piwik no script img

Der Lügendetektor vor GerichtLex Sachsen

„Lügendetektor“ – klingt nach Quacksalberei? So sehen das auch die meisten Gerichte. Außer in Sachsen. Für Missbrauchsopfer hat das verheerende Folgen.

Normalerweise vor Gericht wertlos: Aufzeichnungen eines Lügendetektors im Polygraphenzentrum Dortmund Foto: Andreas Buck/Funke Foto Services/imago

E in Lügendetektor ist ein technisches Gerät. Mit diesem können Veränderungen der Atembewegungen, des elektrischen Hautwiderstandes, des Blutdrucks und der Durchblutung in den Fingern gemessen werden. Seit vielen Jahren vertreten einige, dass diese Messungen Aufschluss darüber geben, ob eine Person lügt oder die Wahrheit sagt, und meinen, ein solches Verfahren auch in gerichtlichen Prozessen einsetzen zu können.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1981 die Verwendung von Lügendetektoren in Strafprozessen für unzulässig erklärt. Es sah dabei einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Außerdem führte es aus, dass dem Ergebnis aufgrund der Treffsicherheit nur eine geringe Aussagekraft beizumessen sei.

Der Bundesgerichtshof hat sich in mehreren Entscheidungen mit dem Lügendetektor auseinandergesetzt. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1998 hat er sich die Einschätzung mehrerer sachverständiger Personen eingeholt und kam zu der Überzeugung, dass der Lügendetektor ein ungeeignetes Beweismittel im Strafverfahren ist. Es lasse sich nicht nachweisen, dass ein Außenreiz eine bestimmte körperliche Reaktion erzeuge. Vielmehr könne es viele und nicht eingrenzbare Ursachen für eine menschliche Reaktion geben. Nach dem Bundesgerichtshof kommt dem Lügendetektortest noch nicht einmal ein geringfügiger indizieller Beweiswert zu. Auch das Bundesverwaltungsgericht sah in einem Beschluss aus dem 2014 im Falle eines beklagten Beamten in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren den sogenannten polygrafischen Test als ungeeignetes Beweismittel an.

Grundsätzlich orientieren sich die Amts-, Landes- und Oberlandesgerichte an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Nicht so in Sachsen.

Der sächsische Sonderweg zur Wahrheit

Im Falle von Sexualstraftaten werden in Sachsen seit vielen Jahren sowohl in familiengerichtlichen als auch in strafrechtlichen Verfahren die Ergebnisse von Lügendetektoren verwendet. Zum Beispiel wurde im Jahr 2023 ein Angeklagter vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses (§ 174c Strafgesetzbuch) freigesprochen unter Bezugnahme auf ein Gutachten, das mit einem Lügendetektor erstellt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte einem Ausbilder und Betreuer in einer Behindertenwerkstatt zur Last gelegt, dass er an vier verschiedenen Tagen eine Frau mit einer geistigen Behinderung, die ihm während ihrer Tätigkeit in der Werkstatt anvertraut war, sexuell missbraucht hatte.

Das Gericht hatte unter anderem auch durch die Einholung eines „forensisch-physiopsychologischen Gutachtens“ (Lügendetektor) auf Anregung des Angeklagten Beweis erhoben. In diesem Gutachten wurde der sogenannte Vergleichsfragentest durchgeführt. Die Gutachterin stellte dem Angeklagten verdachtsbezogene Fragen und Vergleichsfragen und maß dabei seine Reaktionen. Die Gutachterin kam zu der Einschätzung, dass eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ vorliegt, dass der Angeklagte die verdachtsbezogenen Fragen wahrheitsgemäß verneint hat, und das Gericht hatte keine Zweifel, dass es sich die „Feststellungen der Sachverständigen im Rahmen seiner eigenen Beweiswürdigung nicht zu eigen machen“ kann. Es folgte ein Freispruch für den Angeklagten.

In einem anderen Fall hatte es das Amtsgericht Bautzen 2013 für zulässig erachtet, die Ergebnisse eines Lügendetektors in einem Strafverfahren zu verwenden. Dem ging ein Urteil in einem Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren voraus. In diesem Verfahren war ein polygrafisches Gutachten in Auftrag gegeben worden. Im Strafverfahren hörte das Gericht die Erstellerin dieses Gutachtens an und hielt ihre Aussagen für verwertbar. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, mit seiner Ehefrau den vaginalen Geschlechtsverkehr, den sie ihm zuvor verweigert hatte, unter Androhung von Schlägen, dem Herunterdrücken ihrer Arme und dem Legen seines Körpers auf ihren vollzogen zu haben. Der Angeklagte wurde freigesprochen.

Zur Wahrheitsfindung ungeeignet – vor allem bei Sexualstraftätern

Sämtliche Argumente für die Nichteignung des Lügendetektors zu nennen, würde den hiesigen Rahmen sprengen, aber es sei auf mehrere Aspekte hingewiesen. Es gibt – gerade im Sexualstrafbereich – Täter*innen, deren Wahrnehmung derart verzerrt ist, dass sie ihre Handlungen nicht als Straftat ansehen und bei verdachtsbezogenen Fragen folglich nicht entsprechend reagieren.

Es gibt außerdem kein einheitliches körperliches Reaktionsmuster auf Lügen. Manche reagieren mit Erregung, aber andere mit besonderer Ruhe. Der Test kann einen physiologischen Zustand messen, aber er kann nicht messen, ob dieser Zustand auf einen Erregungszustand zurückgeht. Im Falle, dass eine Erregung vorliegt, kann der Test nicht die Ursache der Erregung bestimmen. Es ist auch denkbar, dass Menschen aus Angst vor einem falschen Testbefund oder aus Aufregung aufgrund einer Testreaktion mit Erregung reagieren.

Auch soll es recht einfach erlernbare Strategien geben, wie auf die nicht-verdachtsbezogenen Fragen mit stärkerer Erregung reagiert werden und die Ergebnisse so beeinflusst werden können. Zudem sind Blutdruck oder schnellere Atembewegungen auch durch Medikamente, Drogen und Alkohol manipulierbar.

Die Praxis in Sachsen widerspricht höherer Rechtsprechung. Wären die Gerichte in Sachsen von ihrer Entscheidungspraxis überzeugt, könnten sie den Weg zu einer erneuten Entscheidung des Bundesgerichtshofs einschlagen oder die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Beides ist bisher nicht erfolgt. Die Folgen für Betroffene sexualisierter Gewalt sind verheerend. Es ist unter Bezugnahme von Lügendetektoren zu Freisprüchen vor den Strafgerichten gekommen. Der Einsatz von Lügendetektoren sollte schnellstmöglich beendet werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

20 Kommentare

 / 
  • Grundsätzlich Zustimmung zum Artikel - bis auf den Schluss

    "Die Folgen für Betroffene sexualisierter Gewalt sind verheerend."

    Es wäre schön, wenn die Autorin das begründet hätte. Denn meiner Meinung nach hat der Lügendetektortest das Urteil in keiner Weise beeinflusst. Oder glaubt jemand, dass ein durch Zeugenaussagen oder Beweismittel überführter Täter wegen die Lügendetektortest freigesprochen wurde?

  • Wozu braucht es einen Lügendetektor? Bei Mangel an Beweisen ist der Angeklagte doch in jedem strittigen Fall frei zu srechen.

    • @Rudolf Fissner:

      "Wozu braucht es einen Lügendetektor?"

      Von denen ist so schön oft in ausländischen Krimis die Rede...

  • "Die Praxis in Sachsen widerspricht höherer Rechtsprechung."

    Machen sich die Richter, Staatsanwälte usw. nicht strafbar, wenn sie gegen geltendes Recht verstoßen?

    Es kann doch nicht ohne Konsequenzen bleiben, wenn in Prozessen irgendwelcher Quatsch zur Urteilsfindung herangezogen wird.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Es bleibt tatächlich ohne Konsequenzen, denn grundsätzlich ist ein solches Konzept (Abweichung von der Rechtssprechung der Bundesgerichte) durchaus gewollt. Die Bundesgerichte (ich nehme hier beispielhaft den BGH) sind eine reine Revisionsinstanz, d.h. es gibt kein Strafverfahren, bei dem der BGH als Erstinstanz die Beweisaufnahme durchführt. Er ist immer letzte Instanz und nur für die Überprüfung und Kontrolle (prozess-)rechtlicher Einzelfragen zuständig. Um den Instanzgerichten eine Art "Arbeits- und Handlungsmuster" vorzugeben, trifft er Grundsatzentscheidungen, die regelmäßig bindend sind. Der Begriff "regelmäßig" ist jedoch auch als Einschränkung zu verstehen, d.h. er ist nicht in Stein gemeißelt und für alle Zeiten gültig. Auch die Rechtsprechung der Bundesgerichte kann sich ändern und um dies zu erreichen, muss ein Amts- oder Landgericht von der regelmäßigen Rechtsprechung abweichen. Sind die Urteilsgründe dann schlecht, so wird der BGH das Urteil im Instanzenweg kassieren. SInd die Gründe jedoch nachvollziehbar und gut argumentiert, so wird der BGH das Urteil bestätigen und so unter Umständen zu einem neuen, von alter Rechtsprechung abweichenden, Grundsatzurteil gelangen.

      • @Cerberus:

        Danke für die Erläuterung.

        Dann müsste also ein Gesetz her, dass den Unfug unterbindet?

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Der Wikipedia Artikel zu rechtlichen Situation in DE ist da informativer als der taz-Artikel. ( de.wikipedia.org/w...609792#Deutschland )

      Beispielweise liegt laut Bundesgerichtshof kein Verstoß vor bei Einwilligung des Betroffenen.

  • "Außer in Sachsen"

    ... und in Köln. ( www.spiegel.de/wis...egt-a-1200239.html )

  • Der Lügendetektortest ist untaugiich und die Tatsache, dass er unter Missachtung jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis noch immer angewendet wird, ist ein Skandal. Es ist gut, das zu thematisieren.



    Was aber gar nicht gut ist, ist die implizite Unterstellung, dass nur Opfer die Leidtragenden sind und dass die erwähnten Freisprüche falsch waren. Das kann sein, kann aber auch nicht sein, es gibt auch in diesem Bereich Falschbeschuldigungen. Wobei Falschbeschuldigungen gar nicht immer auf Böswilligkeit zurückzuführen sind; aber dieses Thema gäbe einen eigenen – und sehr langen – Artikel.

  • Sowas halte ich ja grundsätzlich auch für schwierig und würde da den Empfehlungen des Gerichtshofs folgen. Und deshlab würd ich prinzipiell mal zustimmen.



    Aber im Artikel werden jetzt 2 Fälle in einem Zeitraum von 10 Jahren erwähnt. Find ich jetzt ein wenig dünn, um von "Lex Sachsen", "sächsischer Sonderweg" oder "Praxis in Sachsen" zu sprechen.



    Mich würde daher mal interesieren, in wieviel Prozent der Gerichtsverfahren so eine Lügendetektor zum Einsatz kommt.

    • @Deep South:

      Schon 1 Fall ist einer zu viel.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Das ist aber nur eine Binse. "Ein Fall" ist noch lange keine "Lex Sachsen". Es werden jährlich hunderte Fälle verhandelt. Wenn sowas im Promillebereich angewandt wird, dann kann man gern diese speziellen Verfahren unbd die jeweiligen Richter kritisieren, aber nicht von einer "Praxis in sachsne" sprechen. Das ist-wie erwähnt- sehr, sehr dünn.

    • @Deep South:

      Als Indiz gibt es einen Artikel bei Deutschlandfunk, der 2018 von 16 seit 2013 schreibt, also 3+ Fälle pro Jahr

  • ... die "Freistaaten" nerven irgendwie generell immer.

  • Was treibt die Richter in Sachsen, wenn auch vielleicht nur in wenigen Fällen, den Gutachten mit Lügendetektor zu trauen?



    Aber „verheerende Folgen“ hat es eher nicht. Denn es ist keineswegs sicher, dass die mutmasslichen Täter sonst verurteilt worden wären.

    • @fly:

      Aber es ist sicher das sie deswegen nicht verurteilt wurden. Wieder besseren Wissens um die Aussagekraft.

  • Warum wenden sich die Betroffenen bzw. die Staatsanwaltschaften nicht einfach an das BVerfG, um die Fragen um Lügendetektortests auch für Sachsen abschließend zu klären?

    • @Aurego:

      Die Fragen sind abschliessend geklärt - nur in Sachsen fühlt sich die Judikative offensichtlich nicht mehr der Bundesrepublik zugehörig. Was soll da eine erneute abschliessende Klärung bringen?

      Im Übrigen sind Staatsanwaltschaften den Justizministern gegenüber weisungsgebunden - damit wäre dieser Teil Ihrer Frage beantwortet, oder?

      Und was die Opfer angeht: Die müssen den normalen Rechtsweg beschreiten und können nicht einfach vom z.B. AG Bautzen (das ihnen gerade nicht geglaubt hat) zum BVerfG springen.

    • @Aurego:

      Weil sie nicht dürfen.

      Die Liste derjenigen, die das BVerfG anrufen dürfen, ist überschaubar.

      "Die Betroffenen" müssen selbst in ihren eigenen Grundrechten verletzt sein.

      Auch wenn es natürlich moralisch seelische Grausamkeit ist, mitansehen zu müssen, wie derjenige, der jemanden etwas grauenhaftes angetan hat, freigesprochen wird, ist es dennoch keine Grundrechtsverletzung.

      Die Staatsanwaltschaft kann ebenfalls nicht durch einen Freispruch in ihren Grundrechten verletzt werden.

      Jemand, der freigesprochen wurde, wird den Teufel tun, dagegen vorzugehen.

      Am Ende bleibt nur "das Gericht" übrig, das potentiell das BVerfG anrufen dürfte.

      Natürlich könnte ebenso der Gesetzgeber tätig werden und klarstellen, dass sogenannte Lügendetektoren nicht erlaubt sind.



      Bisher ist das bedauerlicherweise nicht passiert.

      • @kleinalex:

        Die Staatsanwaltschaft kann nicht das BVerfG anrufen (wozu auch; das BVerfG hat ja längst dazu entschieden), aber sie kann gegen einen Freispruch, der auf einen Lügendetektortest gestützt ist, einfach Revision einlegen (oder Berufung, wenn es um das Urteil eines Amtsgerichts geht). Ich verstehe nicht, weswegen die Staatsanwaltschaft dies unterlassen hat.