Debatte um Nazi-Vokabular in der taz: Vom Sagen und Meinen
Der taz wurde in der Debatte über den Kölner Polizeieinsatz die bewusste Verwendung von Nazi-Vokabular unterstellt. Eine Replik.
U nter der Überschrift „Selektion in Köln?“ legte Michael Wuliger am vergangenen Donnerstag in der Jüdischen Allgemeinen dar, „wie die Berliner Tageszeitung ,taz' die Schoa bagatellisiert“. Er bezog sich auf einen Bericht und einen Kommentar eines taz-Autors, in denen von „Sonderbehandlung“ und „Selektion“ die Rede war. Als sei dieser Vorwurf nicht heftig genug, unterstellte Wuliger in seiner Kolumne „Wuligers Woche“ Absicht. Kann man das so stehen lassen? Nein, das kann man nicht.
Die taz hatte vom Polizeieinsatz in der Silvesternacht berichtet. Anders als viele, die sich später dazu äußerten, war Korrespondent Christoph Herwartz selbst am Kölner Hauptbahnhof. Er schrieb auf, was er sah, und ordnete es ein. Hunderte junge Männer wurden festgehalten, die der Polizeikategorie „Nafri“ entsprechen: Leute, die „nordafrikanisch“ aussehen und als Wiederholungstäter gelten.
Nun kann die Polizei nicht wissen, wer in einer Gruppe junger Männer ein Wiederholungstäter aus Nordafrika ist, weshalb sie sich anscheinend an Äußerlichkeiten orientierte. „Am Ausgang des Hauptbahnhofs sortierte die Bundespolizei nichtweiße Männer durch eine gesonderte Tür in einen abgeriegelten Bereich des Bahnhofsvorplatzes“, beschrieb Herwartz den Vorgang.
Nicht angebrachte Begriffswahl
Im Rechtsstaat muss bei jeder staatlichen Maßnahme, die Grundrechte von Menschen einschränkt, gefragt werden, ob der Zweck die Mittel heiligt. Wuliger sieht das anders: „Weil diesmal nicht deutsche Hooligans, sondern Angehörige einer ethnischen Minderheit betroffen waren, reagierte das linke politische Spektrum reflexhaft mit Rassismusverdacht“, schreibt er. Und weiter: „Den Vogel schoss dabei die Berliner Tageszeitung ‚taz‘ ab. Deren Korrespondent Christoph Herwartz bezeichnete das Vorgehen der Polizei in seinem Bericht als ‚Selektion‘. In einem Kommentar sprach er von ‚Sonderbehandlung‘.“
Wuliger hat recht, an diesem Vokabular Anstoß zu nehmen. „Sonderbehandlung“ war das Codewort der SS für die Ermordung der europäischen Juden. „Selektion“ ist vielleicht kein „offizieller“ NS-Terminus gewesen (Germanisten und Historiker streiten darüber), aber seit den sechziger Jahren der gängige Begriff, um zu beschreiben, was SS-Männer an der Rampe von Auschwitz taten, wenn sie Menschen aussortierten: Die einen wurden in die Gaskammer geschickt, die anderen der „Vernichtung durch Arbeit“ zugewiesen. Es ist nicht angebracht, mit solchen Begriffen den Polizeieinsatz in Köln zu beschreiben.
Wuliger belässt es aber nicht bei einer Kritik der Wortwahl. „Redaktion und Autor haben bewusst mit Vokabeln hantiert, die selbst bei kritischster Beurteilung der Kölner Polizeiaktion deplatziert in jedem Sinne waren – sachlich, semantisch und moralisch“, unterstellt er.
Wie kamen diese Begriffe in Herwartz’ Texte? „Sonderbehandlung“ wurde dem Korrespondenten von einer Redakteurin in seinen Kommentar hineinredigiert. Ihr war die historische Bedeutung des Begriffs nicht bekannt. Sie ist nicht allein. „Sonderbehandlung“ sollte harmlos klingen, die Täter nutzten den Tarnbegriff vor allem intern. Seine Bedeutung im NS-Kontext kennen viele nicht, das Wort wird ständig benutzt. Über 400.000 Treffer listet Google. Die Welt etwa titelte unlängst: „Sonderbehandlung für Ribéry empört den BVB“.
Die Lingua Tertii Imperii ist überall
Die Deutschen hantieren jeden Tag mit Nazi-Vokabeln. Die beliebteste dürfte das Adjektiv „schlagartig“ sein, das Victor Klemperer in seinem Buch über die „Lingua Tertii Imperii“ dem „Blitzkrieg“ zugeordnet hat. Man hört es täglich, es findet sich in Büchern, die als Literatur gefeiert werden, und steht unkommentiert in historischen Abhandlungen. Mindestens so beliebt ist die Formel „im Endeffekt“.
Nicht unwahrscheinlich, dass auch der „Polizeikessel“ auf die „Einkesselungen“ der Wehrmacht zurückgeht. Das Problematische am Fortwirken solcher Begriffe ist, dass sie meist ohne Nachdenken gebraucht werden – im sicheren Bewusstsein, sie seien ganz normal. Das heißt aber nicht, dass nicht ständig Nazi-Begriffe in polemischer Absicht und mit bagetellisierender Wirkung verwendet würden. „Friedensbewegte“ sprachen vom „atomaren Holocaust“, Erbischof Dyba vom „Kinderholocaust“, Neonazis vom „Bombenholocaust“.
Im Bericht von Christoph Herwartz heißt es: „Einen Leitfaden für die Polizisten gab es bei der Selektion nicht. Eine Sprecherin der Bundespolizei sagte der taz, man habe nach der ‚Klientel‘ Ausschau gehalten, die man aus der alltäglichen Arbeit kenne.“ In Herwartz’ Text erscheint „Selektion“ nicht in Anführungsstrichen, aber er hat das Wort, wie er versichert, nicht in polemischer Absicht benutzt.
Es waren Polizeibeamte am Kölner Hauptbahnhof, die zuerst vom „Selektieren“ sprachen, um ihr Tun zu beschreiben. Im Live-Ticker des Kölner Stadt-Anzeigers vom Silvesterabend kann man um 21.32 Uhr lesen: „Die Polizei […] sortiert ganze Gruppen arabisch aussehender junger Männer und Jugendlichen aus. Anwesende Polizisten sprechen von ‚selektieren‘.“ Wenn die Vokabel vor allem in diesem Kontext unangemessen ist, dann muss der Vorwurf der Bagatellisierung auch die Polizisten treffen, die jene Maßnahmen, die Wuliger vehement gegen jede Kritik und „reflexhaften Rassimusverdacht“ verteidigt, selbst als „Selektieren“ bezeichnen.
Falsche Gleichsetzung
Wuliger rechtfertigt den Polizeieinsatz mittels der oft gehörten Gleichsetzung der Maßnahmen mit anderen, die die Polizei „regelmäßig vor Fußballspielen“ durchführe. Diese Gleichsetzung ist falsch. Denn während die einen ihre Fan-Klamotten zu Hause lassen können, ist es „nordafrikanisch“ aussehenden jungen Männern nicht vergönnt, sich mal eben ihrer Haut- und Haarfarbe zu entledigen.
Haben Redaktion und Autor ihre Worte in der Absicht gewählt, die Arbeit der Polizei in Köln mit Nazibegriffen zu denunzieren? Nein, das haben sie nicht. Sollte die Jüdische Allgemeine der Polizei vorwerfen, sie bagatellisiere mit ihrer Wortwahl sachlich, semantisch und moralisch die Schoah? Nein, das sollte sie nicht. Der Vorfall zeigt aber einmal mehr, dass uns Denken und Sprache der NS-Verbrecher näher sind, als uns lieb ist. „Schlagartig“ treten sie uns immer wieder entgegen.
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