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EU-HaushaltsstreitEine populistische Erpressung

Kommentar von Gabriele Lesser

Der EU-Haushalt 2021–2027 ist tatsächlich in Gefahr. Die Bürger:innen in Polen und Ungarn müssen erfahren, was ihnen das Rechtsstaatsverfahren bringt.

Viktor Orban fordert gemeinsam mit Polen nichts Geringeres als das Recht auf Rechtsbruch in der EU Foto: Olivier Matthys/ap

Veto oder der Tod“ – mit dieser dramatischen Parole tragen Polens Nationalpopulisten ihren Kulturkampf nun auch in die Europäische Union. Anfang dieser Woche legten die miteinander befreundeten Premierminister von Ungarn und Polen, Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki, ihr Veto gegen den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre und gegen das Coronahilfspaket ein. Auf dem Spiel stehen über 1 Billion Euro für alle 27 EU-Mitgliedsländer und noch einmal 750 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten für den Wiederaufbau in der Post-Corona-Zeit. Ohne einen einstimmigen Haushaltsbeschluss kann das Geld nicht fließen. Die Forderung Polens und Ungarns ist so ungeheuerlich, dass die übrigen EU-Mitglieder noch unter Schockstarre stehen, auch und gerade Deutschland, das noch bis Jahresende den EU-Ratsvorsitz innehat und nun eine Lösung finden soll.

Budapest und Warschau fordern nichts Geringeres als das Recht auf den Rechtsbruch in der EU. Mit ihrem Veto wollen sie den gerade erst von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus aushebeln. Das Geld aus Brüssel soll auch dann fließen, wenn der Regierung eines Mitgliedstaates Korruption, Betrug oder Missachtung der europäischen Grundwerte nachgewiesen werden kann. Mit dem Veto riskieren Polen und Ungarn auch die Milliardenzuschüsse, die sie selbst als Nettoempfänger aus dem EU-Haushalt bekommen würden.

Dass es in den Zivilgesellschaften Ungarns und insbesondere Polens zu keinem Aufschrei und keinen Massendemonstrationen kommt, hat mit der nationalpopulistischen Sprache der beiden Premiers zu tun. Im Wechselbad von Nationalstolz und Nationalkränkung fällt es den meisten Polen und Ungarn schwer, die Entscheidungen ihrer Politiker eine rationalen Analyse zu unterziehen. So setzt Orbán die EU, die künftig Demokratie und Rechtsstaat stärker verteidigen will als bisher, mit der längst vergangenen, aber immer noch verhassten Sowjetunion gleich. Die Ungarn, lange Jahre unterdrückt und gedemütigt, befreiten sich im Wendejahr 1989/1990 selbst. Einer erneuten Sowjetisierung, dieses Mal durch die EU, so Orbán, könnten die Ungarn nicht zustimmen.

In Polen wiederum behauptet Jarosław Kaczyński, der Chef der nationalpopulistińschen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und seit Kurzem auch Vizepremier, dass die EU noch schlimmer sei als die Kommunisten. Brüssel wolle den Menschen an der Weichsel Werte aufzwingen, die der Kultur Polens völlig fremd seien.

Zbigniew Ziobro, der Chef des PiS-Juniorpartners Solidarisches Polen, Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person, tischt den Pol:innen dann auch noch eine Verschwörungstheorie auf. Angeblich plane das „deutsche und europäische Establishment“ eine Revolution, um die EU zu einem Großstaat mit der Hauptstadt Brüssel oder vielleicht auch Berlin umzubauen. Ziobro behauptet, dass sich das Haushaltsveto Polens sogar finanziell für die Polen auszählen würde, Der provisorische Haushalt, der bei dem Veto am 1. Januar in Kraft trete, sei nämlich der alte, der für Polen viel günstiger sei als der neue mit seinen Flüchtlingshilfen für die Südländer in der EU.

Auf dem EU-Gipfel am 10. und 11. Dezember soll die Entscheidung über den Haushalt fallen. Dann muss die „Veto oder der Tod“-Parole vom Tisch sein. Gelingen kann das nur, wenn – trotz Corona – möglichst viele EU-Regierungschefs nach Polen und Ungarn kommen, um den Menschen zu erklären, wie der Rechtsstaatsmechanismus funktioniert und dass er ihre ureigenen Rechte schützen wird. Angela Merkel sollte die Vetofrage zur Chefsache machen und nach Warschau und Budapest kommen. Keine Lösung wäre es, den Rechtsstaatsmechanismus um des lieben Friedens willen aufzugeben. Das wäre das Ende der EU.

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Auslandskorrespondentin Polen
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25 Kommentare

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  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Budapest und Warschau fordern nichts Geringeres als das Recht auf den Rechtsbruch in der EU.""



    ==



    Genauso wie die Brexiteers in England. Es kann doch nicht darum gehen Rechtsradikalpopulisten in Ungarn, Polen und England gebetsmühlenartig hinterher zu laufen.

    Das das die Bundesregierung und die EU andauernd versuchen - darüber wird lediglich selten berichtet.

    Es sollte darum gehen die Engländer mit einem No-Deal zu beglücken - das ist es doch was sie wollen - und die Kommission, die ansonst auch nicht auf den Kopf gefallen ist, sollte eine Finanzierung der europäischen Staaten in Not über einen befristeten Nothilfeplan an Polen und Ungarn vorbei organisieren - mit Unterstützung des Europaparlamentes.

    Die EU und die Bundesregierung haben noch nicht verstanden das man sich gegen Rechtsradikalpopulisten schützen muß - die wollen Strukturen, rechtsstaatliche Mechanismen und Institutionen zerstören.

    Wird allmählich Zeit aufzuklären was Donald Trump mit dem Brexit zu tun hat und warum die polnischen und ungarischen Machthaber mit glänzenden Augen auf den Trumpismus nach Amerika schauen.

  • Ich bin dankbar für die Prinzipien eines Rechtsstaates, wie z.B. die Unschuldsvermutung, und die Gewährung von Grundrechten. Ich bin sehr besorgt, wie diese Prinzipien im Zusammenleben der Völker immer mehr zur Disposition gestellt werden, wie z.B. in den Fällen Scripal und Nawalny, oder auch Syrien oder Venezuela. Ich bin dankbar für den Föderalismus in D, so dass lokale passgenaue Lösungen von Problemen vor dem Einheitsbrei stehen.

    Die EU ist von ihrem Aufbau eben kein demokratisches Konstrukt, und das gibt Polen und Ungarn das Recht zum Veto. Man hat ja am Fall Griechenland gesehen, dass die EU nichts mit Solidarität zu tun hat.

  • Die EU muss endlich konsequent gegen die despotischen Regierungen Polens und Ungarns vorgehen.



    Es darf nicht sein, dass diese Länder sämtliche Werte der Europäischen Union missachten und trotzdem Unsummen an Geldern erhalten (die dann bei Orban zum Beispiel schnell an befreundete Großunternehmer weitergereicht wird, siehe "ZDFzoom: Betrügen leicht gemacht - Wie EU-Gelder in Osteuropa versickern - Film von Britta Hilpert und Eva Schiller")

  • Bei Rechtsstaatlichkeit hört die Freundschaft der polnischen und ungarischen Machthaber auf. Wenn man mich fragt - es ist überhaupt kein Verlust solche Freunde zu verlieren - im Gegenteil.

    • @Rainer B.:

      Die Frage ist, was man unter "Rechtsstaatlichkeit" versteht.



      Die Definition der EU?



      Diese infrage zu stellen, ist schließlich keine Gotteslästerung.

      • @Gambitus:

        Was man unter Rechtsstaatlichkeit zu verstehen hat, ist doch völlig unstrittig.



        Ein ganz wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit ist die Gewaltenteilung (Legislative; Exekutive; Judikative). In Polen und Ungarn wurde diese in letzter Zeit ganz oder teilweise aufgehoben, weshalb diese Mitgliedsstaaten zu Recht heftig kritisiert werden. Für EU-Mitgliedsstaaten stellt dies nämlich mehr als eine Gotteslästerung dar, denn Rechtsstaatlichkeit ist von Anfang an ein ganz wesentliches Kriterium für die Aufnahme in die EU.

        wirtschaftslexikon...taatlichkeit-46601

        www.bpb.de/nachsch...31/gewaltenteilung

        de.wikipedia.org/wiki/Rechtsstaat

  • New Europe, wie Rumsfeld meinte, als Osteuropa bei der "Koalition der Willigen" die Musterschüler abgab. Dann doch lieber nur das alte. Aber schon damals war die Gier (EU-Imperium, neue Märkte, Billiglöhner) wie üblich in der neoliberalen Glaubensgemeinschaft größer als der Verstand. Die Geringschätzung von Rechtsstaatlichkeit war in Osteuropa schon lange recht verbreitet. Was nicht heißt, dass im Westen alles in Ordnung ist. (NSU, WireCard, CumEx, Staatstrojaner ...)

    Ist jedenfalls für EU-Gremien eine schöne Erfahrung. Zu dumm, dass sie nicht wie bei der Griechenland-"Rettung" einfach so lange abstimmen lassen können, bis das Ergebnis passt und wenn nicht, es einfach ignorieren.

  • Die Diktatoren versuchen in Trumpscher Manier ihre Europartner zu erpressen und ihr Volk mit Fakenews zu steuern, während sie sich (und ihrer Familie) die privaten Taschen füllen. Und das ist möglich, obwohl die EU-Verträge Rechtsstaatlichkeit für Mitglieder festlegen. Es wird immer verrückter.

  • Die Geberländer für das EU-Paket sollten sich zusammentuen und das Paket außerhalb der EU umsetzen. Natürlich ohne dass Polen und Ungarn dann Hilfen bekommen.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    "Als EU-Bürger finde ich es geradezu unerträglich, korrupte und mafiöse Strukturen wie in Slowenien, auf Malta, in Polen und in Ungarn oder sonstwo mit meinen Steuergeldern zu unterstützen."



    Ich hab da so eine Idee:? Wie leitet man die ?werdenker auf dieses Thema.

  • Der "Anspruch" Ungarns und Polens auf "ein Recht zum nicht rechtsstaatlichen Verhalten" ist absolut unerträglich.



    Daß dieses Verhalten durch einen Geburtsfehler der EU, nämlich der Einstimmigkeitsregel für die allermeisten, auch existenziellen Fragen, ermöglicht wird, bedarf kurzfristig einer wirksamen Änderung.



    Eine Trennung der finanziellen Hilfen wäre ein erster Schritt.

  • "Die Forderung Polens und Ungarns ist so ungeheuerlich, dass die übrigen EU-Mitglieder noch unter Schockstarre stehen [...]"

    Na. Das ist hoffentlich ironisch gemeint. Die eher konservativ dominierten Gremien haben sich diese nationalistisch-populistischen Widerlinge in altbewährter Manier herangezüchtet. Wer Sturm sät undsoweiterundsofort.

    • @tomás zerolo:

      Wahlen, in denen Rechtspopulisten gewinnen, als eine Heranzüchtung von außen zu bezeichnen halte ich für eine steile völlig faktenfreie These. Was ich mir allerdings vorstellen kann ist Einflussnahme durch Putins Nerdarmee

  • Mir leuchtet die Inkonsequenz der polnischen Regierung nicht recht ein. Wenn die EU doch schlimmer ist als der Kommunismus, warum dann wieder Jahrzehnte warten und die Schreckensherrschaft erdulden, wenn die Problemlösung doch auf der Hand liegt: Grossbritannien hat's vorgemacht: einfach austreten und aus ist's mit dem EU-Kommunismus.

  • BEVOR überhaupt nur über eine Erweiterung der EU nachgedacht wird, sind die bestehenden Probleme erst einmal endgültig zu lösen. Als EU-Bürger finde ich es geradezu unerträglich, korrupte und mafiöse Strukturen wie in der Slowakei, auf Malta, in Ungarn oder sonstwo mit meinen Steuergeldern zu unterstützen. Wenn diese Herrschaften die roten Linien nicht akzeptieren wollen, können sie sich gern Putin andienen!

    • @Grenzgänger:

      Die Regung kann ich nachvollziehen, aber hätte Deutschland dann nicht bald eine lange Grenze zu einer wieder erstarkenden russischen Großmacht? Wäre das nicht auch ein bisschen "ungemütlich"?

      Wie so häufig in der Diplomatie der Konflikt zwischen "Klare Kante" und "im Gespräch bleiben".

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Rechtsstaatlichkeit sollte eine Selbstverständlichkeit sein.



    Wer sich nicht daran hält, handelt kriminell.



    Es ist ja nicht das erste Mal, dass man einigen osteuropäischen Politikern vorwirft, korrupt bis ins Mark zu sein.



    Orban steht da ganz oben auf der Liste.

    Brauchen wir so einen oder kann der weg?



    Dann kommen die bösen Russen? Mitnichten, denn die wollen auch keine Betrüger in ihrer Staatengemeinschaft.



    Aber diese Karte wird natürlich gespielt. Schon bei der Türkei, die ja kein EU-Mitglied ist, hat man diese Ängste.

    Dabei wäre die Lösung im Prinzip recht einfach. Glaubhaft aufeinander zugehen. Die Beendigung von Nordstream II wäre absolut kontraproduktiv, denn dadurch würde die EU vertragsbrüchig werden - RECHTSSTAATLICHKEIT?



    Wie geht man mit Erpresssung um?

  • Bei solchem haarsträubenden Wahnsinn kann man auch nach ebensolchen haarsträubenden Lösungen suchen wie z.B.:



    (1 - Habe ich gerade eben im tv gehört:) 1. ALLE EU-Staaten treten geschlossen aus der derzeitigen EU aus und gründen sofort eine neue EU, der sie sofort geschlossen wieder beitreten. Dann können Polen und Ungarn ihr eigenes Süppchen kochen und Zuschüsse etc. gewähren, soviel sie wollen - ihr Bier)

    Oder 2:



    Löst die drängenden Corona bedingten Haushaltsprobleme von Italien und Spanien mit Zwischenkrediten zu denselben Konditionen wie die geplanten Zuschüsse, die laufen sollen bis die Auszahlung der geplanten Gelder möglich ist und dann die ausgereichten Zwischenkredite ablösen.

    Dann wäre der Druck weg und für Polen/Ungarn die Luft raus.

    Ach Gottegott, wenn das nur alles so einfach lösbar wäre, geĺlewelle ; )

    • @noevil:

      Noch was zu 1. (Hätte ich beinahe vergessen) Und natürlich bei der Gelegenheit gleich das vermaledeite Einstimmigkeitsprinzip mit entsorgen!)

  • Ein Veto gegen Grundprinzipien ist mit nüchternem Blick betrachtet nichts weiter als eine Austrittserklärung. Es bedarf einfach nur der Courage dieses so zu verstehen und zu Akzeptieren.

    • @Andreas Severidt:

      Ich dachte etwas vorsichtiger an eine Beurlaubung der EU-Mitgliedschaft und Neuprüfung bei Regierungswechsel. Aber bis ein EU-Rauswurf mal in Erwägung gezogen wird muss scheints mehr passieren als ein Brexit

      • @TV:

        Ja, das wäre vernünftig und gradlinig und würde den "Werten" der EU, die ja immer alle beschwören, gerecht werden.



        Aber leider ist es wohl so, dass wirtschaftliche Interessen (und denen folgt die Kommission ja in Wirklichkeit) dem deutlich entgegen stehen. Man verlöre ja wichtige "Märkte".



        Und in letzter Konsequenz sehen das die Menschen in Deutschland ja auch so, sonst gäbe es ja nicht so viel Widerstand gegen eine EU-Verfassung inclusive Stärkung des Parlaments gegenüber der Kommission und den Staats- und Regierungschefs.



        Am Ende ist allen das Hemd näher als die Hose......

        • 8G
          82286 (Profil gelöscht)
          @Life is Life:

          "Am Ende ist allen das Hemd näher als die Hose...". Lässt sich bei der heutigen Mode nicht mehr so verallgemeinern ;-))



          Lasst uns eine Spendenaktion mit dem Ziel einer Plakatierung in allen EU-Staaten mit dem Inhalt: "Alles was in der EU passiert, wurde von Ihrem Ministerpräsident vorgeschlagen/mitbeschlossen, im schlechtesten Fall hingenommen.

  • "Mit ihrem Veto wollen sie den gerade erst von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus aushebeln."

    Dieser Satz ist durch und durch falsch. Der Europäische Rat hat nie diesen Rechtsstaatmechanismus beschlossen. Ungarn und Polen sind Mitglied des Rates und hier gilt das Einstimmigkeitsprinziep. Genau in diesem Gremium haben Polen und Ungarn ihr Veto erhoben.