Debatte über Atomkraft: Unter Strom
Wie weiter mit den drei noch aktiven AKWs? Während Minister Habeck auf einen Kompromiss setzt, sieht die FDP darin einen Wahlkampfhit.
Der Kampf gegen das AKW geht weiter in Lingen. Hier, ganz im Westen von Niedersachsen, liegt das Kernkraftwerk Emsland. Ende des Jahres soll es vom Netz gehen, endgültig, nicht in den Streck- und auch nicht in den Reservebetrieb. Das scheint seit dieser Woche klar zu sein. Und trotzdem wollen sie hier demonstrieren, am 1. Oktober, eine Woche vor der Landtagswahl. „Natürlich freuen wir uns, dass der Kelch an uns vorübergeht“, sagt Alexander Vent von AgiEL, dem örtlichen Bündnis gegen Atomkraft. Aber ausgestanden sei die Debatte noch lange nicht.
Das liegt erstens daran, dass das Atomkraftwerk in Lingen nicht das einzige Problem ist. Hier ist außerdem eine Brennelementefabrik ansässig, die halb Europa mit frischen Brennstäben versorgt. Gerade ist wieder ein Uran-Transport aus Russland auf dem Weg dorthin – weder der deutsche Atomausstieg noch die Sanktionen gegen Russland halten ihn auf.
Zweitens trauen sie hier aber auch Robert Habecks Kraftwerksentscheidung noch nicht ganz. Eine kleine Hintertür hält sein Plan schließlich für die Atomkraft in Deutschland offen. „Es ist schon schmerzhaft, so etwas von einem grünen Wirtschaftsminister serviert zu bekommen. Natürlich hätten wir uns ein konsequenteres Festhalten am Ausstieg gewünscht.“
Zu Beginn der Woche hatte der Vizekanzler die Ergebnisse des Stresstests zur Energiesicherheit im Winter vorgestellt – und seine Schlussfolgerung für die drei am Netz verbliebenen deutschen Kernkraftwerke. Sein Vorschlag ist ein Kompromiss: Die drei Kraftwerke gehen nicht einfach so in den Streckbetrieb, laufen also zunächst nicht für drei Monate mit fast leeren Brennstäben weiter, was zwar zusätzlichen Strom gebracht hätte, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit an Fraktion und Basis der Grünen gescheitert wäre. Alles macht die Partei auch im Jahr 2022 nicht mit.
Auf der anderen Seite hatte der Stresstest, durchgeführt von den Netzbetreibern, ergeben, dass die Atomkraftwerke im Winter durchaus ein „Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen“ sein könnten. Für solche Notsituationen müssten zwar erst mal mehrere ungünstige Rahmenbedingungen zusammenkommen. Auszuschließen ist das aber nicht, weshalb Habeck zumindest bei den Kraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim mit dem Rückbau warten will. Sollte es wirklich nötig werden, könnten sie aus der Reserve zurück ans Netz gehen.
Grüne Basis, CDU und FDP wollen keinen Kompromiss
Im günstigsten Fall hätte dieser Vorschlag die Debatte beendet. Das ist ja der Vorteil von Kompromissen: Wenn es gut läuft, findet sich darin jeder wieder. In diesem Fall läuft es aber nicht gut. Die Diskussion geht einfach weiter.
Auf der einen Seite sind Atomkraftgegner*innen wie Alexander Vent aus dem Emsland unglücklich über Habecks Entscheidung. Von der anderen Seite kritisieren ihn die AKW-Befürworter*innen, die mehr wollen als einen Notbetrieb.
Ihre Kritik könnte in der Bevölkerung verfangen. Im aktuellen Politbarometer verlieren die Grünen drei Prozentpunkte. Robert Habeck, auch wegen Fehlern bei der Gasumlage und einem unglücklichen Talkshow-Auftritt in der Kritik, verlor in der Umfrage persönlich an Zustimmung. Er ist jetzt nur noch der beliebteste Politiker Deutschlands, nicht mehr der mit Abstand beliebteste.
Immerhin: Die eigenen Leute werden seinen Atomplan wohl nicht durchkreuzen. Aktuell sieht alles danach aus, dass seine Partei mit dem Reserve-Kompromiss zufrieden ist. Bislang hat kein einziger berühmter Grüner den Vorschlag öffentlich kritisiert, auch Jürgen Trittin nicht, der in den vergangenen Wochen am vernehmbarsten gegen einen Streckbetrieb getrommelt hatte.
Auf dem Parteitag Mitte Oktober wird natürlich über das Thema diskutiert und abgestimmt; voraussichtlich wird die Bundestagsfraktion davor im Parlament kein grünes Licht geben. Aber ob der Reservebetrieb daran scheitert? Einen Dringlichkeitsantrag aus der Basis gibt es zwar schon. Darin heißt es, der Parteitag lehne „jegliche Änderung des Atomgesetzes ab“ und fordere „Fraktion, Regierungsmitglieder und Bundesvorstand auf, dies umzusetzen“. Grünen-Mitglied Karl-Wilhelm Koch, in der Partei bekannt als eifriger, aber oft erfolgloser Antragssteller, hat ihn eingereicht. 51 Unterstützer*innen haben bislang unterzeichnet. Solange keine prominente Stimme für ein Veto des Parteitags wirbt, sind die Erfolgsaussichten fraglich.
Am Donnerstagabend zumindest macht Habeck, trotz des ganzen Ärgers der letzten Tage, einen aufgeräumten Eindruck. In einem Lokal in Berlin-Friedrichshain veranstaltet Greenpeace sein Sommerfest. Der Wirtschaftsminister hatte schon vor Wochen sein Kommen angekündigt, an die Zusage hält er sich. Bei den Umweltverbänden ist man nicht glücklich mit dem neuen Atomkompromiss, trotzdem verläuft der Termin für Habeck als Heimspiel. „Atomkraft ist das Problem und nicht die Lösung“, sagt er. Es klingt nach einem Versprechen, über den Reservebetrieb hinaus wirklich keine weiteren Zugeständnisse zu machen. Das kommt an: Zur Verabschiedung gibt es kräftigen Applaus für den Grünen.
Reservebetrieb hat technische Tücken
Schwieriger hat es Habeck an anderer Stelle. Zum einen bei den Gesetzen der Physik und bei PreussenElektra, dem Betreiber des Kraftwerks Isar 2. Dieser hatte dem Wirtschaftsministerium am Dienstag einen Brief geschickt und kundgetan, dass der Reservebetrieb technisch schwierig bis unmöglich sei. Das Ministerium antwortete, dass die Konzern-Bosse den Habeck-Plan wohl nicht richtig verstanden hätten. Dabei könnte es technische Hürden tatsächlich geben.
Vereinfacht dargestellt: Ist ein Brennelement neu, wird dem Kühlwasser viel Bor beigemischt. Das Halbmetall wirkt wie eine Handbremse und verhindert, dass zu schnell zu viele Kernspaltungen stattfinden. Ist der Reaktorkern irgendwann fast ausgebrannt, wird die Handbremse gelockert. Das Bor muss raus, damit noch Energie entsteht. Schwierig wird es, wenn das Kraftwerk erst runterfährt (Handbremse an, viel Bor rein) und dann doch wieder mit altem Brennelement laufen soll (Bremse lösen, Bor raus). Der Austausch des Kühlwassers könnte sehr lange dauern. Zu lange für einen effektiven Reservebetrieb? Man kläre das jetzt mit den Betreibern, sagte am Freitag ein Sprecher des Habeck-Ministeriums.
Die FDP will mit Atomstrom Wählerstimmen gewinnen
Zum anderen machen die AKW-Fans in der Politik dem Vizekanzler Probleme. In Lingen im Emsland machen nicht nur die Atomkraftgegner*innen mobil. Plötzlich geben sich hier auch die Spitzenkandidaten für die niedersächsische Landtagswahl die Klinke in die Hand. Am Montag werden FDP-Landeschef Stefan Birkner und Bundestagsfraktionschef Christian Dürr erwartet.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die FDP in Niedersachsen ist entschlossen, sich diesen Wahlkampfschlager nicht entgehen zu lassen. „Atomkraft: Wer FDP wählt, wählt sichere Stromversorgung“ wird jetzt großflächig plakatiert. Als ob diese Frage im niedersächsischen Landtag entschieden würde.
„Nein, natürlich wird sie das nicht. Aber die Sorgen um die Energieversorgung dominieren die Debatte gerade derart, dass die bundes- und die landespolitische Ebene da kaum noch zu unterscheiden sind“, sagt Birkner. Und natürlich habe das Thema für Niedersachsen eine ganz besondere Bedeutung.
Birkner fordert nicht nur den Streckbetrieb, sondern den Weiterbetrieb aller drei AKWs mit neuen Brennstäben. Unablässig bohrt er in den vermeintlichen oder tatsächlichen Widersprüchen der Reservestrategie herum. Wie kann es sein, dass beim Sparen jede Kilowattstunde zählt, bei der Produktion aber nicht? Wenn der AKW-Strom im Norden nicht gebraucht wird, warum gibt es dann Gedankenspiele um schwimmende Ölkraftwerke vor der Küste?
Natürlich wisse er auch, dass Kernkraft nicht alle Energieprobleme löse, räumt er auf taz-Nachfrage ein. Trotzdem sei es Wahnsinn, in der Krise auf diese Kapazitäten zu verzichten. Im Übrigen sei er sich ziemlich sicher, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Es sei offensichtlich, dass die Grünen den unausgereiften Reserveplan nur geschmiedet hätten, um sich ohne Kollateralschäden über die Wahl am 9. Oktober zu retten.
Ein heißer Herbst
Im Bund klingt die FDP ähnlich entschlossen wie in Niedersachsen: Sie will mehr Atomkraft. Von Harmonie ist in der Ampel in der Frage nichts zu spüren. Das Gesetzgebungsverfahren zum Reservebetrieb wird in einer schwierigen Atmosphäre stattfinden. Dabei sind eine Menge relevanter Fragen zu klären: Was kostet der Plan und wer zahlt? Welche Bedingungen müssten genau erfüllt sein, damit die Kraftwerke wieder hochfahren? Und wer entscheidet in letzter Instanz über die Inbetriebnahme?
„Für mich ist klar, dass die nukleare Sicherheit an erster Stelle stehen muss“, sagt Grünen-Fraktionsvize Julia Verlinden. „Ich fände es auch angemessen, wenn der Bundestag zustimmen müsste, bevor die Kraftwerke tatsächlich aus der Reserve zurück ans Netz gehen. Das Parlament hatte schließlich den Atomausstieg mit großer Mehrheit beschlossen.“ Ob die Liberalen das auch so sehen, ist offen. Einfach werden sie es Habeck und den Grünen nicht machen. Der Herbst könnte innerhalb der Ampel heiß werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen