Blockierte EU-Haushaltsverhandlungen: Auch Merkels Fehler
Die EU muss gegenüber Ungarn und Polen klare Kante zeigen. Für die Eskalation ist aber auch die passive Rolle der Kanzlerin im Sommer verantwortlich.
A ch Europa, wie tief bist Du gesunken! Mitten in der schlimmsten Krise seit Gründung der EU blockieren Ungarn und Polen das neue Gemeinschaftsbudget und den Corona-Aufbaufonds. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki nehmen die Union in Geiselhaft, um ihre eigenen, hausgemachten Probleme mit Rechtsstaat und Demokratie zu kaschieren.
Das darf die EU nicht hinnehmen. Schließlich hat sie schon viel zu lange zugesehen, wie Orbán die Opposition knebelt und Morawiecki die Justiz an die Leine legt. Damit muss nun endlich Schluss sein. Brüssel darf es auch nicht länger hinnehmen, dass sich Orbán und seine Familie und andere Regierungschefs mithilfe von EU-Geldern bereichern.
Die EU-Politiker müssen daher hart bleiben – auch wenn dies die Verabschiedung des neuen Gemeinschaftshaushalts und den Start des Corona-Aufbaufonds verzögert. Der Fonds kann ohnehin erst im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres starten; das war schon vor der Budgetkrise abzusehen. Daher kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Es wäre jedoch zu einfach, die Schuld allein bei Orbán und Morawiecki zu suchen. Sie haben ihr Veto gegen das EU-Finanzpaket lange und laut genug angekündigt. Kanzlerin Angela Merkel und der deutsche EU-Vorsitz wussten, was auf sie zukommt – doch sie haben die Drohungen als „Bluff“ abgetan. Das war ein Fehler.
Merkel hat sich aber noch einen weiteren, schweren Patzer geleistet. Beim entscheidenden EU-Gipfel im Juli, bei dem das Finanzpaket ausgehandelt wurde, hat sie den Rechtsstaat hintangestellt. Tagelang wurde um das Geld gefeilscht, erst ganz am Ende ging es um das Recht. Doch der Gipfelbeschluss zum Rechtsstaat war windelweich.
Merkels Appeasement
Auch der Vorschlag des deutschen EU-Vorsitzes, der erst Wochen später kam, bot keinen ausreichenden Schutz. Erst das Europaparlament hat den Rechtsstaatsmechanismus nachgebessert und scharf gestellt. Die Kanzlerin hat sich herausgehalten, so als ginge sie der Streit nichts an.
Das rächt sich nun. Merkel hat nicht Führung gezeigt, sondern Appeasement betrieben. Doch es könnte noch doller kommen. Nun könnte die Kanzlerin auch noch versuchen, den Schwarzen Peter dem Parlament zuzuschieben und zum alten, zahnlosen Vorschlag des deutschen EU-Vorsitzes zurückzukehren – um des lieben Friedens willen.
Das darf nicht geschehen. Merkel muss Farbe bekennen und für den Rechtsstaat kämpfen. Beim EU-Videogipfel am Donnerstag hat sie dazu eine erste gute Gelegenheit. Bei aller berechtigten Wut auf Orbán und Morawiecki: Diese Krise ist auch Merkels Krise. Sie zeigt, was passiert, wenn man ernste Probleme zu lange vor sich herschiebt.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen