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Debatte um Nazi-Vokabular in der tazVom Sagen und Meinen

Ulrich Gutmair
Kommentar von Ulrich Gutmair

Der taz wurde in der Debatte über den Kölner Polizeieinsatz die bewusste Verwendung von Nazi-Vokabular unterstellt. Eine Replik.

Rassistisch? Ja. „Sonderbehandlung“ sicher nicht Foto: dpa

U nter der Überschrift „Selektion in Köln?“ legte Michael Wuliger am vergangenen Donnerstag in der Jüdischen Allgemeinen dar, „wie die Berliner Tageszeitung ,taz' die Schoa bagatellisiert“. Er bezog sich auf einen Bericht und einen Kommentar eines taz-Autors, in denen von „Sonderbehandlung“ und „Selektion“ die Rede war. Als sei dieser Vorwurf nicht heftig genug, unterstellte Wuliger in seiner Kolumne „Wuligers Woche“ Absicht. Kann man das so stehen lassen? Nein, das kann man nicht.

Die taz hatte vom Polizeieinsatz in der Silvesternacht berichtet. Anders als viele, die sich später dazu äußerten, war Korrespondent Christoph Herwartz selbst am Kölner Hauptbahnhof. Er schrieb auf, was er sah, und ordnete es ein. Hunderte junge Männer wurden festgehalten, die der Polizeikategorie „Nafri“ entsprechen: Leute, die „nordafrikanisch“ aussehen und als Wiederholungstäter gelten.

Nun kann die Polizei nicht wissen, wer in einer Gruppe junger Männer ein Wiederholungstäter aus Nordafrika ist, weshalb sie sich anscheinend an Äußerlichkeiten orientierte. „Am Ausgang des Hauptbahnhofs sortierte die Bundespolizei nichtweiße Männer durch eine gesonderte Tür in einen abgeriegelten Bereich des Bahnhofsvorplatzes“, beschrieb Herwartz den Vorgang.

Nicht angebrachte Begriffswahl

Im Rechtsstaat muss bei jeder staatlichen Maßnahme, die Grundrechte von Menschen einschränkt, gefragt werden, ob der Zweck die Mittel heiligt. Wuliger sieht das anders: „Weil diesmal nicht deutsche Hooligans, sondern Angehörige einer ethnischen Minderheit betroffen waren, reagierte das linke politische Spektrum reflexhaft mit Rassismusverdacht“, schreibt er. Und weiter: „Den Vogel schoss dabei die Berliner Tageszeitung ‚taz‘ ab. Deren Korrespondent Christoph Herwartz bezeichnete das Vorgehen der Polizei in seinem Bericht als ‚Selektion‘. In einem Kommentar sprach er von ‚Sonderbehandlung‘.“

Wuliger hat recht, an diesem Vokabular Anstoß zu nehmen. „Sonderbehandlung“ war das Codewort der SS für die Ermordung der europäischen Juden. „Selektion“ ist vielleicht kein „offizieller“ NS-Terminus gewesen (Germanisten und Historiker streiten darüber), aber seit den sechziger Jahren der gängige Begriff, um zu beschreiben, was SS-Männer an der Rampe von Auschwitz taten, wenn sie Menschen aussortierten: Die einen wurden in die Gaskammer geschickt, die anderen der „Vernichtung durch Arbeit“ zugewiesen. Es ist nicht angebracht, mit solchen Begriffen den Polizeieinsatz in Köln zu beschreiben.

Wuliger belässt es aber nicht bei einer Kritik der Wortwahl. „Redaktion und Autor haben bewusst mit Vokabeln hantiert, die selbst bei kritischster Beurteilung der Kölner Polizeiaktion deplatziert in jedem Sinne waren – sachlich, semantisch und moralisch“, unterstellt er.

Die Deutschen hantieren jeden Tag mit Nazi-Vokabeln wie schlagartig

Wie kamen diese Begriffe in Herwartz’ Texte? „Sonderbehandlung“ wurde dem Korrespondenten von einer Redakteurin in seinen Kommentar hineinredigiert. Ihr war die historische Bedeutung des Begriffs nicht bekannt. Sie ist nicht allein. „Sonderbehandlung“ sollte harmlos klingen, die Täter nutzten den Tarnbegriff vor allem intern. Seine Bedeutung im NS-Kontext kennen viele nicht, das Wort wird ständig benutzt. Über 400.000 Treffer listet Google. Die Welt etwa titelte unlängst: „Sonderbehandlung für Ribéry empört den BVB“.

Die Lingua Tertii Imperii ist überall

Die Deutschen hantieren jeden Tag mit Nazi-Vokabeln. Die beliebteste dürfte das Adjektiv „schlagartig“ sein, das Victor Klemperer in seinem Buch über die „Lingua Tertii Imperii“ dem „Blitzkrieg“ zugeordnet hat. Man hört es täglich, es findet sich in Büchern, die als Literatur gefeiert werden, und steht unkommentiert in historischen Abhandlungen. Mindestens so beliebt ist die Formel „im Endeffekt“.

Nicht unwahrscheinlich, dass auch der „Polizeikessel“ auf die „Einkesselungen“ der Wehrmacht zurückgeht. Das Problematische am Fortwirken solcher Begriffe ist, dass sie meist ohne Nachdenken gebraucht werden – im sicheren Bewusstsein, sie seien ganz normal. Das heißt aber nicht, dass nicht ständig Nazi-Begriffe in polemischer Absicht und mit bagetellisierender Wirkung verwendet würden. „Friedensbewegte“ sprachen vom „atomaren Holocaust“, Erbischof Dyba vom „Kinderholocaust“, Neonazis vom „Bombenholocaust“.

Im Bericht von Christoph Herwartz heißt es: „Einen Leitfaden für die Polizisten gab es bei der Selektion nicht. Eine Sprecherin der Bundespolizei sagte der taz, man habe nach der ‚Klientel‘ Ausschau gehalten, die man aus der alltäglichen Arbeit kenne.“ In Herwartz’ Text erscheint „Selektion“ nicht in Anführungsstrichen, aber er hat das Wort, wie er versichert, nicht in polemischer Absicht benutzt.

Es waren Polizeibeamte am Kölner Hauptbahnhof, die zuerst vom „Selektieren“ sprachen, um ihr Tun zu beschreiben. Im Live-Ticker des Kölner Stadt-Anzeigers vom Silvesterabend kann man um 21.32 Uhr lesen: „Die Polizei […] sortiert ganze Gruppen arabisch aussehender junger Männer und Jugendlichen aus. Anwesende Polizisten sprechen von ‚selektieren‘.“ Wenn die Vokabel vor allem in diesem Kontext unangemessen ist, dann muss der Vorwurf der Bagatellisierung auch die Polizisten treffen, die jene Maßnahmen, die Wuliger vehement gegen jede Kritik und „reflexhaften Rassimusverdacht“ verteidigt, selbst als „Selektieren“ bezeichnen.

Falsche Gleichsetzung

Wuliger rechtfertigt den Polizeieinsatz mittels der oft gehörten Gleichsetzung der Maßnahmen mit anderen, die die Polizei „regelmäßig vor Fußballspielen“ durchführe. Diese Gleichsetzung ist falsch. Denn während die einen ihre Fan-Klamotten zu Hause lassen können, ist es „nordafrikanisch“ aussehenden jungen Männern nicht vergönnt, sich mal eben ihrer Haut- und Haarfarbe zu entledigen.

Haben Redaktion und Autor ihre Worte in der Absicht gewählt, die Arbeit der Polizei in Köln mit Nazibegriffen zu denunzieren? Nein, das haben sie nicht. Sollte die Jüdische Allgemeine der Polizei vorwerfen, sie bagatellisiere mit ihrer Wortwahl sachlich, semantisch und moralisch die Schoah? Nein, das sollte sie nicht. Der Vorfall zeigt aber einmal mehr, dass uns Denken und Sprache der NS-Verbrecher näher sind, als uns lieb ist. „Schlagartig“ treten sie uns immer wieder entgegen.

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Ulrich Gutmair
Kulturredakteur
Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).
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32 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Eine inflationäre Verwendung der Begriffe Nazis, Braune, usw. ist schon seit einiger Zeit und in vielen Kommentaren zu taz-Artikeln, etwa über die AfD, Pegida, usw., festzustellen. Nicht alles, was politisch unappetitlich ist, ist gleich nazistisch. Man muss wohl nicht extra daran erinnern, dass in der verbrecherischen Verantwortung der Nazis Millionen von Menschen kaltblütig ermordet wurden.

  • Ach ich bitte euch..Das hat doch nichts mit Verharmlosen zu tun, zumindest nicht primär. Man versucht einfach, den Gegner zu diffamieren, indem man Parallelen zu Nazizeiten zieht und Leute als Nazis darstellt. Guckt euch einfach die Kritik zu Trump in den linken Medien an, die im Grunde nichts anderes macht, als ihn als den neuen Hitler zu präsentiert und ihn somit für komplett unwählbar erklärt

  • Mit Verlaub, ich glaube, Herrn Wuliger liegt da "ein Furz quer".

     

    Vielleicht weil die taz nach der Verurteilung eines israelischen Soldaten durch ein israelisches Militärgericht wegen der Ermordung eines wehrlosen Palästinensers nicht schnell genug Staatschef Netanjahu beisprang, der umgehend Amnestie für den Mörder forderte und versprach?

     

    Ja, "Sonderbehandlung" als Bezeichnung der Arbeit der deutschen Polizei im Umgang mit Zivilisten IST grenzwertig.

     

    Wobei der Umstand, dass die Zivlisten ALLEIN nach äußeren Merkmalen, wie der Hautfarbe, separiert, in ein EIGENS dafür vorbereitetes Areal geführt und dort gesondert und einzeln "behandelt" wurden, die Polizei sich selbst ihres Vorgehens auf diese Art und Weise auch noch rühmt und allrseits wohlwollende zustimmung erhält, diese Grenzwertigkeit angemessen relativiert.

     

    Alles andere über "Selektion", "schlagartig" und "Polizeikessel" ist dann doch eher herbeihalluziniert.

  • Werden nun alle Evolutionsbiologen, Bildungsforscher oder Informatiker das Lehnwort Selektion aus ihren Sätzen streichen, weil sie erfahren haben, dass es schon in der Debatte um NS-Verbrechen "verfeuert" wurde?

     

    Vermutlich nicht. Man KÖNNTE die Behauptung, die taz verharmlose absichtlich die NS-Verbrechen an den Juden, schon deswegen "so stehen lassen", weil die aller meisten Leute sie a) nicht zur Kenntnis und b) selbst dann nicht ernst nehmen würden, wenn sie die JA lesen täten.

     

    Michael Wuliger ist (hoffentlich) kein Andres Breivik oder Anis Amri. Er ist der Sprache mächtig, will seine Gegner also offenbar mit Worten umzubringen. Das ist nicht so ganz einfach - und genau deshalb reizvoll, schätze ich. An Worten ist noch nie jemand gestorben. Wer sich nicht selbst umbringt nach einem Wort-Angriff, der kann ihn ganz gut überleben. Zumal auf eine JA-Kolumne hin die taz vermutlich nicht verboten wird oder taz-Journalisten in den Knast gesteckt.

     

    Man ist allerdings auch nicht daran gehindert, Herrn Wuliger beim Eitel-wütend-in-den-Spiegel-Glotzen zu belästigen. Man MUSS die irre Behauptung NICHT ganz unkommentiert stehen (und in Vergessenheit geraten) lassen. Man darf sich damit auseinandersetzen, auch wenn das dem Verfasser vielleicht nicht gefällt. Genau deshalb, schätze ich, ist dieser Kommentar erschienen.

     

    Die Nazis haben zwar nicht, wie geplant, 1000 Jahre lang regiert, aber immerhin so lange, dass sie einen beträchtlichen Teil aller deutschen Worte benutzt haben dürften. Die Sprache hat die Vergewaltigung (knapp) überlebt. Sie nun zur Strafe zu verstümmeln, ist unfair, finde ich. Man darf nach Katastrophen nicht verstummen. Man muss darüber reden. Schon um neuen Katastrophen vorzubeugen. Notfalls auch aus gegebenem Anlass.

     

    Niemand sollte sich den Mund verbieten lassen. Außer vielleicht vom eigenen Gewissen, dem eigenen Verstand oder der eigenen Vernunft - so es sie gibt.

    • @mowgli:

      "Werden nun alle Evolutionsbiologen, Bildungsforscher oder Informatiker das Lehnwort Selektion aus ihren Sätzen streichen, weil sie erfahren haben, dass es schon in der Debatte um NS-Verbrechen "verfeuert" wurde?"

       

      Sicher nicht. Verlangt auch niemand.

       

      Auf den Kontext kommt es an. Der ist in Bezug auf das Vorgehen der Polizei in de Silvesternacht vor allem politisch und betrifft ganz besonders das Minenfeld rund um rassistische Generalverdächtigungen. In DIESEM Kontext sind "Selektion" und "Sonderbehandlung" mehr als reine Semantik, und ein taz-Reporter oder eine taz-Redakteurin, die mit der Berichterstattung darüber betraut ist, sollte sich dessen eigentlich bewusst sein, solche Worte also nur mit Bedacht wählen und dafür dann auch geradestehen.

       

      Evolutionsbiologen, Bildungsforscher und Informatiker sortieren nicht angetrunkene Silvesterbesucher nach augenscheinlichem Bedrohungsgrad oder kommen je in den Verdacht, gezielt "Nafris" in einer Hundertschaft bewaffneter Staatsdiener einzukesseln. Also weckt die Verwendung solcher Begriffe in IHREM Kontext auch nicht so stark die Assoziationen, auf die Wuliger anspielt.

  • Tut mir herzlich leid. Hier können Sie sich nicht rauswinden. "„Sonderbehandlung“ wurde dem Korrespondenten von einer Redakteurin in seinen Kommentar hineinredigiert. Ihr war die historische Bedeutung des Begriffs nicht bekannt." Entweder hat die Redakteurin dann ihren Beruf verfehlt, oder es war Absicht, die Polizeimaßnahmen zu diskreditieren.

  • Wenn schon alle möglichen und unmöglichen Nummernschildkombinationen verboten sind, warum dann nicht komplette Wörter?

    http://www.spiegel.de/auto/aktuell/verbotene-kfz-kennzeichen-keine-nazi-nummernschilder-a-1025284.html

  • Sorry, aber wenn ich eingestehen müsste, dass eine Redakteurin meiner in Sachen Faschismus hochsensiblen Zeitung keine Ahnung hatte, welche historische Bedeutung das Wort "Sonderbehandlung" - im Zusammenhang mit staatlichem Rassismus, wohlgemerkt - in Deutschland hat, dann gäbe es darauf für mich nur eine legitime Reaktion: Rückhaltlos und ohne defensives "aber..." um Verzeihung Bitten. So ein Lapsus wäre mir, wenn er keine Schutzbehautung ist, im besten Fall immer noch hochpeinlich.

     

    Auch das Wort "Selektion" ist hinreichend vorbelastet, dass jeder HALBWEGS politisch gebildete Deutsche bei seiner Verwendung erst einmal zusammenzuckt. Wenn die Polizei es verwendet hat, ist das mindestens mal ungeschickt (aber *vielleicht* noch durch Latinismus-affinen Bürokratensprech zu erklären). Wenn diese Begriffswahl dann im Bericht ausdrücklich zitiert und aufgenommen wird, liegt der Gedanke zumindest SEHR nahe, dass das mit Vorbedacht geschieht.

     

    Daher halte ich Wuligers kritische Analyse für völlig nachvollziehbar. Sie bedarf aus meiner Sicht vonseiten der taz KEINER widerlegenden Replik, sondern allenfalls einer erklärenden Entschuldigung. Aus Empfängersicht musste er die absichtsvolle Verwendung dieser Begriffe für deutlich wahrscheinlicher halten als die harmlosere Variante, von der dieser Kommentar erzählt.

  • Man kann sich natürlich dafür entscheiden, solche Begriffe als “Nazi-Vokabular“ abzutun, sich dafür entschuldigen, versichern dass es nie wieder vorkommt und “Selektion“ und “Sonderbehandlung“ auf seine schwarze Liste zu schreiben.

    Das macht das ganze aber recht einseitig, schränkt ein, und fordert künftig nur noch mehr Konflikte.

     

    Es gibt Begriffe, die beschreiben Zustände oder Prozesse. Dass diese Begriffe von Verbrechern genutzt und instrumentalisiert werden ist unumgänglich.

    Doch damals wie heute bedeutet das Wort "Selektion" ganz einfach "Auslese, Auswahl". In der Evolutionsbiologie spricht man nach wie vor von der "natürlichen Selektion" und dieser Begriff wird genau so in Biologie-Büchern abgedruckt, Schüler lernen ihn vorwurfslos auswendig.

     

    Dass der Begriff der Selektion in einem Kapitel der Geschichte für einen unmenschlichen Prozess verwendet wurde, sollte nicht in Vergessenheit geraten, doch sollte man sich dadurch auch nicht fesseln lassen und sich zwanghaft einen Begriff verbieten lassen.

     

    Dass in der Sprache der Nazis auch viele beleidigende und diffamierende Begriffe aufkamen streite ich damit nicht ab und würde auch niemals jemanden als "Volksschädling" o.Ä. bezeichnen. Aber "Volksschädling" (als aggressiver, irrationaler Begriff) und "Selektion" (als nüchterner, rationaler Begriff) gehören nicht in dieselbe sprachliche Kategorie.

     

    Zudem reicht es nicht Begriffe, die in diesem Fall in einen Artikel verwendet wurden, an einen spezifischen historischen Kontext zu koppeln und daraus Vorwürfe zu konstruieren. In erster Linie sollte man erkennen in welchem Kontext der Begriff innerhalb des Artikels verwendet wird.

     

    Und, da die Zeit immer weiter voran schreitet, entfernen wir uns von der Nazi-Zeit, alte Generationen verschwinden, neue entstehen. Dass es heutzutage also Menschen gibt, die, wie redigierende Redakteurin, von dem Nazi-Kontext in dem Wort "Selektion" nicht wussten, ist keine Ausnahme, keine Seltenheit und wird es auch vermehrt geben.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Ich bin kein Linguist und habe weder Zeit noch Befähigung für eine tiefergreifende Analyse des Nazi-Jargons, trotzdem eine Bemerkung.

    Selektion ist ursprünglich kein deutsches Wort und es ist natürlich zuerst auch kein Nazi-Begriff. Es beschreibt allerdings genau mit diesem Wort was die deutschen faschistischen Schergen getan haben und es wurde zeitgenössich sowohl von den Verbrechern selber als auch später von ihren Anklägern genau mit diesem Wort über diese Vorgänge gesprochen.

    Der schreckliche Vorgang, ob er nun in psychiatrischen Anstalten oder auf Eisenbahn-Rampen stattgefunden hat, ist damit völlig zutreffend und erst mal neutral beschrieben. Der Schrecken der Geschehnisse mag für viele aufs engste mit dem Wort verbunden sein, doch der Schrecken ist nicht durch das Wort in die Welt gekommen. Er wird auch nicht verschwinden, wenn wir das Wort eliminieren und denselben Vorgang anders umschreiben.

    Es gibt Millionen von anderen Zusammenhängen, wo ein Vorgang des Auslesens mit 'Selektion' richtig und knapp beschrieben ist. Der Bereich der Biologie ist vielleicht am bekanntesten dafür.

    Dass von den Nazis biologische Erkenntnisse missbraucht und völlig verhunzt in ihr sozial-darwinistisch rassistisches Weltbild integriert wurden und die jeweiligen Begriffe gekapert wurden, dafür kann der Rest der (biologischen) Wissenschaft nichts.

    Für den Journalisten, der von aktuellen Ereignissen berichten möchte, ist alles sehr viel heikler geworden. Ein Vorgang auf einer Rampe vor ein paar Jahrzehnten, ein anderer in einem Bahnhofsbereich in einer Silvesternacht - die Analogie liegt für die hier Kommentierenden offenbar auf der Hand.

    Unsere Sprache mit der wir die Gegenwart beschreiben drückt, ob wir wollen oder nicht, in jedem Moment aus, wie bewusst wir unserer Geschichte sind. Daher unbedingt: achtsamster Umgang mit unserer Sprache, in jedem Kontext. Generelles Verbot von irgendwie belasteten Begriffen jedoch - nein.

  • Aktuell soll jede wie auch immer geartete Kritik an Vorgehensweisen gegen Asylbewerber / Flüchtlinge möglichst umfassend "plattgemacht" werden, das zeigt nicht nur der Kommentar von Wuliger, das zeigen auch die nachgerade hysterischen Reaktionen auf den Tweet von Peter.

    Ich solltet es aber diesen Leuten nicht so leicht machen, liebe TAZ.

  • Bei allem Verständnis dafür, dass man sich einen sorgfältigen Umgang mit Sprache wünscht - man kann es auch übertreiben.

     

    Statt nun eine "Schuld" bei der Redakteurin zu suchen könnte man auch einfach unterstellen, dass sie ihre Arbeit macht. Im Zweifel wird sie dabei auf das Standardwerk zur deutschen Sprache zurückgreifen: Den Duden.

     

    Und dort lesen wir über Selektion (http://www.duden.de/rechtschreibung/Selektion), dass es ein bildungssprachliches Synonym für Auswahl ist. Insofern gibt es hier nichts, aber auch gar nichts, was man der Redakteurin moralisch vorwerfen müsste. Sollte.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    "Wuliger hat recht, an diesem Vokabular Anstoß zu nehmen. „Sonderbehandlung“ war das Codewort der SS für die Ermordung der europäischen Juden."

     

    Hat er nicht. "Sonderbehandlung" ist genausowenig eine Erfindung der Nazis wie "Selektion".

     

    Klemperer hat in seinem Buch Lingua Tertii Imperii darauf aufmerksam gemacht, worum es bei der Sprache der Nazis geht:

     

    "Das „Dritte Reich“ hat die wenigsten Worte seiner Sprache selbstschöpferisch geprägt, vielleicht,

    wahrscheinlich sogar, überhaupt keines. Die nazistische Sprache weist in vielem auf das Ausland zurück,

    übernimmt das meiste andere von vorhitlerischen Deutschen. Aber sie ändert Wortwerte und

    Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe

    gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie

    Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen

    System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes

    Werbemittel."

     

    Daher können Einzelwörter, die von den Nazis "zweckentfremdet" wurden, heute nicht in dem Sinne der Nazis verstanden werden, wenn sie nicht auch in dem von diesen intendierten Sinne gebraucht werden.

     

    Wer sie dennoch entgegen dem sprachlichen Kontext im Sinne der Nazis verstehen will, betreibt Sprach- und Geschichtsklitterung und verharmlost zudem die Naziterminologie, indem er die offenbar gebotene Sonderbehandlung und Selektion potentieller "Nafris" mit der Selektion an den Rampen und der Sonderbehandlung in den Gaskammern vergleicht.

    • @849 (Profil gelöscht):

      Klemperer hat in seinem Buch Lingua Tertii Imperii darauf aufmerksam gemacht, worum es bei der Sprache der Nazis geht: …ff

       

      Danke - mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

      Die allfällige Wortjägerei in combi mit

      Blockwart&Empörmentalität ist

      Schlicht wohlfeil.

  • Vorsicht ist geboten, wenn man Sprache benutzt. Sie kann verletzen, verharmlosen, relativieren. Dies gilt natürlich, wenn es sich um Begriffe handelt, die während der NS-Zeit Bedeutung erlangt haben. Dennoch bin ich der Ansicht, Herr Wuligers Anschuldigungen sind nicht in Gänze nachzuvollziehen.

     

    Schon seit 1945 müht sich Deutschland mit seiner Sprache, die auch Sprache der Täter ist, jedoch nicht neu erfunden werden kann. Originäre NS-Begriffe ("Volksschädling", "Vernichtung durch Arbeit") sind eindeutig, werden (mit Ausnahme von Historikern) ausschließlich von Extremisten verwendet. Haltlose Vergleiche (Peta, „Hühner-KZ“)werden bestraft, dumme („Gestapo-Methoden“) geächtet.

    Es gibt jedoch Zwitter-Begriffe, die die NS-Zeit überdauert haben. Wer sich heute mit Genosse anredet, denkt nicht an den „Partei-Genossen“, die Friedens-“Bewegung“ darf sich so nennen, wie die NSDAP ihre Partei, der Spruch „Jedem das Seine“ steht heute noch in vielen Gerichten – diese ursprünglich für Gerechtigkeit und faires Rechtsverfahren stehende Wendung wollte man den NS-Verbrechern bewusst nicht überlassen und der „Führer“ (eines Fahrzeugs) steht sogar noch im Gesetz und im Gegensatz zur NS-Zeit haftet er sogar für Schäden, die er angerichtet hat (§18 I StVG).

     

    Natürlich war es falsch, in diesem Zusammenhang von „Selektion“ zu sprechen. Dieser Begriff ist eindeutig und steht nur noch den Historikern, Medizinern und Biologen im Fachgespräch zu. Von Sonderbehandlung hingegen hören und lesen wir beinahe ständig. Privatpatienten erhalten sie, Parteien, Beamte – kurzum jeder, durch den wir selbst uns gerade übervorteilt fühlen. Hier einen NS-Bezug zu erkennen wirkt doch etwas konstruiert. Aber vielleicht wollte Herr Wuliger einfach nur für mehr Sensibilität im Umgang mit der deutschen Sprache werben, dann wäre sein Ansinnen ehrbar. Vielleicht aber wollte er sich auch nur wieder ins Gespräch bringen und damit sein Hausblättle, das sicherlich nicht für seine zurückhaltende Wortwahl bekannt ist.

  • „„Sonderbehandlung“ wurde [...] von einer Redakteurin [...] hineinredigiert. Ihr war die historische Bedeutung des Begriffs nicht bekannt. Sie ist nicht allein. [...] Seine Bedeutung im NS-Kontext kennen viele nicht[...]

     

    Ein wirklich großes Problem unserer Zeit!

    Allzu viele wissen einfach nicht mehr gut genug Bescheid...

     

    Aber, leicht überspitzt: "Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen". (Heiner Müller)

    • @Jürgen Decker:

      Jürgen, "Bescheid wissen" über Verbrechen bedeutet nicht, dass man dann auch in der Sprache der Verbrecher darüber denken und reflektieren muss. Außerdem entstanden die schlimmsten Sprachentgleisungen beim verbrecherischen Tun oder frohlockendem Berichten darüber, behaupte ich zumindest mal. Daher ist es ein gutes Zeichen, wenn die verbrecherische Verwendung einer Sprache aus dieser verschwindet. Gedenken, Wissen und Verantwortung sind dennoch möglich.

  • Wir können nicht schreiben.

    Wir haben keine Ahnung.

    Unser Geschichtslehrer war länger krank.

    Unser Deutschlehrer auch.

    • @Berlijner:

      ... und wir haben doch nur abgeschrieben. Von der Pokizei...

  • Coole Selbstreflektion. Danke.

  • Wuliger liegt richtig in seiner Einschätzung. Pathetische Vokabeln aus der Nazizeit zu verwenden ist das eine. Sich nun, angesichts der deftigen Reaktion, mit windigen Rechtfertigungen und vorgegaukelter Unwissenheit aus der Affäre ziehen zu wollen, ist nicht korrekt. Es verschlimmert nur.

    Ist es nicht bezeichnenderweise die TAZ, die seit geraumer Zeit Wert auf größtmögliche PC legt und gegebenenfalls sehr schnell die Rassismuskeule schwingt?

    Ihr solltet Euch Euren eigenen Maßstäben messen lassen, liebe TAZ, das ist nur konsequent!

  • Es ist nun mal immer noch die selbe Sprache, wie vor 45. Da kann man machen was man will, auch Nazis haben die selben Wörter wie wir benutzt und benutzen sie noch immer.

    Das bestimmte Wörter explizit von den Nazis erfunden wurden und weiterhin benutzt werden ist in der Tat problematisch, aber in einigen Fällen auch schlecht zu ändern.

    In der Pflanzenzucht spricht man z.B. auch von selektieren, aber es verbindet dabei bestimmt niemand mit dem Holocaust, es ist ein notwendiges Wort, ein Ersatz durch ein anderes Wort änderte nichts an der eigentlichen Tätigkeit.

    Die eigentliche Gemeinsamkeit besteht in der beschriebenen Tätigkeit.

    Der Unterschied ist die Intention.

     

    Man kann die Sache von zwei Seiten sehen, entweder tabuisiert man alles sprachliche was jemals mit den Nazis in Verbindung stand oder man bringt diese Wörter wieder in einen humaneren Zusammenhang und (zugegeben etwas sehr romantisiert) entreißt sie so den Verbrechern von damals.

    Beides ändert nichts an den Verbrechen von damals, weder wiederholt es sie noch macht es sie vergessen.

    Leider geht es bei dem Kampf um Wörter viel mehr um Deutungshoheit und damit um pure Macht.

    Wenn der Falsche es zur falschen Zeit benutzt wird es problematisiert, die tausende Male die es andere benutzen werden ausgeblendet. Das ist Willkür und sehr problematisch.

    Der eigentliche Kampf sollte jedoch den Taten gelten.

    • @nutzer:

      Dem kann ich eigentlich nichts hinzufügen.

    • @nutzer:

      Der Gedanke, das es sich hier letztlich um Machtspielchen handelt ist eine interessante Analyse

  • Ich finde es schwierig, Begriffe, die im allgemeinen Sprachgebrauch dauernd verwendet werden, als Nazivokabular zu bezeichnen.

    Begriffe wie schlagartig, Sonderbehandlung und Selektion (dieser Begriff wird völlig unpolitisch in der Biologie verwendet) sollten nutzbar sein, ohne eine politische Debatte auszulösen.

    Mit diesen Worten wird nichts verzerrt oder relativiert, sie werden überall und jederzeit genutzt. Bei "schlagartig" und "Selektion" gibt noch nicht einmal der Duden einen Hinweis.

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @EntroPia:

      Bei "Selektion" gibt Wiktionary einen Hinweis auf die "Ausmusterung" von KZ-Gefangenen.

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Sehr heikel. Ab sofort mehr "Anführungszeichen" verwenden schadet nicht und man bleibt auf der "sicheren" Seite.

    • @571 (Profil gelöscht):

      Dazu muss man die ganzen sog. "Nazibegriffe" aber tatsächlich erst mal als solche kennen.

       

      Mir sind die ehrlich gesagt neu, lerne aber gerne dazu.

      • 5G
        571 (Profil gelöscht)
        @Hanne:

        Geht mir genauso.

        Mir ist es aber auch wichtig, dass ich Naivling mich nicht irgendwann sprachlich in der ganz rechten Ecke wiederfinde, ohne es bemerkt zu haben.

        Wäre höchst peinlich.

  • "Wiederholungstäter" ist nicht richtig. Entweder "Intensivtäter" oder ganz drauf verzichten.

    • 8G
      81331 (Profil gelöscht)
      @Sapasapa:

      mit "Intensivtäter" meint die Polizei letztendlich "Wiederholungstäter".

      • @81331 (Profil gelöscht):

        Das glaube ich nicht. "Die Polizei" "meint" überhaupt nichts. Sie hat nämlich kein Hirn.

         

        Vermutlich gibt es Polizisten, die vor dem Reden ihr Gehirn einschalten. Diese Leute meinen, was sie sagen (und umgekehrt). Intensivtäter sind für sie Täter, die besonders brutal, gründlich und/oder eindrucksvoll vorgehen bei ihrer Tat. Bagatelldelikte hingegen sind für solche Polizisten keine Intensivdelikte. Auch dann nicht, wenn sie mehr als einmal begangen werden - und nicht einmal in den Fällen, in denen der Verdächtige (urteilen darf erst das Gericht!) nicht weiß ist und nicht hier geboren.

         

        Leider gibt es vermutlich auch die anderen, die Untertanen-Polizisten. Die richten sich danach, was Leute in die Landschaft brüllen. Für die kann ein Intensivtäter auch jemand sein, der jeden zweiten Vormittag aus Hunger eine Banane klaut im Supermarkt – vorausgesetzt, dieser Mensch ist ein Asylbewerber oder ein Farbiger. Vor allem dann, wenn ihm sein (Führungs-)Offizier befiehlt, die Sache so zu sehen. Damit der rechte Mob nicht all zu sauer wird in Anbetracht der "Schlamperei", die das "Verbrechen" nicht verhindert hat.

         

        Was meinen Sie, werter VIRILIO: Zu welcher Gruppe würden Sie gehören, wenn Sie ein Polizist wären?