Die rechte Welle brechen: Einfallstor zur Tyrannei
Das allgemeine Unsicherheitsgefühl ist ein gefundenes Fressen für Populisten und Demagogen. Der Staat ist gefordert, Schutz zu bieten.
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J üngst begegnete ich einem Freund und Mitstreiter, der vor wenigen Jahren Spitzenfunktionen in einer kämpferischen Linksregierung in Südeuropa bekleidete. Wir plauderten über die Misslichkeiten in diesen und jenen Nationen, und dann sagte er einen Satz, der mir sehr zu denken gab. „Wir müssen versuchen, die rechte Welle wenigstens zu bremsen. Stoppen können wir sie nicht, aber bremsen wäre gut.“
Es gab mir deshalb sehr zu denken, da er – und ich – es vor einigen Jahren als eine Schwäche der europäischen Linken charakterisiert hätten, dass man dauernd nur „das Schlimmste verhindern“ wolle. Von der Art: „Wählt uns, damit es langsamer schlechter wird …“. Wir hätten also genau dieses Mindset dafür verantwortlich gemacht, dass die extremistischen Rechten leichtes Spiel haben.
Ich stellte aber fest, dass ich seine deprimierende Botschaft nicht intuitiv ablehnte, sondern dass sie mich ins Grübeln brachte. Was, wenn er recht hat? Wenn wir in einem dystopischen Moment leben, in dem schon einiges gewonnen ist, wenn wir die Machtübernahmen autoritärer Rechter verhindern, Pluralismus und Demokratie intakt halten, bis irgendwann wieder hellere Zeiten kommen? Dutzende Gründe existieren, die den Aufschwung der ethnonationalistischen, rechtsextremen Kräfte erklären.
Es gibt in allen unseren Gesellschaften einen kleinen, autoritären, faschistischen Kern; rund um diesen wächst eine Anhängerschaft, die nicht in allen Fragen vollständig ideologisiert ist. Bei manchen ist es Frustration, bei vielen auch eine zunehmend verhärtete Form von Wut und Zorn. Treiber ist unter anderem das Grundgefühl, nicht mehr vertreten zu sein, keine Fürsprecher zu haben.
Leichtes Spiel für Populisten
Ein Empfinden der Abgehängtheit und des schutzlos Ausgesetztseins, das es Populisten und Demagogen leicht macht, zu sagen: „Ich bin eure Stimme.“ Die zielgerichtete Wutbewirtschaftung verhetzender Medien und neuer Wahn- und Pseudomedien, die de facto professionelle Angsterzeugungsmaschinen sind, darf auch nicht unterschätzt werden.
Eigentliche Pathologie unserer Zeit ist aber die radikale, verallgemeinerte Unsicherheit. Und, was damit verbunden, aber auch nicht völlig identisch ist: das Gefühl radikaler Unsicherheit. „Unsicherheit und Angst“, schreibt Martin Wolf, Chefkommentator der britischen Financial Times, seien „Einfallstore zur Tyrannei“.
In Demokratien werden die Bürger und Bürgerinnen ein Mindestmaß an ökonomischer Sicherheit fordern, und wenn die politischen und ökonomischen Funktionseliten diese nicht garantieren können, dann gerät die Demokratie selbst in Gefahr, so Wolf. Kommen zum unmittelbaren Empfinden noch düstere Zukunftserwartungen hinzu, dann sind wir ziemlich genau in unseren Kalamitäten.
Der legendäre französische Historiker Lucien Febvre schrieb einst einen Aufsatz, an dem mich vor allem der Titel so begeisterte, dass er mir seit Jahrzehnten nicht mehr aus dem Kopf geht. „Zur Geschichte eines Gefühls: Das Bedürfnis nach Sicherheit.“ Letztlich geht es in dem Text um die Geschichte des Versicherungswesens. Dieser Titel hat aber auch viele Obertöne: Gefühle, die eine Geschichte haben. Der soziokulturelle Wandel und der Neoliberalismus haben viele Sicherheiten zerstört.
Arbeit, Wohnung, Beziehung auf Zeit
Auf einen sicheren Arbeitsplatz kann sich niemand mehr verlassen, und von der Lebensabschnittspartnerschaft über die Universitätsstelle bis zum Mietvertrag ist heute alles befristet. Und dann die großen Krisen: von der Finanzkrise über Einkommensstagnation bis zu dem großen Krisenstakkato dieser Jahre unseres Missvergnügens: Corona, Klimakatastrophe, Krieg, Inflation.
Das Unsicherheitsgefühl frisst sich überall hinein. Immer mehr Menschen haben die Sorge: Kann ich in vier Monaten noch meine Rechnungen bezahlen? „Why Does Everyone Feel So Insecure All the Time?“ – „Warum fühlen sich alle permanent so unsicher?“, fragte die New York Times vor zwei Wochen in einem großen Essay der Autorin, Filmemacherin und Aktivistin Astra Taylor.
Das Schamgefühl, wenn das Inkassobüro klingelt oder gar der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht; der Adrenalinschub, wenn die nächste Miete fällig ist; die Angst, wenn man an die Rente denkt, die sowieso nicht reichen wird. Taylor lenkt die Aufmerksamheit auf „fabrizierte Unsicherheit“. Unsicherheit wurde vorsätzlich verstärkt, um Menschen agiler zu machen, damit innerbetriebliche Solidaritäten untergraben wird, damit sie im Job spuren.
Die Wettbewerbskultur, die wir etabliert haben, hält die Menschen ja nicht nur mit der Karotte, also den positiven Anreizen, auf Trab, sondern mit dem Stock der negativen Botschaft: Funktioniere oder du kommst unter die Räder. Im Unterschied zu Missständen wie „Armut“ oder „Ungleichheit“, so Taylors sehr wichtige Beobachtung, „befällt Unsicherheit Menschen auf nahezu jeder Sprosse der sozialen Leiter“.
Keine Verbesserung in Sichtweite
Unten wissen sie nicht mehr, wie man am Ende des Monats Essen auf den Tisch bringt, in den unteren Mittelschichten stöhnt man bei der monatlichen Miete, und in den oberen Mittelschichten schlafen die Menschen mit Sorgen ein, weil die Kredite für das Eigenheim kaum mehr zu stemmen sind. Chronische Gefühle von Unsicherheit machen krank, führen zu Depressionen, erhöhen das Herzinfarktrisiko.
Weil die Unsicherheit die verschiedensten sozialen Milieus bis in die gehobene Mittelschicht befällt, kämpfen alle auch um ihre kleinen Vorteile. Martin Wolf spricht von der „Economics of ‚Status Anxiety‘“, also der Ökonomie der Statusunsicherheit. Diese Abstiegsangst haben all jene, deren Status „niedrig genug ist, um Sorge zu begründen, die aber zugleich immer noch eine ausreichend gute Position zu verteidigen haben“.
Vier Prozent Reallohnverlust im Durchschnitt (!) brachte das Jahr 2022. Man muss kein Pessimist sein, um zu befürchten, dass es 2023 noch schlimmer kommt. Wer die rechte Welle brechen will, muss glaubwürdig das Bedürfnis nach Sicherheit der Menschen stillen. Gefragt ist ein Staat, der schützt.
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