen anderen Parteien. Dabei wäre genau jetzt die Zeit dafür.
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