Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur: Schwielowsee an der Copacabana
Die SPD ist wieder kurz vorm Putsch. Während der Kanzler versucht die Welt zu retten, wollen Genossen ihn als erneuten Kanzlerkandidaten verhindern.
In einem gemeinsamen Statement auf Anfrage des WDR distanzieren sich die Vorsitzenden der NRW-Landesgruppe der SPD im Bundestag, Wiebke Esdar und Dirk Wiese von Olaf Scholz. „Das aktuelle Ansehen von Bundeskanzler Olaf Scholz ist stark mit der Ampel-Koalition verknüpft. Mit einigem Abstand werden seine Arbeit und seine Entscheidungen für unser Land mit Sicherheit weitaus positiver beurteilt werden“, so Esdar und Wiese. Es klingt wie ein freundliches Lebewohl getarnt als Kompliment.
Scholz weilt derzeit beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro. Er hat Deutschland als Mitglied in der von Brasiliens Präsident Lula da Silva ins Leben gerufenen Allianz gegen Hunger und Armut angemeldet. Am Dienstagmorgen spricht er mit Chinas Präsident Xi Jinping über Handel und den Krieg in der Ukraine.
Doch zu Hause spricht man über ihn. Es gebe in der SPD und weiter darüber hinaus eine Debatte, die man auch in den Wahlkreisen wahrnehme, geben Wiese und Esdar zu bedenken. Im Zentrum stehe die Frage, was die beste personelle Aufstellung für diese Bundestagswahl sei. „Dabei hören wir viel Zuspruch für Boris Pistorius.“
Am Schwielowsee wurde Kurt Beck abgesägt
Wiese und Esdar sind nicht nur Landesgruppenvorsitzende, sondern bekleiden jeweils auch Sprecher:innenposten bei den beiden größten Strömungen der Fraktion, dem Seeheimer Kreis und der Parlamentarischen Linken. Sie decken den politisch rechten und linken Flügel der Sozialdemokraten ab. Das lagerübergreifende Statement birgt also viel Sprengkraft. Zudem steht Scholz selbst den Seeheimern nahe, wurde von diesen bislang ausnahmslos unterstützt. Scholz-Devotionalien mit der Aufschrift „Der bessere Kanzler 2025“ wurden politischen Beobachterinnen bereits im Frühjahr aufgedrängt.
Auch die Parteiführung um Saskia Esken und Lars Klingbeil sowie der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hatten sich mehrfach hinter Scholz gestellt, ihn aber noch nicht offiziell nominieren lassen. Das sollte eigentlich auf einer „Wahlsiegkonferenz“ mit Kandidat:innen am 30. November passieren. Nun gehen Wiese und Esdar einen Schritt zurück und fordern, dass die Parteigremien über die Frage der Kanzlerkandidatur entscheiden sollen, „das ist auch der richtige Ort dafür.“ Also alles auf Anfang?
Das ist nicht ohne Risiko. Die SPD hatte in der Vergangenheit schon mehrfach versucht, sich aus Umfragetiefs durch einen Kandidatenwechsel zu befreien. Der jetzigen Situation am nächsten kommt wohl der Putsch gegen den damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck. Der wurde 2008 auf einer Strategiekonferenz am Potsdamer Schwielowsee abgesägt und Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat nominiert. Steinmeier, damals Außenminister, war ähnlich wie Boris Pistorius ein beliebter Politiker. Anders als derzeit blieb noch mehr als ein Jahr bis zur Bundestagswahl. Trotzdem verlor die SPD die Wahl 2009 gegen die Union von Angela Merkel.
Ex-SPD-Chef fordert schnelle Klärung
Der Schaden für die SPD ist schon jetzt erkennbar, die Partei, die sich so viel auf ihre Geschlossenheit zugute hielt, zerlegt sich gerade. „Dieses Statement der Vorsitzenden ist nicht in der NRW-Landesgruppe beschlossen worden“, sagte der nordrhein-westfälische Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer der Nachrichtenagentur Reuters. „Es ist missverständlich, schwächt den Bundeskanzler und hat bei den SPD-Bundestagsabgeordneten keine Mehrheit.“ Er habe sofort für morgen eine Sondersitzung der NRW-Bundestagsabgeordneten beantragt.
Führende Sozialdemokraten stellen sich hinter Scholz. Bundesinnenministerin Nancy Faeser erklärte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Für mich ist klar, dass der Bundeskanzler unser Kandidat wird.“ Die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger sagte dem Stern: „Die SPD stellt den Kanzler, das ist eine große Chance. Deshalb ist Olaf Scholz der natürliche und richtige Kanzlerkandidat.“
Der frühere SPD-Chef Norbert Walter-Borjans dringt auf eine schnelle Klärung. „Olaf Scholz hat unser Land in einer extrem schweren Zeit vor viel Bedrohlichem bewahrt“, lobte Walter-Borjans in der Rheinischen Post einerseits den Bundeskanzler.
Angesichts von Debatten, ob die SPD mit dem beliebten Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht besser fahren würde, sagte Walter-Borjans zugleich: „Wahr ist aber auch, dass Merz nur mit einem Kanzler zu verhindern wäre, der auf den letzten Metern die Kraft aufbringt, selbstkritisch und nahbar den Unterschied deutlich zu machen. Das ist bisher Olaf Scholz' schwacher Punkt“. Walter-Borjans mahnte: „Die Konsequenz daraus müssen die besprechen und bitte rasch entscheiden, die jetzt in der Verantwortung sind. Notfalls in einer Nachtsitzung.“
Erwartet wird, dass die SPD nun vor dem 30. November ihren Kanzlerkandidaten nominiert und eine Entscheidung möglicherweise bei der nächsten Vorstands- und Präsidiumssitzung am 25. November fällt. Für wen auch immer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance