EU-Haushaltsstreit: Eine populistische Erpressung
Der EU-Haushalt 2021–2027 ist tatsächlich in Gefahr. Die Bürger:innen in Polen und Ungarn müssen erfahren, was ihnen das Rechtsstaatsverfahren bringt.
Veto oder der Tod“ – mit dieser dramatischen Parole tragen Polens Nationalpopulisten ihren Kulturkampf nun auch in die Europäische Union. Anfang dieser Woche legten die miteinander befreundeten Premierminister von Ungarn und Polen, Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki, ihr Veto gegen den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre und gegen das Coronahilfspaket ein. Auf dem Spiel stehen über 1 Billion Euro für alle 27 EU-Mitgliedsländer und noch einmal 750 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten für den Wiederaufbau in der Post-Corona-Zeit. Ohne einen einstimmigen Haushaltsbeschluss kann das Geld nicht fließen. Die Forderung Polens und Ungarns ist so ungeheuerlich, dass die übrigen EU-Mitglieder noch unter Schockstarre stehen, auch und gerade Deutschland, das noch bis Jahresende den EU-Ratsvorsitz innehat und nun eine Lösung finden soll.
Budapest und Warschau fordern nichts Geringeres als das Recht auf den Rechtsbruch in der EU. Mit ihrem Veto wollen sie den gerade erst von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus aushebeln. Das Geld aus Brüssel soll auch dann fließen, wenn der Regierung eines Mitgliedstaates Korruption, Betrug oder Missachtung der europäischen Grundwerte nachgewiesen werden kann. Mit dem Veto riskieren Polen und Ungarn auch die Milliardenzuschüsse, die sie selbst als Nettoempfänger aus dem EU-Haushalt bekommen würden.
Dass es in den Zivilgesellschaften Ungarns und insbesondere Polens zu keinem Aufschrei und keinen Massendemonstrationen kommt, hat mit der nationalpopulistischen Sprache der beiden Premiers zu tun. Im Wechselbad von Nationalstolz und Nationalkränkung fällt es den meisten Polen und Ungarn schwer, die Entscheidungen ihrer Politiker eine rationalen Analyse zu unterziehen. So setzt Orbán die EU, die künftig Demokratie und Rechtsstaat stärker verteidigen will als bisher, mit der längst vergangenen, aber immer noch verhassten Sowjetunion gleich. Die Ungarn, lange Jahre unterdrückt und gedemütigt, befreiten sich im Wendejahr 1989/1990 selbst. Einer erneuten Sowjetisierung, dieses Mal durch die EU, so Orbán, könnten die Ungarn nicht zustimmen.
In Polen wiederum behauptet Jarosław Kaczyński, der Chef der nationalpopulistińschen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und seit Kurzem auch Vizepremier, dass die EU noch schlimmer sei als die Kommunisten. Brüssel wolle den Menschen an der Weichsel Werte aufzwingen, die der Kultur Polens völlig fremd seien.
Zbigniew Ziobro, der Chef des PiS-Juniorpartners Solidarisches Polen, Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person, tischt den Pol:innen dann auch noch eine Verschwörungstheorie auf. Angeblich plane das „deutsche und europäische Establishment“ eine Revolution, um die EU zu einem Großstaat mit der Hauptstadt Brüssel oder vielleicht auch Berlin umzubauen. Ziobro behauptet, dass sich das Haushaltsveto Polens sogar finanziell für die Polen auszählen würde, Der provisorische Haushalt, der bei dem Veto am 1. Januar in Kraft trete, sei nämlich der alte, der für Polen viel günstiger sei als der neue mit seinen Flüchtlingshilfen für die Südländer in der EU.
Auf dem EU-Gipfel am 10. und 11. Dezember soll die Entscheidung über den Haushalt fallen. Dann muss die „Veto oder der Tod“-Parole vom Tisch sein. Gelingen kann das nur, wenn – trotz Corona – möglichst viele EU-Regierungschefs nach Polen und Ungarn kommen, um den Menschen zu erklären, wie der Rechtsstaatsmechanismus funktioniert und dass er ihre ureigenen Rechte schützen wird. Angela Merkel sollte die Vetofrage zur Chefsache machen und nach Warschau und Budapest kommen. Keine Lösung wäre es, den Rechtsstaatsmechanismus um des lieben Friedens willen aufzugeben. Das wäre das Ende der EU.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs