Digitalisierung in Schulen: Ort für Wissensvermittlung
Durchdigitalisierte Schulen sind keine Lösung im Klassenkampf. Öffentliche Schulen sind Begegnungsort für Kinder unterschiedlicher Milieus.
D ie Hängematte ist nass vom Regen, Urlaubsbücher ausgelesen, die Kinder haben sich verkrümelt – Langeweile schleicht sich ein. Doch da liegt noch die taz vom letzten Mittwoch mit Ilija Trojanows Plädoyer für utopischen Realismus.
Richten wir unseren Möglichkeitssinn auf die Kluft zwischen der Entschlossenheit, mit der die Schulbehörden zum „uneingeschränkten Regelbetrieb“, also zum pädagogischen Viereck aus Lehrplan, Klassenraum, Jahrgangsstufen, Präsenzunterricht und Benotung zurückkehren wollen, und dem Chor der Realisten, die über Auffangpakete, Nachholcamps, Lüftung und Schichtunterricht reden. Vor allem aber über eines: beschleunigte Digitalisierung. Niemand bestreitet den Nutzen von Tablets und Lernsoftware.
Reaktionär wird das nur, wenn derlei Werkzeuge zur Wunderwaffe werden. Der Lehrermangel, so dekretieren es CDU-Modernisierer in ihrem Manifest „Neustaat“, werde so chronisch wie Corona bleiben. Die rettende Konsequenz daraus sei deshalb die durchdigitalisierte Schule. Nicht als Notlösung, sondern als Demokratisierung von Bildungswegen, die bislang nur den Kindern einer „ehrgeizigen Oberschicht […] aus dem Bildungsbürgertum“, die „überdurchschnittlich solvent und bildungsnah“ ist, offenstehe.
Also den Kindern der Grünen. Die technopopulistische, antibürgerliche Rhetorik – „Humboldt für alle“ – ist nicht neu. Seit sechs Jahren propagiert Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, die Digitalisierung als Klassenkampf gegen das Bildungsbürgertum. Der Vorsprung der Kinder aus Familien mit Bücherschränken und Sprachurlaub werde durch Lernsoftware schrumpfen.
Heuer entwickelt Dr. Dräger gar die Vision einer durchdigitalisierten Bildungs- und Lebenskarriere, vom Kindergarten mit seinen lösungskompetenzfördernden Lernprogrammen über die Universität, an der Algorithmen orientierungslosen Studienanfängern ein Studienfach vorschlagen, das zu ihnen passt, bis hin zu Computerspiel-Scores, die über die berufliche Platzierung entscheiden.
2082 in Rente
„Amazon und Netflix machen es uns vor“, strahlt da der Moderator, „die wissen schon, was wir wollen, bevor wir es wissen, das müsste doch auch in der Bildung möglich sein.“ Noch lässt sich die Glaubensbereitschaft für solche Youtube-Chinoiserien an der Zahl der Seitenaufrufe messen: es sind ganze 17. Aber wo wäre eine Gegenutopie?
lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).
„Wenn die Schule einen Sinn haben soll“, schrieb einst Neil Postman, der Soziologe der Kindheit und der Medien, „dann müssen die Schüler, ihre Eltern und ihre Lehrer einen Gott haben, dem sie dienen können.“ Gott?? „Gott“ ist für Postman gleichbedeutend mit einer „großer Erzählung“, die „genug Kraft hat, die es Menschen ermöglicht, diese Erzählung in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen“.
Die Schule sei mit Sicherheit auf dem Weg an ihr Ende, wenn sie keinen Grund fürs Lernen, fürs Zusammensein an einem Ort mehr angeben kann. Dabei gibt es diesen Grund. Wer in diesem Jahr eingeschult wird, der geht, nach jetziger Rechnung, 2082 in Rente. Er oder sie werden erleben, ob es gelingt oder nicht, den Kohlenstoffausstoß der Menschheit so zu senken, dass die Polkappen nicht weiter schmelzen als schon abzusehen ist.
Er oder sie wird Migrationsschübe, Hitzewellen, die Vollautomatisierung erleben, ein paar Pandemien und Dinge, von denen wir jetzt noch nichts ahnen. Wie müsste eine Schule aussehen, die hilft, diese Zeit zu bestehen? Mit Sicherheit reicht da nicht das Wahlpflichtfach „Nachhaltigkeit“ mit zwei Wochenstunden.
Neue Epoche
So wie in der Doppelrevolution von Industrie und Demokratie ein Schulsystem neu entstand, das die Explosion des Wissens und die Expansion des Kapitalismus möglich machte, brauchten wir heute wieder ein neues System, das uns mit dem Wissen und den Werten für eine Epoche ausstattet, die auf kluger Kontraktion und einer Neuverteilung der Welt ruhen wird. Angesichts solcher Zukunftsaussichten muss die Schule vor allem zu dem Ort werden, an dem es um mehr als Wissen geht.
Um Fragen wie: Wo wir hinwollen – und wie wir da hinkommen. Wer wir sind im kosmischen Ganzen. Ein Ort – so der aberwitzig vernünftige Vorschlag von Neil Postman – an dem Archäologie, Anthropologie, Astronomie eine Rolle spielen sollten. Und das hätte Humboldt sicher gefallen. Die Herausforderungen von Klimawandel, Automation und Emanzipation des Globalen Südens kann nur die Gesellschaft als Ganze bewältigen. Dafür braucht es die Aufrüstung der öffentlichen Schule.
Nachdem die Wehrpflicht abgeschafft ist und das Internet kein Marktplatz, sondern ein Nebeneinander von Blasenwelten ist, die einander ignorieren oder unbelehrt bekämpfen, ist die öffentliche Schule der einzige Ort einer klassischen Öffentlichkeit, an dem sich zumindest die Kinder aus verschiedenen Milieus, mit verschiedenen Begabungen noch begegnen, wenn auch durch Wohnviertel vorsortiert.
Mit der weiteren Schwächung der öffentlichen Schule, ob nun durch Privatschulen oder durch eine technokratische Digitalisierung, geben wir noch mehr von diesem „Ding namens Gesellschaft“ auf, und damit von der Möglichkeit zur Demokratie. Trojanow hat letzte Woche für machbare Utopien plädiert. Hier ist eine: Natürlich rüsten wir die Schulen digital aus. Das passiert sowieso. Aber vor allem verdoppeln wir innerhalb von 10 Jahren die Zahl gebildeter und begeisternder Lehrer an allen Schulen, und das heißt:
Wir halbieren die Gruppen, geben so der Bildung und den sozialen Erfahrungen analogen Raum und Zeit – ebenso viel wie dem Wissenskanon. Die Kosten wären nicht unerheblich; mein Taschenrechner sagt: rund 50 Milliarden im Jahr. Nun, eine 1-Prozent-Steuer auf alle Vermögen brächte 70 Milliarden oder mehr. Es wäre eine gute Investition in ein Land, das sich dann mit einigem Recht eine Wissensgesellschaft nennen könnte. Aber will das jemand?
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