Diskriminierung von trans Menschen: Das Gegenteil von unsichtbar
Nach dem Outing als trans ist die Karriere an der Schule vorbei. Doch Esther Lau wehrt sich laut. Es wird ein Kampf, der die Lehrer*in verändert.
E s gab diesen Tag, an dem alles stimmte. Das Familienministerium bezahlte eine Fotografin, um Bilder vom Ehepaar Esther und Steffi Lau mit ihren Kindern Marlene und Jacob zu machen. Die Fotos sollten auf Postkarten gedruckt werden, die für Familienvielfalt werben. Die vier fahren an den Rhein; es ist ein Herbsttag mit Blättern im sattesten Gelb. Marlene lacht so breit, dass man ihre Zahnspange sieht.
Die Laus haben die Bilder später auf Leinwände drucken lassen und den Flur ihres Einfamilienhauses damit voll gehängt. Marlene küsst Jacob. Esther umarmt Steffi. Die Labels, die ihnen sonst angeheftet werden, sieht man nicht: trans Person, Ehefrau, Pflegekind, Förderschülerin. Man sieht: eine Familie in Sonntagslaune.
Aber dann sitzt Esther Lau wieder am Schreibtisch und verschickt E-Mails an Bürgerbüros und Behörden, sendet Beschwerden und Einsprüche. Manchmal kopiert Lau das Postkartenmotiv in den Anhang, es trägt das Wappen von Rheinland-Pfalz. Als kleine Erinnerung.
Vor zehn Jahren war Lau in den Augen anderer ein erfolgreicher Lehrer, verantwortlich für den neuen Berufsschulzweig einer Realschule. Heute ist Esther Lau seit vielen Monaten krankgeschrieben und kämpft mit Hilfe von Anwält*innen gegen eine Zwangsversetzung. „Der Gesundheitszustand von Frau Lau wurde initial in der Vergangenheit negativ beeinflusst, nachdem sie sich im Mai 2013 im beruflichen Umfeld outete“, schreibt ein Arzt in einem Gutachten. Der Vorwurf: Berufliche Diskriminierung habe Esther Lau krank gemacht.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wo beginnt Diskriminierung? Und lässt sie sich mit Gesetzen bekämpfen, solange es immer wieder heißt, sie sei nur ein Gefühl?
Für trans Personen hat 2022 gut angefangen. Anfang Januar hat die Weltgesundheitsorganisation Transgeschlechtlichkeit endgültig aus der Liste der Diagnosen gestrichen. Im neuen Bundestag sitzen erstmals zwei geoutete trans Frauen. Die Regierung hat einen Queer-Beauftragten ernannt – ein Novum bundesdeutscher Geschichte. Der Koalitionsvertrag verspricht ein Selbstbestimmungsgesetz und die vollständige Kostenübernahme für geschlechtsangleichende Behandlungen.
Hinter jedem dieser Erfolge stehen Betroffene, die dafür gekämpft haben. Diese Kämpfe spielen nicht nur an den Bundestagsmikrofonen, sondern vor allem im Alltag. In der Arztpraxis. An der Schwimmbadkasse. Oder, wie bei Esther Lau, im Lehrerzimmer.
Esther Lau verortet sich nicht-binär weiblich
Esther Frederique Lau ist 48 Jahre alt und lebt in Höhr-Grenzhausen, einer Kleinstadt in der Nähe des Westerwalds. Den zweiten Namen Frederique spricht man „Frederick“. Lau verortet sich weder als Mann noch als Frau, aber mit weiblicher Tendenz – „nicht-binär weiblich“ ist der Begriff dafür. Deshalb wünscht sich Esther Lau auch, dass man anstelle von „er“ oder „sie“ den Namen benutzt. Esther Lau weiß, dass das für viele neu ist: Den gesetzlichen Personenstand hatte Lau zunächst von „männlich“ auf „weiblich“ ändern lassen, deswegen sprechen selbst Vertraute – auch in diesem Text – noch von „sie“.
Ansonsten wird kein Pronomen verwendet. Dadurch klingen die Sätze vielleicht etwas ungewohnt, sperrig, aber auch interessant. Willkommen im Hause der Familie Lau.
Das Haus ist ein Ort, an dem man morgens schon die Tochter auf dem Flügel üben hört und an dem abends vor dem Essen gebetet wird. An diesem Nachmittag im Herbst 2021 sitzt Esther Lau am Küchentisch, um zu erzählen. Lau wächst mit zwei älteren Brüdern im Harz auf, der Vater ist Pastor, die Mutter Lehrerin. Offen, aber mit einem klaren Rollenverständnis von Mann und Frau, so erinnert es Esther Lau.
Es sind die siebziger Jahre, in denen trans Frauen nach Casablanca reisen müssen, um eine geschlechtsangleichende Operation zu erhalten, und in denen Schweden als eines der ersten Länder überhaupt die Änderung des Geschlechtseintrags möglich macht.
Der Schreibtisch der Mutter steht im Nähzimmer. Schon als Kind probiert Lau dort Frauenkleider an, wenn die Familie nicht zu Hause ist. Mit 14 entdeckt Lau in einer Zeitschrift einen Artikel über eine „Transsexuelle“, wie es damals im Text heißt. „Bis dahin dachte ich, dass ich die einzige Person auf der Welt bin, der es so geht.“ Doch bevor Esther Lau offen trans lebt, vergehen Jahrzehnte. Trotzdem bestimmt die Geschlechtsidentität viele Entscheidungen. Zum Beispiel die, erst mal eine Tischlerausbildung zu machen.
Der Outingprozess verläuft schleichend
„Mir war schon immer klar, dass ich eine handwerkliche Basis haben will, die mich schützt, falls ich in meinem Studienberuf nach dem Outing nicht mehr erfolgreich sein sollte“, sagt Esther Lau. Denn als Tischlerin könne man ebenso gut selbstständig arbeiten, notfalls sogar im Ausland, falls die Diskriminierung zu groß wird, denkt sich Lau nach dem Abitur. Dazu muss man wissen, dass geoutete trans Personen zu dieser Zeit in Deutschland kaum berufliche Perspektiven haben. Karstadt nimmt sie nicht als Verkäufer, Restaurants nicht als Kellnerinnen. So bleibt einigen nur die Prostitution.
Nach der Ausbildung macht Esther Lau ein paar Umwege, entscheidet sich dann für ein Studium in Holztechnik und Religion – auf Lehramt für berufsbildende Schulen. Zur Unizeit lernt Esther Lau dann Steffi über eine Datingseite kennen, bei der Lau sich noch mit dem männlichen Vornamen angemeldet hat. Steffi Lau ist ebenfalls kirchlich aktiv und wird später Berufsschullehrerin. Gemeinsam ziehen sie nach Rheinland-Pfalz.
Esther Laus Outingprozess verläuft schleichend. Steffi Lau geht davon aus, dass sie mit einem Mann verheiratet ist. Aber sie weiß, dass Lau gerne Kleider und Röcke trägt. Sie akzeptiert das, hat aber Angst, dass die Nachbarn etwas mitbekommen. Esther Lau kennt zu dieser Zeit bereits andere trans Menschen und hat gelernt, sich zu schminken. Doch mit dem vollständigen Outing, auch dem beruflichen, will Lau bis zur Lebenszeitverbeamtung warten – zur Sicherheit. „Ich hatte immer die Befürchtung, dass meine Karriere zu Ende ist, wenn ich mich oute“, sagt Esther Lau.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung liegt in dem „Transsexuellengesetz“ von 1981. Es gilt in großen Teilen bis heute. Wenn Esther Lau Anfang der 2000er als Frau hätte unterrichten wollen, hätte es für die Änderung der Personalakte zuvor eine Änderung der Ausweisdokumente gebraucht. Doch um vor dem Gesetz weiblich zu werden, hätte Esther Lau sich sterilisieren lassen müssen. Dann aber hätte es die gemeinsame Tochter nicht gegeben.
Doch Esther Lau hat sich schon immer Kinder gewünscht. Heute gibt es neben Marlene, 13, auch Jakob, 7, der vor vier Jahren als Pflegekind in die Familie kam. „Von mir aus hätte es auch ein ganzer VW-Bus voll Kinder werden können“, sagt Esther Lau.
Der Bundesverband trans* schätzt, dass 1981 bis 2011 etwa 10.000 trans Menschen in Deutschland sterilisiert wurden. Im Koalitionsvertrag verspricht die neue Bundesregierung einen Entschädigungsfonds.
Wer sich mit trans Rechten beschäftigt, merkt schnell, dass sie meist nicht politisch beschlossen, sondern vor Gerichten erstritten werden. 2008 erreicht eine trans Frau vor dem Bundesverfassungsgericht, dass verheiratete trans Menschen für die Änderung ihres Personenstandes nicht mehr zur Scheidung gezwungen werden. Seit 2011 müssen sich trans Menschen laut einer richterlichen Entscheidung nicht mehr die Eierstöcke oder Hoden entfernen lassen, um ihren Geschlechtseintrag anzupassen. Und seit Ende 2018 gibt es dank eines Gerichtsurteils in Deutschland den Geschlechtseintrag „divers“.
Jedoch verläuft der Weg über die Gerichte nicht immer in Richtung Liberalisierung. So stehen trans Menschen, die Eltern werden, selbst bei offiziell geändertem Geschlechteintrag mit dem falschen Geschlecht in den Geburtsurkunden ihrer Kinder. Erst 2017 und 2018 hat der Bundesgerichtshof zwei Klagen gegen diese Praxis abgewiesen, mit dem Argument, Mutter- und Vaterschaft seien nicht austauschbar.
Als die Kolleg*innen Esther Lau noch für einen Mann halten, geht es beruflich aufwärts: Lau wird der Prüfungsvorsitz bei der Tischlerinnung überantwortet, die Mitautorschaft einer Handreichung zum Lehrplan und die Leitung einer Arbeitsgruppe. Ein neuer Posten an der örtlichen Realschule im Jahr 2012 soll der Moment sein, der endlich Klarheit schafft.
In einem Eiscafé weiht Esther Lau den zukünftigen Chef ein. Er, so erzählt es Lau, reagiert verständnisvoll, vertröstet aber: Erstmal ankommen, dann könne man das Outing ja im Jahr darauf angehen. Esther Lau willigt ein. Später wird der Schulleiter bestreiten, dass dieses Gespräch stattgefunden hat.
2013 wird es dringend: Esther Lau ist bereits als trans Aktivist*in politisch aktiv und im Privatleben nur noch Esther. Das Doppelleben mit dem Umziehen in Zugtoiletten auf dem Weg zu Veranstaltungen soll aufhören. Bei einer gemeinsamen Fahrt, so erinnert sich Esther Lau, kündigt Lau dem Schulleiter an, sich vor dem Kollegium zu outen. Aus Laus Sicht ist dieser Moment der Anfang vom Ende der Karriere.
Während Esther Lau all das erzählt, wird es dunkel. Es gibt Abendbrot mit heißem Tee und Aufschnittplatte, danach holen sich die Kinder ihre Gute-Nacht-Küsse in der Küche ab. Spätabends setzt Lau sich noch mal zu den Anwaltsschreiben an den Computer. Denn was nach dem Outing folgte, ist ein Konflikt mit schwieriger Beweislage. Der taz liegen Dutzende Dokumente vor: Mails, offizielle Schreiben, Protokolle, Akten. Es sind die formalen Überbleibsel einer Tragödie, die sich aus vielen kleinen, mürbe machenden Momenten zusammensetzt.
Kämpft Esther Lau noch oder hat sich Esther Lau schon verkämpft? Diese Frage beantworten die Beteiligten ganz unterschiedlich.
Für Esther Lau beginnt mit dem angekündigten Outing ein Lebensabschnitt, in dem es beruflich bergab geht. Innerhalb kürzester Zeit sei Lau mit kurzfristigen, unerfüllbaren Aufgaben überhäuft worden, habe Verantwortung abgeben müssen und schlussendlich den Leitungsposten verloren. „Es war surreal“, erinnert sich Esther Lau. Das Argument sei damals gewesen, dass die fachliche Eignung fehle, weiter auf der Führungsebene zu arbeiten. Die Mobbing-Vorwürfe, die Lau anbringt, werden als haltlos und konstruiert eingestuft.
Ein Schwerbehindertenvertreter, der in den Gesprächen zwischen Esther Lau und dem Schulleiter dabei war, schreibt in einer Stellungnahme, dass „die Transsexualität des Herrn“ damals keine Rolle gespielt habe. Lau zieht wegen des Verlustes der Leitungsstelle vor Gericht – und verliert.
Esther Lau wird beleidigt und bedroht
Der Wechsel an eine Berufsschule soll die Lösung sein. Dort will Esther Lau von Anfang an als Lehrerin auftreten. Am Küchentisch erzählt Lau, dass die Direktorin das gewusst habe. Dennoch sei Lau mit dem männlichen Vornamen vorgestellt worden. Eine Woche später informiert die Schulleiterin das Kollegium per E-Mail, dass Lau als „Frau Esther Lau“ angesprochen werden möchte.
Immer wieder kommt es in den folgenden Jahren vor, dass die Kolleg*innen Esther Laus alten Namen verwenden. Eine ehemalige Schülerin erzählt der taz von einer Lehrerin, die der Klasse vor der ersten Stunde mit Esther Lau sagte, sie wolle sie „vorwarnen“: Die Frau Lau sei bis vor Kurzem noch ein Herr Lau gewesen.
An der neuen Schule bekommt Esther Lau keine eigene Klasse, die Abnahme von Prüfungen ist Lau nicht erlaubt. Das wäre nämlich der Moment, in dem Esther Lau in Kontakt mit Handwerksbetrieben käme. Lau spricht die Ungleichbehandlung mehrfach an.
Einmal habe ein Kollege gesagt, es gebe mehrere Betriebe, die ein Problem mit der Transidentität von Esther Lau hätten. So steht es in einem Protokoll, das Lau selbst verfasst hat. In einer anderen Sitzung hätten sich Kollegen darüber beschwert, dass sie von den Schüler*innen auf Laus Trans-Sein angesprochen wurden und sich nun genötigt sähen, das Thema im Unterricht zu behandeln. Außerdem hätten die Kollegen nicht gewollt, dass Esther Lau öffentlich darüber spreche, sagt Lau. Esther Lau hatte Fernseh- und Radiointerviews gegeben.
Einmal hätten Schüler gefragt, was Esther Lau zwischen den Beinen habe. Einer habe gedroht, Lau dürfe ihm nachts nicht auf der Straße begegnen, sonst sehe sie die Blumen von unten, sagt Lau. Als der Schüler vor der Schulleiterin alles abstreitet, sei das Verfahren beigelegt worden. Esther Lau reicht Beschwerde ein, der Konflikt verhärtet sich. Lau wird krankgeschrieben. Diagnose: Depression bei „beruflicher Konfliktsituation“.
Schlussendlich soll Lau die Schule verlassen, beschließen Schulleitung und Schulaufsicht.
Ehemalige Schüler*innen sehen Lau als engagierte Lehrkraft. Dass es Konflikte im Kollegium gab, haben sie nicht mitbekommen, sagen sie. Aber natürlich sei über Laus Trans-Sein viel getuschelt worden, das erzählen sie auch.
Von den alten Kolleg*innen will sich offiziell niemand äußern. Als Beamte sind sie verpflichtet, auf ihre Vorgesetzten zu verweisen. Aber auch in den Hintergrundgesprächen sind sie vorsichtig. Die Auseinandersetzungen mit Lau seien extrem belastend gewesen. Lau sei keine einfache Person, die Konflikte festgefahren. Wie sie gelöst werden könnten, kann sich niemand vorstellen.
Die Schulaufsichtsbehörde darf sich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zu Laus Fall äußern. Aber Präsident Thomas Linnertz erklärt sich zu einem allgemeinen Gespräch bereit. Im Videocall sagt er: „Wir haben im Schulbereich öfters mit Transgeschlechtlichkeit zu tun. Da gab es noch nie Beschwerden.“ Bei Konflikten moderiere man. Aber manchmal müsse man auch Entscheidungen treffen, um den Schulfrieden zu wahren. „Wenn Konflikte zu festgefahren sind, müssen wir eine Person auch mal versetzen.“
Vier Gerichtsverfahren und drei Anwält*innen
Irgendwann befindet sich Lau in vier Gerichtsverfahren mit der Schulaufsicht – mit drei verschiedenen Anwält*innen. Lau wirft der Behörde vor, bei den Diskriminierungsvorwürfen immer auf der Seite der Schulleitung gewesen zu sein. Und Lau zum Problem zu machen, das wegmüsse – statt zu versuchen, die Umstände vor Ort zu verändern.
Lau stellt Bedingungen für die Wiedereingliederung: Ein begleiteter Prozess, in dem gegebenenfalls auch das Kollegium sensibilisiert wird.
Esther Lau nervt.
Esther Lau ist sperrig.
Esther Lau ist anstrengend.
Esther Lau fordert immer.
Esther Lau hört nicht auf.
Esther Lau hört immer noch nicht auf.
„Die Schule versteht meine Fragestellung nicht“, sagt Lau. „Das Einzige, was die sehen, ist: Da ist die Frau Lau, und die will immer irgendwas. Dass das aber immer der gleiche Punkt ist, das sehen die nicht. Ich will einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz.“
Wäre der Weg dahin einfacher, wenn Esther Lau einfach still wäre? Wenn Lau aufhören würde, Bedingungen zu stellen und Klagen einzureichen? Wenn Lau einfach wieder an irgendeine neue Schule ginge?
Vorbild für andere
Marie Bernburg ist 29 Jahre alt und Lehrerin in Rheinland-Pfalz. Auch sie ist trans. Aber sie geht damit anders um als Esther Lau.
Die beiden kennen sich: Esther Lau ist vor vier Jahren die erste trans Person, die Bernburg trifft. Von dem Begriff Transgender hat sie bis dahin nie gehört. Sie weiß nur: In ihrer Rolle als Mann fühlte sie sich nicht wohl. Bernburgs Partnerin war eine Schülerin von Lau. Sie erinnert sich an die trans Lehrerin, Bernburg schreibt Lau an, und Lau besucht sie. „Sie hat mir zugehört“, sagt Marie Bernburg im Zoom-Gespräch. Durch Lau ermutigt, beginnt Bernburg Hormone zu nehmen, ändert ihren Namen, ihren Personenstand. Anders als Lau verortet sie sich ausschließlich weiblich.
Bernburg kommt aus einer Lehrerfamilie, ihr Vater bildet sogar Lehrer*innen aus. Als er von ihrer Transition erfährt, habe er gesagt, dass sie als trans Person das Referendariat nie schaffen werde, erinnert sie sich. Sie versucht es dennoch. Zu Beginn weiht sie den Schuldirektor ein, sonst thematisiert sie ihr Trans-Sein nicht. Ein, zwei Mal wird sie von Schüler:innen mit „Herr Bernburg“ angesprochen, ein Kollege fragt, ob sie früher ein Mann gewesen sei. Es sind kleine Begebenheiten in einer ansonsten geradlinig verlaufenden Ausbildung.
Jetzt, dreieinhalb Jahre später, ist Marie Bernburg dort angekommen, wo sie immer hinwollte. Die Hormone haben ihre Gesichtszüge weicher gemacht, die Haare sind lang, die Stimme trainiert. Sie ist unsichtbar als trans Person geworden, aber sichtbar als Frau. „Ich habe großes Glück“, sagt sie. „Eine trans Frau, die zwei Meter groß ist, ein breites Kreuz hat und eine ganz tiefe Stimme, die wird es unglaublich schwer haben, als Frau gesehen zu werden.“
Seit September hat Bernburg ihre erste feste Stelle als Lehrerin. Um nicht erkannt zu werden, trägt sie in diesem Text einen anderen Namen.
Diskriminierung am Arbeitsplatz
Verlässliche Zahlen dazu, wie viele trans Personen als Lehrkräfte arbeiten und wie sie ihren Berufsalltag erleben, gibt es kaum. Aber der Weg in die Unsichtbarkeit ist heute noch der, den viele trans Menschen am Arbeitsplatz gehen.
In der Studie „Out im Office?!“ von 2017 geben die Hälfte der trans Befragten an, dass sie es häufig als notwendig empfinden, ihre Geschlechtsidentität bei der Arbeit zu verschweigen. 43 Prozent stimmen dem Satz zu: „Ich kenne Situationen am Arbeitsplatz, in denen ich Angst erlebt habe, als trans* erkannt zu werden.“ Den Wissenschaftler*innen zufolge ist es erwiesen, dass sie schlechtere Karrierechancen haben. Allerdings: 76,5 Prozent der Befragten sagen auch, dass sie im Vergleich zu vor zehn Jahren offener mit ihrer Geschlechtsidentität umgehen können.
Esther Lau will Trans-Sein aus der Tabuzone holen, gründet einen Verein, ist mehrere Jahre im Vorstand landes- und bundesweiter queerer Vereine und schult Lehrer*innen in offiziellen Seminaren. Lau berät den trans Jugendlichen, dem die Hormoneinnahme verboten wird, genauso wie den Lehrer, der nicht sicher ist, welchen Namen er auf das Zeugnis eines trans Kindes schreiben soll. Und Esther Lau tritt 2018 den Grünen bei. Den neuen Queer-Beauftragten Sven Lehmann kennt Lau aus der Bundesarbeitsgemeinschaft zu queeren Themen.
Anfang Dezember schaltet Esther Lau wieder für ein Treffen die Laptop-Kamera an. Hinter Lau sind Laternen aufgereiht, die die Kinder gebastelt haben, eine Schaukel hängt von einem Holzbalken an der Decke. Am Abend davor hatte es eine Onlinesitzung zum Koalitionsvertrag „mit Annalena“ gegeben, sagt Esther Lau, bei der man Fragen stellen konnte.
Wenn die versprochene Verbesserung der trans Rechte schon bei Esther Laus Geburt Gesetz gewesen wäre – hätte das etwas geändert?
Lau legt kurz die Handfläche ans Herz und atmet laut aus. Puh. „Das hätte mein ganzes Leben anders verlaufen lassen. Echt alles.“ Lau schüttelt leicht den Kopf, wie jemand, der etwas nicht glauben kann. „Ich hätte spätestens mit 18 ohne meine Eltern entscheiden können, den Geschlechtseintrag zu ändern, und gleich in meinem gefühlten Geschlecht meine ganze Ausbildung machen können.“ Die ganzen negativen Erlebnisse in der Schule wären nie passiert, glaubt Esther Lau. „Das hätte uns viel Leid erspart.“
Gibt es denn auch etwas, das am Koalitionsvertrag schlecht ist?
„Das Tempolimit steht nicht drin. Und der Kohleausstieg kommt viel zu spät“, sagt Lau. Esther Frederique Lau ist nicht nur trans Person. Von nun an soll alles andere im Leben wieder mehr Raum bekommen.
Esther Lau will wieder arbeiten. Mit Ärzt*innen und dem Institut für Lehrergesundheit hat Lau schon vor ein paar Jahren erarbeitet, wie der Wiedereinstieg an der Schule gelingen könnte. Aus ärztlicher Sicht sei es nötig, schreibt die behandelnde Ärztin, „dass alle Beteiligten ein klärendes Gespräch führen und soweit möglich Missverständnisse ausräumen, Vorurteile abbauen und Spannungen auflösen“. Doch das klärende Gespräch gelingt damals nicht. Es gebe kein Vertrauensverhältnis mehr, sagt die Schulleiterin bei einem Gespräch mit Esther Lau und der Schulbehörde im Dezember 2018. So steht es in einem Protokoll. Lau solle an eine andere Schule wechseln. Das bekräftigt die Schulleiterin drei Monate später noch einmal in einer E-Mail. Esther Lau bleibt krankgeschrieben, nimmt schließlich ein Sabbatical.
Esther Lau legt Widerspruch ein
Im Januar 2021 kommt ein Dokument an: „Im Namen des Landes Rheinland-Pfalz“, steht unter dem offiziellen Landeswappen, „versetze ich Frau Studienrätin Esther Lau mit dem Ende des Monats Januar 2021 in den Ruhestand“. Wegen der langen Krankheit sollte Esther Laus Dienstfähigkeit untersucht werden. Weil sie zunächst nicht eingewilligt hatte, wird sie gegen ihren Willen in Pension geschickt. Lau legt Widerspruch ein. Ein neues Gutachten bescheinigt: Esther Lau gehört nicht in den Ruhestand.
Joachim Schulte hat 40 Jahre Erfahrung im Ringen um Gleichberechtigung. „Dass dieser Konflikt so hartnäckig wird“, sagt er, „hätte ich im Leben nicht erwartet.“ Schulte ist Lehrer und ein Vertrauter von Esther Lau. Er war Ende der Siebziger Mitorganisator von einem der ersten CSDs und ist heute Sprecher eines Dachverbands queerer Gruppen in Rheinland-Pfalz. Er berät Lau seit dem Coming-out.
Hat Esther Lau auch einen Anteil an der Verhärtung?
„Esther findet manchmal Formulierungen, die Menschen nicht gerade glücklich machen. In der Sache sind sie nicht falsch, aber sie schreibt so, dass Leute sagen: Da habe ich keine Lust drauf.“
Ist eine Kritik nur berechtigt, wenn sie freundlich formuliert ist? Immer mehr Betroffene von Diskriminierung verkünden das Ende der Höflichkeit. Sie hätten das Recht, wütend zu sein, sagen sie. Welche Rechte jemand hat, entscheidet sich an der Frage, wie nett dieser Mensch ist.
Vertrauter hält Behördenvorgehen für falsch
Schulte ist ein diplomatischer Redner. Er setzt auf Gespräche und sagt, er glaube nicht daran, dass sich Probleme wie die von Esther Lau auf dem Klageweg lösen. Aber er hält das Vorgehen der Behörden für falsch: „Sie handeln nach dem Motto: Wenn da ein Problem ist und das Problem sitzt ein bisschen tiefer, dann muss die Person woandershin.“ Das sei zwar verständlich, weil Organisationen funktionieren müssten. „Diese Position verkennt aber, dass wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben, wo es zur Selbstverständlichkeit gehört, dass auch queere Personen sichtbar sind.“
Schulte hat enge Verbindungen in die Politik, unter anderem seine Arbeit hat dazu geführt, dass sich die Landesregierung in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, ein Landesantidiskriminierungsgesetz nach Berliner Vorbild auf den Weg zu bringen.
Im Grundgesetz steht es ganz vorn, Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Und es steht darin: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes (…) benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Eigentlich ist damit alles Wesentliche gesagt. Eigentlich aber auch nichts.
Denn was genau das ist, Benachteiligung, wo sie anfängt, wie sie bewiesen und bekämpft werden kann, das steht dort nicht. Deshalb ringen seit vielen Jahren Gerichte und Parlamente auf der ganzen Welt darum. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, war bislang einer der größten Versuche in Deutschland, den Artikel aus dem Grundgesetz juristisch festerzuzurren. Die Idee war: Wer sich diskriminiert fühlt, wer benachteiligt wird, soll sich wehren können.
Angst vor Klagewelle
Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder hatte lange an einem solchen Gesetz gefeilt. Vor allem Politiker von Union und FDP sowie Vertreter der Wirtschaft lehnten es vehement ab. Sie fürchteten, es würde zu einer unberechtigten Klagewelle kommen. In Kraft trat das Gesetz 2006 unter Merkel.
Zu der befürchteten Klagewelle kam es nicht. Im Gegenteil: Nur selten landen Diskriminierungsfälle nach dem AGG tatsächlich vor Gericht. Das liegt auch daran, dass Diskriminierung so schwer zu fassen ist. Denn sie besteht meist nicht darin, dass der Chef zu seiner Schwarzen Angestellten sagt: Du bekommst den Job nicht, weil du Schwarz bist. Viel öfter besteht Diskriminierung darin, dass die Schwarze Frau auch bei der fünften Beförderung wieder übergangen wird. Doch wenn keine offensichtlich rassistischen oder sexistischen Sprüche gefallen sind, weigern sich Gerichte häufig, eine direkte Diskriminierung zu erkennen.
Esther Lau wird von der Rechtsanwältin Maryam Haschemi Yekani vertreten, die sich auf Antidiskriminierungsverfahren spezialisiert hat. Sie hat vor Gericht auch dafür gestritten, dass Lehrerinnen in Berliner Schulen ein Kopftuch tragen dürfen. Lau will Schadensersatz und Schmerzensgeld von der Schulaufsicht in Rheinland-Pfalz erstreiten.
Steffi Lau, Esthers Laus Ehefrau, hat Tage, da kann sie nicht über ihre Situation und Esthers Laus Kämpfe sprechen. Weil alles zu viel ist, weil seit dem letzten Jahr auch ihre Tochter Teil des Konflikts geworden ist.
An diesem Tag geht es, das Gespräch findet per Telefon statt. Es ist kurz vor Weihnachten 2021, Steffi Lau hat sich eben mit den Kindern den Familienkalender angeschaut, den sie jedes Jahr drucken, um ihn zu verschenken. Jacob, wie er aus dem Iglu schaut. Marlene auf einer Blumenwiese. Gute Momente, trotz allem.
Marlene hat eine Dyskalkulie, der Umgang mit Zahlen fällt ihr schwer. Sie besucht eine Förderschule, aber die Laus wollen, dass ihre Tochter auf eine andere Schule geht, eine integrative, an der Kinder mit und ohne Förderbedarf zusammen lernen. Bei der Schulbehörde beantragen sie, dass Marlene die Schule wechseln darf. Allerdings ist die Wunschschule dieselbe, bei der es für Esther Lau nach ihrem angekündigten Outing nicht weiterging. Der Schulleiter von damals arbeitet auch heute noch dort. Ihrer Tochter zuliebe wollen sie sie dennoch dort anmelden. Doch die Schulbehörde lehnt ab.
„Der Schulaufsicht gegenüber sind von Ihnen Vorbehalte gegenüber dem Schulleiter der Realschule plus in Höhr-Grenzhausen geäußert worden“, schreibt die Behörde in einem Brief. „In Kenntnis dessen kommt auch aus Sicht der Schulbehörde diese Schule nicht in Betracht.“
Darf ein Konflikt zwischen einem Elternteil und einer Schule der Tochter den Schulort verwehren? Es gehen noch einige Briefe und E-Mails zwischen den Laus und der Schulbehörde hin und her. Bei der Bitte um ein klärendes Gespräch werden sie hingehalten. Ende des Jahres entscheiden die Laus: Marlene soll auf diese Schule gehen – und solange das nicht klappt, bleibt sie zu Hause. Esther Lau unterrichtet Marlene allein, die Laus reichen Klage ein.
Bevor das Gericht entscheidet, kommt es doch zu einem Treffen zwischen den Laus, der Schulbehörde und dem Schulleiter. Das eskaliert. Wieder, so erzählt es Esther Lau, habe der Schulleiter gesagt, dass der alte Konflikt im Raum hänge. Eine Lösung für die Tochter gibt es auch nach knapp zwei Stunden Gespräch nicht. Die Schulbehörde schreibt schließlich ans Gericht: „Selbst wenn grundsätzlich für die Zusammenarbeit in der Schule das Kind – die Antragstellerin – im Mittelpunkt zu stehen hat, sind dennoch alle am Schulleben Beteiligten auch auf eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den Eltern angewiesen.“
Wieder geht es um den Schulfrieden. Das ist ein Wort, das in dem Zusammenhang mit Esther Lau öfter fällt. „Man will sich nicht auseinandersetzen, man will seine Ruhe haben“, sagt Steffi Lau. Sie und Esther Lau haben sich auch gestritten in diesem Winter. „Manchmal wünsche ich mir, dass sie einfach mal bestimmte Sachen hinnimmt“, sagt Steffi Lau. „Es kann doch nicht die einzige Möglichkeit sein, immer weiter mit Rechtsanwälten zu kämpfen.“
Esther Lau würde gerne wieder an eine Schule. Mit einem Plan, wie das Kollegium sensibilisiert werden kann. Oder einfach weg: an einer Hochschule unterrichten oder in einem anderen Bundesland. Steffi und Esther Lau haben sich wegbeworben, nach Niedersachsen. Das Trans-Sein und die schlechten Erfahrungen stehen als Versetzungsgrund im Antrag. Das mag krawallig wirken, aber Esther Lau ist Offenheit lieber. Erste Vorstellungsgespräche hatten sie schon. Ein wenig fühlt es sich an, als hätten die anderen gewonnen. Aber beim Gedanken, irgendwo nochmal neu anzufangen, ist plötzlich auch viel Schwere weg, sagt Steffi Lau.
Es zieht sie fort. Esther Lau hat einen Lkw-Führerschein, Steffi Lau macht ihn gerade. In der Garage liegen große Metallteile. Sie gehören zum Gestell eines Lkws, Esther Lau hat sie entrostet. Auf die Ladefläche des Lkw soll der alte Container, der auf dem Nachbargrundstück steht. Mit Küche, Betten, Dusche, Klo. Damit wollen sie nach Singapur fahren. Die ganze Familie in einem Kokon aus Stahl. Aber der Lkw ist noch nicht fertig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich