Debatte Göttinger Friedenspreis: Jüdischer Dissens
Die Affäre um den Göttinger Friedenspreis handelt von Meinungsfreiheit und Repräsentanz. Der Zentralrat spricht nicht für alle.
K ein anderes Milieu in Deutschland hat sich durch Einwanderung so sehr verändert wie das Judentum. Mehr als 90 Prozent der 200.000 Juden und Jüdinnen sind Migranten der ersten oder zweiten Generation. Und nur die Hälfte ist Mitglied einer Gemeinde. Nur für diese Hälfte kann also der Zentralrat der Juden sprechen in seiner Rolle als das zeremonielle Gegenüber von Politik und Mehrheitsgesellschaft.
Es scheint mir sinnvoll, die Kontroverse um den Göttinger Friedenspreis, der am Samstag an die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost vergeben wird, unter dem Aspekt der Repräsentanz zu betrachten. Es geht ja keineswegs nur darum, welche Strategie gegen die israelische Besatzung legitim ist. Sondern es geht um Meinungsfreiheit: Wie abweichend dürfen Juden und Jüdinnen denken? Und kann im Land der Schoah eine Vertretung jüdischer Belange nur so aussehen, dass eine offizielle Stimme spricht und dabei den Rahmen des Sagbaren absteckt?
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, nannte die geplante Auszeichnung „einen Schlag ins Gesicht der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel“. Die Formulierung wirft ein logisches Problem auf, denn auch die Preisträger gehören als Juden zu dieser Gemeinschaft; einige sind sogar Mitglieder von Gemeinden. Doch sie werden von Schuster nicht als Juden gedacht (neudeutsch „gelesen“), sondern nur als Gegner. Auch die Opponenten aus der Mehrheitsgesellschaft taten seltsamerweise so, als ginge es hier gar nicht um Juden (teils zugleich Israelis) – als seien dies also keine Menschen, für welche die Schoah und aller Antisemitismus eine existenzielle Bedeutung hat.
Eine Mitbegründerin der Jüdischen Stimme, die Schriftstellerin Ruth Fruchtman, eingetragen bei der Jüdischen Gemeinde Berlin, beschreibt in ihrem Roman „Jerusalemtag“, was es für eine Jüdin ihrer Generation (sie ist über 70) bedeutet, gegen die Okkupation zu kämpfen. Welche inneren Kämpfe es mit sich bringt, womöglich lebenslang, sich in einer Weise zu positionieren, die manchmal selbst von der eigenen Familie nicht verstanden wird.
Wer spricht?
Wer spricht also für wen und zu wem? Der jüdische Zentralrat ist zwar repräsentativer als das muslimische Organ dieses Namens, aber er ist eben nicht die Stimme aller Juden. Seine Vertreter müssen Widerspruch aushalten können, ohne ihn zu diffamieren.
Es ist nachvollziehbar, wenn die ältere Generation westdeutscher Juden an einer Position festhalten will, die sich nach 1945 herausgebildet hat. Die kleine Schar Überlebender, die sich damals im Land der Täter niederließ, gegen den Willen der internationalen jüdischen Organisationen, war lange isoliert. Als die Alliierten mit dem aufkommenden Kalten Krieg ihre Entnazifizierungspolitik einstellten, verloren die Juden ihren wichtigsten Verbündeten. Sie blieben quasi mit der Bundesregierung allein und wurden allmählich zu Kronzeugen deutscher Läuterung, herausgestellt wie ein symbolischer Ersatz für die Ausgelöschten. Im Gegenzug genießen die Repräsentanten der Gemeinde öffentlichen Status und Medienresonanz; so ist es bis heute.
Doch haben sich die Umstände geändert, ein divers gewordenes Judentum lebt nun in einer vielstimmigen Gesellschaft. „Juden und Jüdinnen bilden keine Gemeinschaft, weder religiös noch ethnisch“, urteilt der jüdische Lyriker Max Czollek rigoros. Sie seien vielfältiger, als es ihre „öffentliche Brauchbarkeit“ zulasse, und sollten ihre Rolle im Gedächtnistheater aufkündigen.
Die Haltung von Gemeindeoberen, innerjüdischen Dissens nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, wird von Jüngeren nun als „Dominanzkultur“ kritisiert; sie verhindere Demokratie, unterdrücke Vielfalt. So war es kein Zufall, dass die Zeitschrift Jalta gegründet wurde, nachdem der Präsident des Zentralrats eine Obergrenze für Flüchtlinge fordert hatte. Das Projekt markiert ein Ende der Nachkriegsordnung, denn es will die alte Zweiteilung beenden: hier der verborgene innerjüdische Diskurs, dort die strategische Ansprache der Mehrheitsgesellschaft. Stattdessen: Dissens sichtbar machen, und ohne Angst verschieden sein.
Sind wir soweit?
Diese Losung auf den Umgang mit israelischer Politik anzuwenden, ist vermutlich das Schwierigste. Dennoch halte ich es für falsch, wenn der Historiker Moshe Zimmermann „Diasporajuden“ als „Geiseln israelischer Politik“ bezeichnet. Geiseln haben keine Wahl, sie entscheiden sich nicht, Geisel zu sein. Jeder Jude, jede Jüdin ist frei, die Okkupation zu kritisieren; sie zu beschweigen, ist gleichfalls eine dezidierte Haltung, und sie kommt nicht unter Erpressung zustande. Es ist nicht Bedrohung von außen, warum die israelische Führung so nach rechts gerückt ist. Und es liegt nicht an akuter antisemitischer Gefährdung, wenn das offizielle jüdische Meinungsspektrum in Deutschland so schmal ist. Das sind Entscheidungen, und sie sind änderbar.
ist freie Autorin und wurde mit ihren Reisereportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im März 2017 erschien von ihr: „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ (dtv).
Ein Blick in die USA: Die Mehrheit amerikanischer Juden geht seit Längerem auf Abstand zu israelischen Scharfmachern. Selbst das American Israel Public Affairs Committee, bisher Benjamin Netanjahus Verbündeter durch dick und dünn, reagierte nun irritiert auf dessen Wahlallianz mit einer extremistischen Partei, die für die Deportation der arabischen Israelis eintritt. Die Kritik der liberalen Gruppe J Street, die in der jüngeren Generation der US-Juden viel Anhang gewonnen hat, fiel erwartungsgemäß heftiger aus.
Liegt es allein an der größeren Zahl der amerikanischen Juden, dass unter ihnen eine Pluralität der Ansichten so normal ist wie religiöse Vielfalt? Gewiss nicht. Es braucht auch ein gesellschaftliches Umfeld, das damit umgehen kann. Ein Umfeld, das Juden und Jüdinnen nicht als Figuren für die Vitrine betrachtet, sondern als reale Menschen, mit denen man streiten kann. Sind wir so weit?
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