piwik no script img

Debatte um den Nahost-Konflikt„Ich werde nicht mehr gesehen“

Politiker fordern von arabischstämmigen und muslimischen Menschen, sich von Terror zu distanzieren. Das schließt sie aus, sagt Raid Naim.

Raid Naim in Berlin: „Es ist ja nicht so, dass ich eine andere Zugehörigkeit hätte“ Foto: Sophie Kirchner

Mir geht es nicht gut. Ich bin extrem müde. Und zerrissen zwischen Wut und Angst, Kampf und Kapitulation.

Raid Naim

ist 47, IT-Manager für Higher Education und Digitalisierung von Bildung. Die taz protokolliert, was er erzählt hat.

Mein ganzes Leben ist geprägt von meiner Beziehung zum Nahostkonflikt und zu Deutschland. In jedem Krieg zwischen Israel und Gaza gab es für mich bisher immer einen Weg, mit den Widersprüchen klarzukommen. Ich habe im deutschen Diskurs Punkte gesehen, an die ich anknüpfen konnte. Ich hatte den Eindruck, man kann nachempfinden, wie es mir als jemandem mit enger Familie in Gaza geht. Doch dieses Mal ist da vollkommene Dunkelheit.

Zum ersten Mal überkommt mich das Gefühl: Ich werde nicht gesehen als der, der die letzten 45 Jahre in Deutschland gelebt hat. Als der, der die deutsche Gesellschaft mitgestaltet hat. Die Politik adressiert mich als Teil eines Kollektivs und greift dieses heftig an: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert bei einem runden Tisch, dass Menschen „mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln“ sich persönlich von der Hamas und von Antisemitismus distanzieren sollen. Warum? Weil ich und die Hamas dieselbe Haut- oder Haarfarbe haben? Niemand hat nach den Enthüllungen über Aiwanger von den Bayern gefordert, sich von Antisemitismus zu distanzieren. Es wird immer einen Unterschied zwischen Deutschen aus Bayern und Deutschen mit arabischen Wurzeln geben.

In den 90ern habe ich gegen Abschiebungen demonstriert, neben Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Claudia Roth, die jetzt die Entscheidungsträger in den Parteien sind. Aber jetzt bricht gerade etwas aus: Als der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert hat, Einbürgerungen an Bekenntnisse zu knüpfen, und dann pauschal alle „jungen Männer“ aus Gaza des Antisemitismus bezichtigte, dachte ich, das zeige ich an! Dann wache ich eines Morgens auf und sehe Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover. Ich dachte erst, das ist eine Montage.

Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie

Aus der FDP fordern sie nun, zwischen „Grundrechten für deutsche Staatsbürger“ und „Jedermannsrechten“ zu unterscheiden. Auch Aiwanger kann sich wieder rehabilitieren. Der kann vom importierten Antisemitismus fabulieren, und niemand protestiert. Der rassistische, bösartige, extremistische Diskurs ist innerhalb weniger Tage Mainstream geworden. Der Kolumnist Jan Fleischhauer redet von „Aggro-Arabern“, Po­li­ti­ke­r*in­nen teilen lobend die rechtsextremen Aussagen eines Douglas Murray, und Jens Spahn ordnet Judenhass als Teil von migrantischer Kultur ein.

Die deutsche Diskussion läuft ja gerade unabhängig davon, was in Israel und Gaza passiert. So etwas gab es früher auch schon, etwa nach dem 11. September. Es gab einen echten Diskurs. Jetzt glaube ich nicht mehr daran. Wir sind jenseits des Punktes, an dem wir noch sinnvoll einsteigen, argumentieren und den Diskurs drehen können. Wir sind schon tief im reaktionären Deutschland angekommen.

Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie. Aus meinem deutschen Netzwerk kommt kaum eine Reaktion, wenn ich mich äußere. Von israelischen und arabischen Freun­d*in­nen oder aus dem internationalen Kontext bekomme ich viele Nachfragen und Mitgefühl. Sie erkennen an, dass ich gerade Schreckliches erlebe.

Aber von offizieller Seite hieß es in der Bundespressekonferenz zur Frage nach 10.000 getöteten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nur: „Zu den Zahlen können wir nichts sagen.“ Die wollen uns nicht sehen. Lebend nicht, tot auch nicht. Wir sind unsichtbar geworden. Dabei hätte es dutzende diplomatische, genauso nichtssagende Floskeln gegeben, die aber menschlicher wären. Nicht mal das sind wir wert.

Es geht „euch“ um euch selbst

Ein Freund sagte mir, das ist Ratlosigkeit. Im Zweifel stellt man sich auf eine Seite, weil man bisher gut damit gefahren ist. Die Ratlosigkeit in der Politik erklärt aber nicht die Empathielosigkeit auf der menschlichen Ebene. Meine Theorie dazu ist: Es ist Ratlosigkeit für die einen. Für die anderen befriedigt es ein Verlangen nach einer nationalen Identität. Für Teile der Gesellschaft gibt es eine Projektion auf Israel und Israel muss nun herhalten als Identität, die man grenzenlos bis fanatisch feiern kann. Es geht „euch“ gar nicht um Jüdinnen und Juden oder um Israel. Es geht „euch“ um euch selbst.

Bis vor etwa drei Wochen war bei Problemen in Deutschland immer mein Gedanke: Das ist auch mein Problem. Jetzt denke ich: Das ist euer Problem. Ein sehr deutsches Problem. Und das müsst ihr lösen. Denn genau bei diesem „Problem“ durfte ich nie mitreden.

Es ist ja nicht so, dass ich eine andere Zugehörigkeit oder ein anderes Zuhause hätte. Ich habe noch nie in Gaza gelebt. Aber so, wie es jetzt ist, muss ich mir etwas anderes, Neues aufbauen. Keine nationale Identität, das brauche und will ich nicht. Ich brauche einen kulturellen und intellektuellen Bezug, der mich nicht kollektiv ausschließt.

Dieser Aufruf in der Rede von Steinmeier, sich zu distanzieren, bedeutet, dass ich mitverhaftet bin. Als deutscher Staatsbürger bin ich nicht sicher davor, in Sippenhaft genommen zu werden. Wir müssen verstehen, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht dauernd das Recht hat, von einer ethnischen Minderheit zu verlangen, sich zu positionieren oder distanzieren. Dahinter steht die Annahme, dass man von Geburt an, über die DNA oder die Identität mit etwas verbunden ist. Solche Annahmen sollten in einer Demokratie gar nicht möglich sein.

Die Frage ist grundsätzlicher, als es vielen erscheint. Es geht darum, ob wir als Individuen zusammenleben können – oder nicht.

Protokoll: Uta Schleiermacher

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

38 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen. Wenn die Diskussionen ausfallend werden, zu weit vom Thema abweichen, oder die Zahl der Kommentare zu groß wird, wird das manchmal leider nötig. Ebenso, wenn wir unterbesetzt sind. Sonst können wir die Kommentare nicht mehr zeitnah moderieren. 

  • Ja, aktive Distanzierung ist leider notwendig. So ist es nun mal. Man kann sich seine Verwandtschaft und seine Vorfahren leider nicht aussuchen. Wir Deutschen distanzieren uns an entsprechenden Gedenktagen auch regelmäßig von den Untaten unserer Nazi-Vorfahren - und völlig zurecht wird das von der Welt erwartet, sogar zwei Generationen nach Kriegsende.

  • Frage an Herrn Naim: Würden Sie ihre sicher nicht ganz unberechtigten Hinweise, dass die zwangsweise Assoziation mit den Untaten Anderer aufgrund gemeinsamer ethnischer Herkunft oder Religion zu unterbleiben hat, auch im Namen der in Deutschland lebenden Juden äußern wollen, die dieser Tage ihre Hauswände mit Davidsternen "verziert" bekommen?

    • @Normalo:

      Kurz vorab: das ist widerlich, kriminell und gehört entsprechend bestraft.

      Sehen Sie die Parallelen aber nicht? Viele in Deutschland lebenden Juden erleiden gerade deshalb all dem Schrecken ausgesetzt, weil sie kollektiv in Verbindung mit einem Konflikt oder einem Staat gebracht werden. Das ist ja auch die Sippenhaft, von der der Autor spricht.

  • Vielleicht rührt das, was Raid Naim und andere als "Sippenhaft" empfinden ja auch daher, daß sich viele Muslime durch ihren Glauben weltweit eng verbunden fühlen, und auch Dinge als persönliche "Beleidigung" ansehen, die weit weg von ihnen passieren.

    Als die Mohammed-Karikaturen in Dänemark erschienen, gab es selbst in weit entfernten Ländern wie Indonesien oder Malaysia Demonstrationen.

    Während des 2ten Golfkriegs erklärte ein deutscher Muslim einem TV-Team, durch den Krieg fühle er sich "als Muslim beleidigt".

    Und während Rushdi und der Karikaturist den Rest ihres Lebens unter Polizeischutz verbringen müssen, gilt das für die Titanic-Redakteure, die dieses geschmacklose "Vatileaks-Titelbild" zu verantworten haben, nicht. Auch wenn die "Erzfrommen" vor Empörung aufgeheult haben.

    • @ PeWi:

      hmmm .. in diesem Kommentar herrscht eine überhebliche Sicherheit, dass Raid Naim muslim ist.



      Ich glaube, das beweist nur, was er da beschreibt.

  • Danke für diesen Kommentar! Ich beobachte tatsächlich, dass Deutschlands Politik und ein großer Teil der Medienlandschaft in den Wochen nach dem Hamas-Progrom eine Sonderstellung in Europa einnimmt. Zu meiner Überraschung ist das vielleicht am größten in der eher linken und liberalen Presse. Fast erschreckend, dass der Diskurs in Norwegen (wo ich wohne) nahezu die Umkehrung ist des deutschen Diskurses. Wo Linke und Liberale in Norwegen und Spanien, zB, Mitgefühl mit den Hamas Opfern vermissen ließen und sie diese manchmal sogar als logische Konsequenz der aggressiven Politik des rechten Israels verstanden, ist da fast so etwas wie ein Reflex in Deutschland, die zivilen Opfer in Gaza ‚kleinzureden‘ und sie als logische Konsequenz der Hamas-Massaker abzutun. Ein Novum für mich wie aus vergleichbaren Milieus so unterschiedliche moralische Standpunkte entstanden sind in etwas über einem Monat. Das sollte auch in Deutschland zu denken geben, das sich gerade im Umgang mit dem Gaza Krieg, der Waffenstillstandsdebatte, dem Schutz der Zivilbevölkerung isoliert. Stimmen, wie die des Kommentators sind da wirklich wichtig, gerade jetzt.

  • Jetzt wo die tolerante offene Gesellschaft in einer ihrer größten Krisen ist, wäre es schon nett wenn die die am meisten davon profitieren ein paar aufmunternde Worte für uns hätten und nicht dieses Blame-Shaming des Autors.

    • @regrettt:

      Ist die "tolerante offene Gesellschaft" in einer ihrer größten Krisen? Heute? Nicht als sie damals 1.000.000 Iraker im Namen der Demokratie getötet hat?



      Ich finde das war sie weder damals noch ist sie das heute.



      Und Blame-Shaming sehe ich auch nicht, sondern eine große persönliche Enttäuschung. Das man das nicht sieht, muss diese Empathielosigkeit sein, von der die Rede ist.

      • @Ray :

        Ihren plumpen Whataboutism überlesen ich jetzt mal.

        Ist doch toll wenn er sich die Freiheit gönnt enttäuscht zu sein.

        Ist ja alles freiwillig und hilft nur dem Zusammenhalt in der Gesellschaft. Muss man ja nicht mitmachen..

  • Was ist an dem Aufruf vonm Bundespräsidenten verkehrt, sich vom Terror der Hamas zu distanzieren ? Bisher ist dies von fast keiner relevanten arabisch-muslimisch-palästinensischen Gruppe erfolgt. Dieser "Krieg" ist von der Hamas eröffnet worden und die zivilen Opfer gehen auch auf deren Konto. Humaniäre Korridore sind vorhanden, Anwohner werden vor der Bombardierung per SMS oder Flugblätter gewarnt. Es gibt von palästinensischer Seite keine ernstzunehmenden Stimmen, die die Hamas zur Aufgabe/Zurückhaltung aufrufen. Es erschließt sich mir nicht, warum aufgrund all dieser Grundlagen sich die deutsche Solidarität/Mitgefühl auf beide Parteien gleichmäßig verteilen soll. Der Aggressor ist in diesem Fall eindeutig erkannt und wahrscheinlich benötigt es eine Ent-Hamasinierung

  • Vielen für diesem Kommentar. Dieses andauernde "Distanzier Dich!" beinhaltet ja das unterschwellige Nichtdistanzieren. Ich übrigens (Bio-Kartoffel seit schon immer) distanziere mich ausdrücklich vom NSU. Hat der Frank-Walter von mir aber noch nie gefordert, weil er vermutlich davon ausgeht, dass der anständige Deutsche sich ohnehin distanziert. Ich gehe daher ebenso selbstverständlich davon aus, dass nur diejenige und derjenige den "islamistischen Terror" gutheißt, die bzw. der dass auch so äußert und ALLE ANDEREN NICHT.

  • Grundsätzlich hat der Autor recht, dass niemand sich von etwas distanzieren muss, für das er nichts kann. Es gibt aber Situationen, wo das nötig ist. Wenn nach einem brutalen Abschlachten völlig harmloser - oft an Frieden arbeitender - Menschen demonstriert wird für die Bevölkerung in Gaza und jedes Wort fehlt, warum diese Bevölkerung gerade mit der israelischen Armee konfrontiert ist, passt das eben nicht.

    Und wo Aiwanger schon erwähnt wird: dort wurde regelmäßig auch eine Distanzierung vorgenommen von denen, die ihn verteidigt haben, weil das Flugblatt so lange her ist. Man hat nie nur geschrieben, das war doch eine Jugendsünde - sondern stets auch, dass der Inhalt unerträglich ist und damit sich distanziert von etwas, für das man nicht verantwortlich ist.

    • @Dr. McSchreck:

      Es gibt einen Unterschied zwischen Solidarität und Distanzierung. Der Autor beklagt sich nicht über Aufrufe zur Solidarität mit den israelischen Opfern. Aber ein ethnisch basierter Aufruf zur "Distanzierung" (und damit Annahme einer ideologischen Nähe) ist extrem problematisch und gefährlich.

  • Bekenntniszwang hat in einer aufgeklärten Gesellschaft nichts verloren.

  • Danke für diesen Kommentar

  • Ich denke, dass die Mehrheit der Gesellschaft sensibel ist und sowohl den jüdischen als auch den palästinensischen Schmerz versteht. Was jenseits von notorischen Islamhassern diesmal aber meines Erachtens anders ist und die Würdigung des palästinensischen Schmerzes dämpft, ist die absolute Klarheit darüber, wer die Katastrophe ausgelöst und zu verantworten hat: die Hamas.

    • @MeinerHeiner:

      Ja genau. Und aus dem Artikel geht die Frage hervor, ob sich daraus eine Verantwortung für Palästinenser:innen (hierzulande) ergibt, Stellung zu beziehen. Ich meine: pro-palästinensische Verbände z.B. sollten das tun. Raid Naim fragt sich, ob er als Einzelner auch dazu verpflichtet ist - verpflichtet werden darf - sich zu äussern. Ich finde, er darf auch schweigen. Nur führt das dann eben dazu, dass die Bühne den Brüllenden, Spaltenden überlassen wird, weshalb ich es vorziehe, zu reden. Auch, weil ich die Solidarität aus Israel, wo für einen Waffenstillstand demonstriert wird, wo Angehörige Verschleppter und Getöteter sich für friedliche Lösungen aussprechen, mehr als schätze und ich davon auch nur erfahre, weil sich eben auch Einzelne positionieren (und schlussendlich zusammenschliessen).

    • @MeinerHeiner:

      Wenn man Menschen mit palästinensischen Wurzel nicht mit der Hamas gleichsetzen will, dann würde die absolute Klarheit darüber, wer für den brutalen Terror verantwortlich ist, mMn doch dazu führen auch den palästinensischen Schmerz klarer zu sehen.

    • @MeinerHeiner:

      Über die Frage, wer die Katastrophe zu verantworten hat, ist sofort nach dem 7.10. der Streit entbrannt: sind es kurzfristig die Islamofaschisten der Hamas oder ist es langfristig die israelische Besatzungspolitik, die zum Ausbruch dieser ungehemmten Gewalt geführt hat? Da die Netanjahu Regierung praktisch keine Zeit der Trauer erlaubte, sondern sofort eine blutige und unverhältnismässige Rache startete , verwandlte sich Israel in den Augen eines Großteils der Weltöffentlichkeit vom Opfer zum Täter. Das ist tragisch, da dies dem berechtigten Anspruch auf Empathie beider Seiten nicht gerecht wird.

      • @Rinaldo:

        Das ist eine unerträgliche Verkürzung des Sachverhalts.

        Die Raketen der Hamas fliegen auch seit dem 7.10. unaufhörlich weiter und ihre Geiselnahmen sind nichts, was irgendwer in andächtiger Trauer zu ertragen hätte. Und nicht Israel sondern die Hamas zeigt, wie "Rache" aussieht - wofür, wird auch gerne geflissentlich übersehen: So kritikwürdig sie sein mag, die israelische Besatzungpolitik im Westjordanland ist es NICHT, sondern die schiere Existenz Israels und des jüdischen Teils seiner Bevölkerung.

        Dass die "zunehmend kritische Weltöffentlichkeit" diese nun wirklich nicht unwesentlichen Nuancen nicht wahrnimmt, hat AUCH erkennbar nicht nur mit der besonderen Ungerechtigkeit israelischer Politik zu tun. Denn dann würde besagte Öffentlichkeit über wie viel größeres Unrecht nicht so gerne scheinheilig hinwegsehen.

    • @MeinerHeiner:

      Das zum einen und dann halt auch die Reaktionen auf das Massaker was die Hamas angerichtet hat. Anstieg antisemitischer Straftaten, Angriffe auf Menschen nach Teilnahme an Mahnwachen für Israel, Verteilung von Süßigkeiten in Neukölln, antisemitische Parolen und Verharmlosung der Hamas auf den sogenannten Pro Palästina Demonstrationen.

  • "Der kann vom importierten Antisemitismus fabulieren, und niemand protestiert. Der rassistische, bösartige, extremistische Diskurs ist innerhalb weniger Tage Mainstream geworden."

    Warum muss eigentlich immer wieder die unübersehbare Tatsache bestritten werden, dass es eine Form des Antisemitismus gibt, die ihre originären Wurzeln in den Herkunftsländern hat? Das hat auch nichts mit einer DNA zu tun, sondern mit Sozialisation. Aber dazu fällt dem Autor nur der offenbar bei diesem Thema schon reflexartige Rassismus-Vorwurf ein.

    Dazu der ehem. Grünen-Abgeordnete Volker Beck: "Neben der Gefahr von rechts wird jüdisches Leben in Schulen und auf der Straße von arabischen Nationalisten und Islamisten bedroht. Man kann nicht darüber hinwegsehen: Es gibt in der muslimischen und der arabischen Welt manifesten Antisemitismus. Auch wenn der Antisemitismus in Deutschland immer zu Hause und nie verschwunden war, sind auch Menschen mit solchen Haltungen eingewandert. Und nein, es ist keine Muslimfeindlichkeit, das zu thematisieren." www.ksta.de/politi...amverbaende-686584

    Natürlich gibt es auch einen Antisemitismus, der seine originären Wurzeln im Lande der Täter hat. Aber die aktuelle Bedrohung jüdischen Lebens geht, so die Wahrnehmung vieler Juden, von arabisch- und türkischstämmigen Menschen aus www.juedische-allg...litik/es-reicht-8/

    Auch dazu fällt Raid Naim leider gar nichts ein.

    • @Schalamow:

      "Auch dazu fällt Raid Naim leider gar nichts ein."



      das muss ihm auch nicht bei einem persönlichen Beitrag nicht einfallen.

      "Das hat auch nichts mit einer DNA zu tun, sondern mit Sozialisation"

      Dann wäre es noch verherender, von Deutschen "arabischer Abstammung" (sprich 2. und 3. Generation) gezielt eine Distanzierung abzuverlangen. Denn diese sind ja in Deutschland sozialisiert (deutsche Kindergärten, deutsche Schulen, deutsche Unis, deutsche Arbeitgeber, deutsche Parteien etc.). Also? Warum macht man diesen Aufruf? DNA? Haarfarbe? Hautfarbe? Sagt man ihnen nicht damit: Sozialisation hin oder her, ihr steht immer unter Generalverdacht?

  • Allein Ratlosigkeit würde ich das Verhalten nicht nennen. Es ist auch Feigheit und Bequemlichkeit - beides ist viel schlimmer als "nur" Ratlosigkeit. Ich bin Deutscher - doch das ist mir völlig egal. Ist es nicht besser jemanden nach seinem/ihrem Charakter, Verhalten zu beurteilen als nach der Herkunft, Hautfarbe oder gar Nationalität???

    • @Perkele:

      Ich denke, genau darum geht es, wenn hier von gewissen Organisationen und Aktivisten, die sich lautstark für die Belange der palästinesischen Bevölkerung einsetzen, erwartet wird, dass sie auch die andere Seite des Konfliktes erkennbar berücksichtigen.

      Herrn Naim hat völlig Recht, dass sich niemand Einzelner nur aufgrund seiner Herkunft zu einer Positionierung genötigt fühlen sollte. Meinungsfreiheit umfasst auch, keine Meinung äußern zu MÜSSEN. Dieser Druck ist aber auch Alles andere als in unserer Gesellschaft dominant. Die allermeisten Forderungen nach einem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels richten sich an Adressaten, die ganz und gar nicht schweigen wollen sondern in Anspruch nehmen, den Nahost-Diskurs maßgeblich (mit) beeinflussen zu dürfen. Die darf man aus meiner sehr wohl hinterfragen.

  • Nach dem Terrorangriff der Hamas führt Israel in Gaza Krieg gegen die Hamas, und die Hamas beschießt Israel mit Raketen - aber es ist der in Deutschland lebende deutsche Staatsbürger Raid Naim, der "Schreckliches" erlebt: "Die Politik adressiert mich als Teil eines Kollektivs und greift dieses heftig an:"

    Dass Naim nicht als Teil eines Kollektivs adressiert werden will, ist nachvollziehbar. Aber ein paar Absätze weiter führt er bezüglich der Frage nach getöteten Palästinensern aus: "Die wollen uns nicht sehen. Lebend nicht, tot auch nicht. Wir sind unsichtbar geworden. Dabei hätte es Dutzende diplomatische, genauso nichts sagende Floskeln gegeben, die aber menschlicher wären. Nicht mal das sind wir wert." Naim verwendet also in Bezug auf die Palästinenser in Gaza zwei Mal "wir" und einmal "uns" und stellt sich damit selbst in ein Kollektiv, dem er nicht zugeordnet werden will. Und er blendet aus, dass die Medien in Deutschland voll sind von Angaben über die Zahl von in Gaza getöteten Palästinensern und dass von deren Unsichtbarkeit keine Rede sein kann. Medial unsichtbar sind in Deutschland nur getötete Palästinenser, deren Tod man nicht Israel in die Schuhe schieben kann.

    Und während Naim sein Schicksal beklagt und von "Sippenhaft" schwadroniert, obwohl bei ihm mitnichten die Polizei vor der Tür steht, teilt er gegen den israelsolidarischen Teil der Gesellschaft unbekümmert aus und denunziert pauschal den Einsatz gegen Antisemitismus: "Für Teile der Gesellschaft gibt es eine Projektion auf Israel und Israel muss nun herhalten als Identität, die man grenzenlos bis fanatisch feiern kann. Es geht „euch“ gar nicht um Jüdinnen und Juden oder um Israel. Es geht „euch“ um euch selbst."

    Ich teile die Ansicht von Naim, dass niemand wegen seiner Abstammung in den Verdacht des Antisemitismus gestellt und zu einer Distanzierung aufgefordert werden darf. Aber Naim distanziert sich hier selbst freiwillig, und zwar von denjenigen, die mit den Angegriffenen solidarisch sind.

    • @Budzylein:

      Sehe ich genauso

    • @Budzylein:

      Was Raid Naim sagt, ist doch nur, dass derzeit jede*r unwidersprochen anti-muslimischen Rassismus ausleben darf, wenn er*sie es schafft irgendwie das Wort "Terror" oder "Israel" in der betreffenden Äußerung unterzubringen. Meiner Ansicht nach ist, das zutreffend.



      Zum Thema "Wir" gehört die wichtige Unterscheidung (die Ihnen anscheinend nicht präsent war), dass sich Menschen ihr Wir selbst schaffen können, sich selbst verorten und identifizieren dürfen, aber in freiheitlichen Verhältnissen nicht von außen kategorisiert werden dürfen.

  • "Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert bei einem runden Tisch, dass Menschen „mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln“ sich persönlich von der Hamas und von Antisemitismus distanzieren sollen. Warum? Weil ich und die Hamas dieselbe Haut- oder Haarfarbe haben?"

    - Ja, schwierig. Als Tochter eines Palästinensers mit grosser Verwandtschaft in Gaza, kann ich einiges nachvollziehen, was Raid Naim sagt. Ich glaube, aber auch, es ist richtig Haltung zu zeigen und ich sehe mich da mit in der Verantwortung. In erster Linie wünschte ich mir das auch z.B. von pro-palästinensischen Verbänden, Interessengemeinschaften etc. hier in der Schweiz.

    Es geht hier doch auch um Solidarität, die möglicherweise unterschätzt wird in ihrer Wirkung. Mich tröstet es, wenn in Israel Menschen für einen sofortigen Waffenstillstand auf die Strasse gehen. Mich berührt es tief, wenn Angehörige Verschleppter oder Getöteter sich weiterhin für Frieden in der Region aussprechen.

    Daraus schliesse ich, dass es sinnvoller ist, Stellung zu beziehen als zu schweigen.

    "Dieser Aufruf in der Rede von Steinmeier, sich zu distanzieren, bedeutet, dass ich mitverhaftet bin." Mitverhaftet oder aufgefordert, in die Verantwortung zu gehen? Ist das auch ein bisschen trotzig? - zu sagen: Ich war's ja nicht, darum möchte ich auch nicht dazu aufgefordert werden, Stellung zu beziehen?

    Und was ist denn mit den Stimmen, die jetzt laut brüllen, mit dem aufflammenden Antisemitismus und Antiislamismus? Sollen wir denen die Bühne überlassen? Wer soll sich den Ihrer Meinung nach positionieren (und distanzieren), wenn nicht die Betroffenen selbst? Sollen wir die Debatte allen anderen überlassen?

    Ich für meinen Teil, als jemand, die auch noch nie in Gaza gelebt, doch eine durch den Nahostkonflikt geprägte Geschichte hat, möchte meinen geringen Teil dazu beitragen, einen Funken Verständigung zu schaffen.

    • @Farah Marian:

      Vielen Dank für diesen Kommentar. Genau das hat Herr Steinmeier meines Erachtens gemeint: Stellung beziehen. Und natürlich beziehe ich (mit sudetendeutschen und preußischen Wurzeln) ebenfalls Stellung gegen den Antisemitismus von Herrn Aiwanger, wenn ich dazu die Möglichkeit habe. Warum auch nicht? Das ist ekelhaft, was dieser Politiker von sich gibt.

    • @Farah Marian:

      Danke für Ihren Beitrag und ich hoffe, dass Sie "gesehen werden" !

      • @Dr. McSchreck:

        Leute .. dann sollten Herr Steinmeier (wie viele hier) das mit der Distanzierung lassen. Fällt euch wirklich kein Unterschied zwischen Distanzierung und Solidarität auf? Das eine ist sippenhafter Ausschluss und das andere ist positive Inklusion. Das macht einen riesigen Unterschied!

  • Auch Robert Habeck hat in seinem Video muslimische Verbände in Deutschland dazu aufgefordert, sich jetzt zu äußern. Das zeigt ein kommunalistisches Denken, das Muslimen in Deutschland Antisemitismus unterstellt oder, dass sie die Hamas unterstützen. Es ist gut, dass Habeck gegen Antisemitismus eintritt, aber wenn gleichzeitig Vorurteile gegen Muslime verbreitet werden, ist das grundsätzlich falsch.

    • @Kölner Norden:

      Wenn die muslimischen Verbände in Deutschland die Hamas nicht unterstützen, was spricht dann dagegen, das einfach mitzuteilen? Z.B. die von Christen durchgeführten Massaker von Sabra und Schatila wurden und werden ja auch von Christen verurteilt. Ich finde das grundsätzlich richtig, zu fordern, dass Verbände sich bei solchen Geschehnissen positionieren sollen.

      • @Lukas Krueger:

        Verbände zu politischer Positionierung aufzurufen ist richtig und wichtig. Individuen dazu aufzurufen ist problematisch (Gesinnungszwang). Ethnische Minderheiten zu Distanzierung (und damit verbundene Annahme der ideologischen Nähe) ist gefährlich!

        Eigentlich ist das alles relativ einfach: Grundlagen der Demokratie.

  • "Wir sind schon tief im reaktionären Deutschland angekommen."

    Wie wahr, und wie traurig.

    Vor kurzem schütteln wir noch den Kopf als Weidel was von "Messermigranten" faselte. Jetzt überbietet sich die selbsternannte Mitte in solchen widerlichen Sprüchen.

    Vor kurzem fieberwahnte Seehofer von der letzten Patrone. Jetzt macht Scholz "in grossem Stil" und auch die Obergrünen in "Ordnung muss sein".

    Ich trauere mit Ihnen. Es wird Ihnen nicht Trost sein, aber von diesem Deutschland distanziere ich mich. Herrn Steinmeier habe ich sowieso nie gemocht (spätestens seit Murat Kurnaz nicht).

    • @tomás zerolo:

      Zu dem Deutschland, von dem Sie sich ditanzieren, sollte aber aber auch die ebenfalls selbsternannte Zivilgesellschaft gehören. Denn die hat den Antisemitismus unter Muslimen, wie er im Beitrag von @Schalamow beschrieben wird, in den vergangenen Jahren oft und erfolgreich verdrängt.

      Natürlich "freuen" sich jetzt diejenigen, die schon immer etwas gegen Muslime und "Ausländer" hatten, daß sie sich relativ ungestört empören können.

      Daß können sie aber auch deshalb, weil die "Gegenseite" sich durch ihr Wegsehen (-wollen?) in der Vergangeheit um Teile ihrer Glaubwürdigkeit gebracht haben.