Crack breitet sich aus: Höllisch high
Immer mehr Menschen rauchen Crack. Das hat drastische Folgen für Konsumierende und Sozialarbeiter:innen.
A ndré Beck ist ein unauffälliger Typ. Er ist mittleren Alters, trägt eine Brille, saubere Jeans und Pullover, seine Figur ist hager. Es sei schon mal mehr an ihm dran gewesen, sagt Beck, „aber man vergisst halt zu essen“. In seinem Gesicht hat er ein paar aufgekratzte Wunden, oberhalb der Schläfe. Sie sind das Einzige, was darauf hinweist, dass er krank ist, suchtkrank. Beck konsumiert Crack, jeden Tag.
Was macht das mit ihm? „Es ist, als würde ich gesteuert, von irgendetwas Bösem in meinem Gehirn. Etwas ganz Bösem.“
Ein Tag im September, André Beck sitzt im Café des Drogenhilfezentrums Indro e. V. in Münster. Beck, 50 Jahre alt, hat die Beine ausgestreckt. Die Schultern leicht gebeugt erzählt er von Abgründen, Ängsten und Abstürzen. Von Kokain und Kontrollverlust. Vor ihm steht ein Kaffee, der 50 Cent kostet. Der Preis gilt für ihn und seine „Kollegen“, wie er die anderen hier nennt. Die meisten leben von Sozialhilfe, weil sie wegen ihrer starken Sucht nicht arbeiten können.
André Beck heißt eigentlich anders. Wir anonymisieren ihn wie alle anderen Drogenkonsument:innen in diesem Text, weil die Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen von weiten Teilen der Gesellschaft geächtet wird. Die Personen, mit denen die taz gesprochen hat, wollen nicht dauerhaft im Netz im Zusammenhang mit ihrer Krankheit auffindbar sein.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Zahl der Menschen, die wie Beck täglich Crack konsumieren, steigt in Deutschland aktuell massiv an. Crack ist mit Backpulver oder Natron versetztes und aufgekochtes Kokain, die Konsument:innen kochen die Mixtur meist selbst auf. Durch das Erhitzen entstehen kleine Steinchen, die in der Crackpfeife geraucht werden. Crack nennt man die Droge, weil sie dabei beim Rauchen knistert – „crackle“ heißt das auf Englisch.
Nicht nur Crack, auch Freebase ist in der Szene angesagt. Dafür wird Kokain mit gesundheitsschädlichem Ammoniak erhitzt, auch hier entstehen rauchbare Steinchen.
In den Straßen von Frankfurt am Main, Hamburg, Dortmund oder Berlin ist nicht zu übersehen, dass der Konsum von Crack und Freebase aktuell stark zunimmt. Nahe dem Frankfurter Hauptbahnhof, in der Taunusstraße, sitzen alle paar Meter Abhängige mit ihren Crackpfeifen in Hauseingängen. Am Berliner Leopoldplatz bietet sich ein ähnliches Bild. Laut dem UN-Global Report on Cocaine von 2023 ist Crack in ganz Europa auf dem Vormarsch. Lag das Verhältnis von Kokainkonsument:innen und Crackraucher:innen im Jahr 2011 noch bei 1:1, ist es inzwischen fast bei 1:2.
Auch die Zahl der Drogentoten ist gestiegen. Laut dem Drogenbeauftragten der Bundesregierung starben im Jahr 2022 insgesamt 1.990 Menschen an den Folgen des Konsums illegaler Substanzen, zehn Jahre zuvor waren es noch 944. Davon gehen 90 Todesfälle auf den Konsum von Kokain oder Crack zurück, zwei Jahre zuvor waren es 48 Tote. Auch die Fälle, bei denen ein Mischkonsum in Verbindung mit Crack oder Kokain zum Tod führte, sind gestiegen: auf 417 im Jahr 2022. Die Sorge ist groß, dass sich die Lage weiter verschärft.
Woher kommt diese Entwicklung? Was unterscheidet Crackkonsument:innen von Usern anderer harter Drogen? Und was bedeutet die Zunahme für unser Hilfesystem?
André Beck erzählt, wie er als junger Mann in seiner Heimatstadt Bielefeld von einem Dealer angefixt und heroinabhängig wurde. Es folgen zweieinhalb Jahre Gefängnis, dann Substitution, dann ein Neuanfang in Münster. Als seine Partnerin an Krebs stirbt, fällt er wieder ins Bodenlose. „So bin ich auf die Kokainschiene gekommen“, sagt er. Bis er sich fängt und es schafft, kontrolliert zu konsumieren.
„Gekochtes Kokain“, nennt Beck den Stoff, zu dem die Mitarbeiter:innen der Suchthilfe Crack oder Freebase sagen. Weil Crackrauchen auch innerhalb der Szene verpönt ist, die Konsument:innen stigmatisiert werden – als die, die die Kontrolle über ihr Leben endgültig verloren haben –, finden viele andere Ausdrücke.
André Beck erzählt eine Viertelstunde konzentriert seine Geschichte. Viele, die regelmäßig Crack rauchen, schaffen so etwas nicht, sie sind zu unruhig. Durch das Fenster des Cafés im ersten Stock schaut man hinunter auf die enge Straße. Die Tür zum Suchthilfeverein gleicht dem Eingang eines Bienennests. Männer und Frauen gehen ein und aus, viele Male innerhalb von wenigen Minuten, hektisch. Andere sitzen in Grüppchen auf dem Bordstein gegenüber, nesteln an Jacken, Taschen oder Konsumbesteck herum.
Zwei Frauen um die 40 ziehen abwechselnd an einer kleinen Pfeife. Manche haben kaum intakte Klamotten am Körper, einige offene Wunden. Die meisten sind ausgemergelt, mit fahler Haut. Andere fallen nicht weiter auf. Viele tragen Baseball-Cappys oder Kapuzenpullover, als wollten sie sich verstecken.
Man fragt sich, wo der ganze Stoff herkommt, der hier konsumiert wird. In Münster fand eine 2019 von der Polizei einberufene Ermittlungskommission heraus, dass der größte Teil des Cracks aus den Niederlanden in die Stadt gelangte. Allein in den ersten drei Monaten nach Gründung der Kommission erfolgten 33 Festnahmen, in 15 Fällen wurden die mutmaßlichen Dealer in Untersuchungshaft genommen, darunter viele aus dem nahe gelegenen Nachbarland. Das sei viel für eine so kleine Stadt, sagt ein Sprecher der Polizei.
Der Europäische Drogenbericht von 2022 benennt Hamburg, Rotterdam und Antwerpen als zentrale Häfen, über die Kokain nach Europa kommt. Die sichergestellten Mengen sind dabei seit 2016 stark gestiegen. Wurden damals noch 70,9 Tonnen Kokain beschlagnahmt, waren es im Jahr 2021 bereits 303 Tonnen Kokain – so viel wie noch nie. „Europa wird seit einigen Jahren mit hochpotentem Kokain geflutet“, erklärt Suchtforscher Daniel Deimel, der an der Katholischen Hochschule Aachen Professor für Klinische Sozialarbeit ist.
Nach der Pandemie habe das überall verfügbare Kokain in der Drogenszene voll eingeschlagen. „Die Abhängigen waren während der Pandemie hoch belastet, die Hilfsangebote für sie waren eingeschränkt“, sagt Deimel. „Der expandierende Kokainmarkt traf so auf eine extrem vulnerable Gruppe.“
Globale politische Entwicklungen haben häufig direkte Auswirkungen auf den Drogenhandel in Europa. In Kolumbien, wo ein Großteil der Kokapflanzen für die Weiterverarbeitung zu Kokain angebaut wird, hatte die Guerilla der FARC den Drogenhandel bis 2016 unter ihrer Kontrolle. Nach dem Friedensvertrag und der Auflösung der FARC teilte sich der Markt auf. Seither sind viele verschiedene kriminelle Gruppen am Kokainhandel beteiligt. Es kam zu einer enormen Überproduktion von Kokain, die Preise fielen.
Kolumbien ist nur ein Beispiel, wie politische Entwicklungen den Markt mit illegalen Substanzen in Europa beeinflussen, Afghanistan ist ein weiteres: Die Taliban setzen nach jüngeren Berichten nun tatsächlich das Verbot des Mohnanbaus durch. Bald dürfte deshalb weniger Heroin auf dem europäischen Markt sein. Schon jetzt werden ihm vermehrt synthetische Opioide wie Fentanyl oder Nitazene beigemischt, die weitaus gefährlicher sind.
Fachleute warnen davor, dass diese künstlichen Stoffe sich bald durchsetzen und es dann zu viel mehr Drogennotfällen kommt. Ein weiterer Effekt könnte sein, dass die Abhängigkeit von anderen Substanzen, etwa Kokain oder Crack, wächst. Das wäre aus mehreren Gründen problematisch.
Neben André Beck sitzt Stefan Engemann, Sozialarbeiter, Leiter und Vereinsvorsitzender von Indro. Das hektische Treiben vor dem Haus bereitet ihm Sorgen. „Unsere Arbeit hat sich in den letzten Jahren sehr verändert“, sagt er. Der Hauptgrund dafür seien das gestiegene Angebot von Kokain und der wachsende Konsum seiner rauchbaren Varianten, also Crack und Freebase.
Anders als Heroin wird Crack von deutlich mehr Menschen auf offener Straße konsumiert. Man sieht es auch hier in Münster: Im Hauseingang gleich nebenan steht ein Mann mit dunkler Jacke und dunklem Bart und stopft sich eine Pfeife. Erst kommt Asche in den Pfeifenkopf, damit das Crack nicht sofort verbrennt, dann der kleine, weiß-gelbliche Klumpen. Der Mann wirkt hochkonzentriert, er scheint nichts um sich herum wahrzunehmen, außer der kleinen Pfeife in seiner Hand.
Crack wirkt kurz, aber heftig. Beim Rauchen wird es über die Lunge so schnell aufgenommen wie auf keinem anderen Weg, erklärt Dietmar Paul, Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen am Bürgerhospital Frankfurt. Er gilt als einer der führenden Crackexperten. „Der Stoff flutet enorm schnell im Gehirn an. Es entsteht ein Rausch, der vielleicht zwei bis maximal zehn Minuten anhält.“ Die Droge wirkt damit völlig anders als Heroin.
Während Heroin eine Halbwertszeit von vier bis sechs Stunden hat, lässt die Wirkung bei Crack sehr schnell nach. Wer es konsumiert, will fast augenblicklich wieder neuen Stoff. Eine Konsumeinheit Crack enthält etwa 0,1 bis 0,2 Gramm Kokain, das pro Gramm in Deutschland zwischen 60 und 100 Euro kostet.
Für das Verlangen nach Crack spielen die Neurotransmitter eine große Rolle. Sobald die Lunge den Dampf inhaliert hat, schüttet das Gehirn welche aus, sie wandern zu den Rezeptoren. Zwischen Neurotransmitter und Rezeptor sammelt sich für einen kurzen Moment eine große Menge an Dopamin oder Serotonin: Glückshormone.
„Das hat den Effekt, dass man für einen ganz kurzen Moment konzentrierter, leistungsfähiger, selbstbewusster und kreativer ist“, sagt der Arzt Dietmar Paul. Man fühlt sich euphorisch, soziale und sexuelle Hemmungen fallen weg. Zugleich aber verspüren Crackkonsument:innen weder Durst noch Hunger, weshalb viele unterernährt sind. Eine weitere Folge des Konsums ist oft ein starker Juckreiz, der sogenannte Dermatozoenwahn, wörtlich „Haut-Tier-Wahn“.
Die Konsument:innen sehen dabei vermeintlich, wie ihnen Insekten aus der Haut krabbeln. Sie kratzen sich auf, die Wunden verheilen schlecht oder gar nicht, auch wegen der Unterernährung vieler Konsument:innen. So lassen sich auch André Becks Wunden erklären. Um der Appetitlosigkeit etwas entgegenzusetzen, versuchen es manche Suchthilfevereine mit hochkalorischer Flüssignahrung. Auch deshalb, weil Konsument:innen teils so schlechte Zähne haben, dass sie nichts Festes kauen können.
Die Droge macht auch reizbar und aggressiv
Die sichtbare Verelendung der crackabhängigen Menschen sei das eine, ihre phasenweise geminderte Frustrationsschwelle das andere, sagt der Leiter der Münsteraner Suchthilfeeinrichtung, Stefan Engemann. Neben dem unterdrückten Grundbedürfnis nach Nahrung gebe es noch ein Problem – den Schlafentzug bei exzessivem Crackkonsum und seine Folgen: Denkstörungen, Halluzinationen und Reizbarkeit.
Kombiniert mit einem gepushten Ego, verursache das im Alltag immer wieder „kleinere Reibereien, bis hin zu handfesten, gewaltsamen Auseinandersetzungen“, und die gestalteten sich zuletzt immer enthemmter, sagt Engemann. Einige Szenezugehörige suchten deshalb Schutz beim Verein Indro, was das Team vor Herausforderungen stelle. Immer öfter müssten sie schlichten. So habe neulich ein Mann im Streit mit einem anderen Mann ein Messer gezogen – in den Räumlichkeiten des Vereins. Das sei die bisher schlimmste Eskalation gewesen, die er hier erlebt habe.
Das Problem: „Wenn jemand Heroin überdosiert, können wir ihm Naloxon geben“ – ein Nasenspray, das die Wirkung des Opiats eine Zeit lang reduziert oder aufhebt – „und dann ist wieder gut“, sagt Engemann. Bei Crackusern jedoch sind die Folgen eines hohen Konsums – die Überreizung, die Aggression, das Wahnhafte – psychiatrisch, dafür gebe es bislang kein „Gegenmittel“. „Also bleibt uns nur, mit ruhiger Stimme und ausgleichendem Gemüt auf die Person einzureden, ein Glas Wasser zu reichen, in der Hoffnung, dass er oder sie sich beruhigt.“ Wenn das nicht hilft, folgen Polizeieinsatz und Hausverbot. „Damit ist am Ende niemandem geholfen.“
Am nächsten Morgen im Vorraum des Vereins Indro. Noch ist die Tür aus Milchglas verschlossen, doch immer mehr unruhige Schatten tauchen dahinter auf.
Der Druck scheint nach innen durchzudringen, die Sozialarbeiter:innen und Praktikant:innen eilen durch die Räume und an ihre Plätze: Café, Pumpentheke, wo benutzte Spritzen gegen neue getauscht werden, K-Raum. Das K steht für Konsum, Indro hat 2001 den ersten offiziellen Konsumraum in Nordrhein-Westfalen eröffnet. Ein kleiner, gekachelter Raum mit zwei Kabinen zum inhalativen Gebrauch, also Rauchen, und vier Plätzen zum intravenösen Gebrauch, also Spritzen.
Das K-Raum-Team besteht heute aus Eva Gesigora und zwei Kolleg:innen, sie regeln das Ein-und-aus-Gehen. Gesigora, 42, ist Krankenpflegerin und Sozialarbeiterin. Sie wirbelt durch den engen Vorraum, ständig verschwinden ihre Hände in kleinen Schubladen oder Boxen, ziehen Desinfektionstücher hervor, vergeben Pflaster, Kanülen oder Vitamintabletten. Auch ein „Crackpack“ mit Einmalpfeife aus einem Glasröhrchen ist im Sortiment. Doch das komme selten zum Einsatz – weil im K-Raum kaum Crack oder Freebase konsumiert wird.
Eva Gesigora sagt, es sei selbst für ein so niedrigschwelliges Angebot wie Indro schwierig, jene, die exzessiv Crack konsumieren, in die Einrichtung zu holen.
Ähnlich erlebt es auch Astrid Leicht vom Berliner Drogenhilfeverein Fixpunkt. Der Verein vertritt – wie Indro – einen akzeptierenden und vorurteilsfreien Ansatz in der Betreuung von Drogenkonsument:innen. An einem Herbsttag haben die Sozialarbeiterin und ihr Kollege Sebastian Bayer in den Hof des Fixpunkt-Büros in Berlin-Kreuzberg geladen. Cracksüchtige seien ruhelos, auch wegen des permanenten Schlafdefizits, sagt Leicht, sie könnten sich deshalb nicht lange in geschlossenen Räumen aufhalten.
„Konsumräume oder Konsummobile können nur funktionieren, wenn sie auch eine angrenzende öffentliche Fläche haben.“ Es brauche mehr von diesen Flächen – natürlich müssten diese Orte reguliert und beaufsichtigt werden, es müsse gewaltfrei zugehen.
Mit drei Drogenkonsummobilen ist Fixpunkt in verschiedenen Vierteln in Berlin unterwegs, unter anderem an den Hotspots Stuttgarter Platz in Charlottenburg und am „Leo“, dem Leopoldplatz in Wedding. Dort ist an dem Konsummobil ein Ort eingerichtet, an dem die Drogensüchtigen geduldet werden. Zwei Unterstände sind dort, auf den Bänken darunter hocken Dutzende, die fixen oder Crack rauchen. Fast nur Männer, zwischen 20 und 50. Dealer fragen, ob man „Steine“ kaufen will – zum Teil werden die Steine inzwischen auf der Straße fertig angeboten, man muss sie gar nicht mehr aufkochen, nur noch rauchen.
Am „Leo“ sei die Szene eine Weile noch größer gewesen, sagt Bayer. Nun konsumieren zum einen wegen der kühlen Witterung weniger Menschen draußen. Zum anderen, so Astrid Leicht, sei die Polizei im Herbst sehr aktiv am Leopoldplatz gewesen und habe für Verdrängung gesorgt: „Das Übliche halt.“ So werde das Problem in den nächsten Bezirk weitergeschoben.
Der Konsum auf öffentlichen Plätzen wird auch in Münsters pittoresker Innenstadt als Problem erachtet. Mehrmals wurde die Szene dort vertrieben. Ein runder Tisch von Ordnungsamt, Quartiersmanagement und sozialen Hilfseinrichtungen wie dem Indro sprach ihr schließlich einen festen Ort zu, einen Teil des Bremer Platzes, am Hintereingang des Münsteraner Hauptbahnhofes.
Dieser soll nun so umgebaut werden, dass er den Bedürfnissen der Szene entspricht: kostenlose Toilette, Trinkwasserbrunnen, Segel für Schatten und gegen Regen, Sichtschutz. Aktuell ist der Platz noch eine Baustelle, die Fertigstellung verzögert sich.
Astrid Leicht und Sebastian Bayer von Fixpunkt in Berlin erachten den Umgang mit Crackkonsument:innen hierzulande als rückständig. „Die Drogenhilfe in Deutschland geht viel zu oft an den Bedürfnissen der Crackabhängigen vorbei“, sagt Leicht. Sowohl Gesundheitseinrichtungen als auch Kommunen wüssten zu wenig über die Substanz und ihre Konsumsymptome.
In den USA, wo man schon länger mit dem Crackproblem zu kämpfen hat, sei das anders. Dort habe sich das sogenannte Kontingenzmanagement als sehr effektiv erwiesen. Es basiert auf klassischen lerntheoretischen Prinzipien: Die Konsument:innen werden für Abstinenz und für cleane Urintests belohnt – zum Beispiel mit Wertgutscheinen. In Deutschland kenne man das Modell dagegen kaum, beklagt Leicht.
Ihr Kollege Bayer sagt, man müsse das soziale Umfeld der Drogengebraucher:innen entsprechend ihren Bedarfen gestalten. Wenn sich die Rahmenbedingungen änderten, ändere sich auch das Konsumverhalten. „Geben wir ihnen doch mal eine Wohnung und Beschäftigung – und dann gucken wir, was von der Sucht übrig bleibt“, sagt Bayer.
In etwa so hat das im Leben von Jonas Witte eine Zeit lang gut funktioniert, vor dem Fall. Der 27-Jährige, jungenhaftes Gesicht, Dreads und Mütze, betritt den Konsumraum von Indro. Auf der Schulter trägt er einen großen Seesack, an dem eine eingerollte Isomatte hängt. Witte bewegt sich leise und behutsam. Er möchte sich Kokain spritzen, bittet um Spritzbesteck und etwas Wasser, um das Kokain darin aufzulösen. Er schiebt seinen Seesack unter den Edelstahltisch und verteilt die Komponenten auf der sterilen Oberfläche. Die Finger, ein bisschen zittrig, aber flink, greifen das eine, dann das andere – ein Prozess, automatisiert, es könnten die Hände eines Krankenpflegers oder Arztes sein.
Nachdem Jonas Witte fertig ist, erzählt er seine Geschichte: Er wurde in einer Kleinstadt im Ruhrpott geboren. Sein Vater sei heroinabhängig gewesen, habe die Familie verlassen, als Jonas noch ein kleines Kind war. Seine Mutter beschreibt er als „alternativ“. Sie habe nur gekifft, sei immer sehr liberal gewesen.
Auf dem Gymnasium habe er sich politisiert. „Ich war gegen alles, gegen das System, wollte nicht mehr mitmachen.“ Er bricht die Schule ab. Das habe ihm auch dabei geholfen, sich dem zu entziehen, was er nicht gut aushält – den Kontakt zu anderen Menschen. Wegen einer Sozialphobie sei er in psychiatrische Behandlung gekommen, habe dort Benzodiazepine gekriegt. Ein Beruhigungsmittel, das schnell abhängig machen kann.
Als die stationäre Therapie beendet war und er nach Hause kam, begann das Craving – also das starke Verlangen bei Entzug – nach Benzos. Er habe sich dann in der Szene umgehört, sei schnell an Ersatz gekommen. Doch da habe es noch was im Angebot gegeben, Heroin, das Zeug, von dem sein Vater nicht weggekommen war. Schon immer habe er verstehen wollen, warum. Er probierte es aus. Bald fand er sich in einer Abwärtsspirale wieder: Seine körperliche Toleranz wuchs, er konsumierte mehr und mehr, um noch etwas von dem High zu spüren. Das Geld wurde knapp, er begann zu stehlen. Jugendhaft blieb ihm erspart, es folgte eine Entgiftung nach der anderen.
Wurde Jonas Witte wegen seines Vaters abhängig – ist es möglicherweise eine genetische Veranlagung? Oder gibt es eine Art „Suchtpersönlichkeit“? Grundsätzlich gilt, so der Stand der Wissenschaft: Jeder Mensch kann eine Sucht entwickeln, unabhängig von seinen Vorfahren oder von der sozialen Herkunft.
Das sagt auch Eva Gesigora von Indro: „Man darf nicht vergessen: Drogen machen auch einfach Spaß, deswegen trinken Menschen Bier, rauchen Cannabis, konsumieren sogenannte Partydrogen.“ So banal könne eine Abhängigkeit ihren Anfang nehmen. Viele Konsument:innen bei Indro würden außerdem oft scherzhaft von „Selbstmedikation“ sprechen. Da sei etwas Wahres dran, sagt Gesigora. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen erleichtere einigen ihren psychischen Leidensdruck.
Trotzdem gibt es Faktoren, die eine Suchterkrankung begünstigen können. Die „genetisch festgelegte Bereitschaft“ spielt laut einer Broschüre der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen eine Rolle sowie die persönlichen Stärken und Schwächen eines Menschen, zum Beispiel im Umgang mit Gefühlen. Und dann ist da noch die „Umwelt“, also die allgemeinen Lebensumstände: Hat ein Mensch eine sichere Wohnsituation? Ein stabiles soziales Umfeld? Positive Vorbilder, Perspektiven, Möglichkeiten der Teilhabe?
Für Jonas Witte geht vieles davon eine Zeit lang in Erfüllung. Er bekommt einen Platz in einer Einrichtung für betreutes Wohnen im Münsterland und wird substituiert. Vier Jahre bleibt er dort, wird abstinent, fängt eine Ausbildung zum Koch an, arbeitet in einer Gaststätte, „ziemlich oldschool“ sei die gewesen, aber die Arbeit habe ihm Spaß gemacht.
Witte hat nun das, was Sebastian Bayer von Fixpunkt für die wichtigste Grundvoraussetzung für eine Heilung hält: Wohnung, Struktur und Beschäftigung. Doch irgendwann wird es stressig, die langen Arbeitszeiten, der Druck. „Ich hab es nicht mehr ausgehalten“, sagt Witte und senkt den Blick. Er wird rückfällig, fliegt aus dem Wohnprojekt, verliert auf einen Schlag alles und landet in Münster, wo ihn „immerhin niemand kennt“.
Seit einem Jahr lebe er nun wieder auf der Straße. Tagsüber sitzt er mit einem Becher in der Stadt. Wenn er genug Geld zusammenhat, geht er zum Bremer Platz und holt sich Kokain, den Stoff, nach dem sein Körper verlangt. Im K-Raum von Indro bekomme er steriles Material und könne in Ruhe konsumieren, nicht heimlich in einem Hauseingang, das ist ihm wichtig.
Jonas Witte ist wie André Beck jemand, der kontrolliert konsumiert, sich selbst Regeln auferlegt, einen Tag die Woche „frei machen“ zum Beispiel, oder nie mehr als so und so viel Gramm am Tag oder in der Woche. Aber das gelingt wenigen, und das sind meist die Älteren, die schon seit Jahrzehnten mit Methadon substituiert sind, ihren Körper und ihre Konsummuster gut kennen. Disziplin und Willensstärke spielen vermutlich ebenso eine Rolle. Solche Konsumierende sind für Engemann und Kolleg:innen noch erreichbar. Im Gegensatz zu jenen Crackusern, die die Kontrolle vollends verloren haben.
Es fehlt das Methadon für Cracksüchtige
Dass die Sozialarbeit mit Heroinabhängigen effektiver ist, liegt auch am synthetischen Opioid Methadon, das als Ersatz für Heroin gegeben wird. Auf den Konsum von Methadon folgt kein Rausch, es baut sich im Körper langsamer ab als Heroin, so bleibt der Suchtdruck aus. Bereits 1992 wurde die Substitutionstherapie mit Methadon gesetzlich verankert und das Angebot in den nuller Jahren flächendeckend ausgebaut. Eine Substitutionstherapie für Crackkonsument:innen ist noch nicht in Sicht. Allerdings forschen Wissenschaftler:innen bereits seit einigen Jahren an Medikamenten, darunter verschiedene Arten von Amphetaminen.
„Man müsste eine Substanz finden, die genauso aktivierend ist wie Crack und eine längere Halbwertszeit hat“, sagt Dietmar Paul vom Bürgerhospital Frankfurt. Doch die Studienlage gebe bislang nicht viel her, es bleibe nichts anderes übrig, als weiter Modellprojekte anzuschieben.
Solange ein Forschungserfolg nicht abzusehen ist, müssen Städte und Kommunen mit dem Crackkonsum erst einmal umgehen. Auch in der Politik gebe es einen enormen Nachholbedarf, sagt Suchtforscher Daniel Deimel aus Aachen. „Es fehlt an Wissen über die Droge.“ In Reaktion auf die Crackzunahme hat nicht nur in Münster die Polizei eine Ermittlungskommission einberufen.
Auch in Dortmund richtete die Stadt kürzlich einen Sonderstab ein und intensivierte die Zusammenarbeit mit der Polizei. „Die Politik wirkt oft überfordert. Sie steht unter öffentlichem Druck, da Drogenszenen als soziale Konfliktherde wahrgenommen werden. Es wird dann häufig mit repressiven Maßnahmen reagiert, was nicht zielführend und nachhaltig ist“, sagt Deimel.
Wie es anders gehen könnte, zeigt Portugal. 2001 wurden dort jegliche Drogen entkriminalisiert. Der Besitz von Betäubungsmitteln für den Eigenbedarf ist seither eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat. Die Kriminalität im Zusammenhang mit Drogenhandel und -besitz ging zurück, es werden weniger Haftstrafen verhängt, das Stigma wurde reduziert.
Von 100.000 Heroinkonsument:innen Ende der Neunziger ging die Zahl zurück auf 25.000 im Jahr 2018. Auch die Zahl der konsumbedingten Todesfälle ist gesunken. Gestiegen wiederum ist die Zahl von Konsument:innen in Therapie. Erst nachdem die Mittel für die Drogenhilfe in den 2010er Jahren massiv gekürzt wurden, hat auch Portugal wieder mehr Probleme mit einer offenen Drogenszene.
„Wir brauchen auch in Deutschland eine Entkriminalisierung von konsumierenden Menschen. Das wäre zielführend in Bezug auf Crack, aber auch auf alle anderen Substanzen“, ist Deimel überzeugt. Die Prohibition habe keine suchtpräventive Wirkung – weder für Jugendliche noch für Erwachsene.
Wie Deimel sprechen sich viele Suchtforscher:innen für eine Entkriminalisierung aus. Allerdings ist in Deutschland schon die Legalisierung von Cannabis umstritten, eine Entkriminalisierung von derart schädlichen Drogen wie Crack dürfte auf absehbare Zeit schwerlich durchzusetzen sein. In Münster neigt sich der Arbeitstag für Stefan Engemann und seine Kolleg:innen dem Ende zu.
Als die letzten suchtkranken Frauen und Männer gegangen sind, versammeln sich die Sozialarbeiter:innen im kleinen Innenhof. Sie sitzen auf gestapelten Kisten, trinken Bier, unterhalten sich über den Tag.
Zwei Notfälle gab es heute. Zwei Frauen, beide um die 40, seien im K-Raum weggekippt, beide hätten sie aber mit Sauerstoff schnell wieder auf die Beine bekommen. Es sind die beiden Frauen, die den Tag über abwechselnd Crackpfeife geraucht haben. Mischkonsum sei wahrscheinlich die Ursache für den Kollaps gewesen, zu wenig Essen, zu wenig Wasser.
Eine Sozialarbeiterin sieht den Druck der Gesellschaft als Ursache für den gestiegenen Crackkonsum
„Die beiden sind gerade ziemlich hart unterwegs“, sagt eine Mitarbeiterin und wirkt dabei selbst etwas mitgenommen. Was glauben sie, warum Kokain, insbesondere Crack, so beliebt ist? „Ich denke, das ist auch ein Produkt unserer Leistungsgesellschaft“, sagt die Sozialarbeiterin. „Sich einmal – wenigstens kurz – wie jemand fühlen, der jemand ist. Einmal nicht der Loser sein, zu dem einen unsere Gesellschaft macht, wenn man suchtkrank ist.“
Trotz aller Ratlosigkeit ist da auch Hoffnung bei den Indro-Mitarbeiter:innen. Der neue Bremer Platz soll bald fertig werden, das könnte die Lage bei ihnen beruhigen. Vielleicht gibt es dann auch wieder eine größere Nähe zwischen Konsumierenden und Sozialarbeiter:innen, die das Helfen erst möglich macht.
Mittelfristig hoffen sie auf die Forschung, auf das Kokainsubstitut, das Crackkonsument:innen aus der Suchtspirale holt.
Und langfristig? „Eine legalisierte, staatlich regulierte Abgabe aller psychoaktiven Substanzen wäre super“, sagt Eva Gesigora. Wenn Konsument:innen nicht mehr stigmatisiert würden, würde das viele ihrer Probleme auf einen Schlag lösen. Das Geld, das der Staat durch den Verkauf einnähme, wäre in Prävention, Aufklärung und die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung gut investiert. Ob sie glaubt, das noch zu erleben? „Ich hoffe es.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen