Corona-Ansatz in den Niederlanden: Herdenimmunität statt Lockdown

Die niederländische Regierung will, dass rasch 60 Prozent der Menschen den Coronavirus einmal hatten und so immun werden. Das stößt auf Kritik.

Menschen stehen in einer Schlange vor einem Coffeeshop.

Herdenimmunität ensteht, wenn man dicht gedrängt vor dem Coffeeshop nach dem letzten Gras ansteht Foto: Peter Dejong/ap

AMSTERDAM taz | Vermutlich wird man sich an die TV- Ansprache Mark Ruttes aus Anlass der Corona-Pandemie vom Montagabend noch in vielen Jahren erinnern. Was nicht allein an den Dimensionen dieser Krise liegt, sondern am Ansatz, mit dem Ruttes Regierung diese bekämpfen will. Und an einem Schlagwort, das Rutte sich zwar nicht ausgedacht hat, dem er aber seinen Umgang mit dem Virus unterordnet: die “Herden-Immunität“.

Was damit gemeint ist, beschreibt Rutte so: Es habe zwar “absolute Priorität“, die Risiken für besonders gefährdete Personen zu minimieren. Aber es gelte vor allem, die Zeit zu überbrücken, bis eine Impfung oder Medizin verfügbar sei, und “zugleich kontrollierte Herden-Immunität aufzubauen“.

Grundlage des Konzepts ist die Annahme, dass in der Regel immun sei, wer das Virus einmal hatte. Folglich argumentiert der Premier: “Umso größer die Gruppe ist, die immun ist, desto kleiner die Chance für das Virus, auf anfällige ältere Menschen und Personen mit schwacher Gesundheit überzuspringen.“ Im Kern soll diese Herden-Immunität demnach als eine Art “Schutzmauer“ für Riskogruppen fungieren. Das beinhaltet eine “beherrschte Verbreitung“ des Corona-Virus unter Bevölkerungsgruppen, für die eine Infektion weniger riskant sei. Dieser Prozess könne allerdings “Monate oder länger dauern“, in der die Risikogruppen möglichst abgeschirmt werden müssen.

Jaap van Dissel, der Direktor des Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu, erklärte im niederländischen Fernsehen, eine Immunität von 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung sei dazu nötig. Ohne Aufbau einer solchen Immunität bleibe die Gesellschaft bei einer erneuten Corona-Welle anfällig.

Rechtspopulisten protestieren gegen Ruttes Ansatz

Unmittelbar nach seiner Rede erntete Rutte, der einer Mitte-Rechts- Koalition aus vier Parteien vorsitzt, große Zustimmung bis weit in die Opposition hinein. Die Rede spreche ihm aus dem Herzen, sagte etwa Lodewijk Ascher, Fraktionsvorsitzender der sozialdemokratischen Arbeitspartei (PvdA).

Lediglich die rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) und Forum voor Democratie (FvD) kritisierten den Ansatz. Sowohl PVV- Chef Geert Wilders als auch Thierry Baudet, Fraktionsvorsitzender des FvD, wiesen auf die Beispiele von Frankreich, Belgien oder Spanien, die zu Wochenbeginn eine maximale Beschränkung des öffentlichen Lebens beschlossen.

In einer stundenlangen Parlamentsdebatte am Mittwoch sprachen beide Parteien sich erneut für einen Lockdown nach dem Vorbild der Nachbarländer aus. Wilders warf der Regierung vor, sie “experimentiere mit Menschen“, weil das Prinzip der Herden-Immunität nicht bewiesen sei. Vielfach kam in der Debatte die Unsicherheit zur Sprache, dass eine Infektion von mehr als der Hälfte der Bevölkerung auch eine hohe Anzahl an Toten bedeute.

Und während Rutte noch einmal unterstrich, dass er einen Lockdown weder für hilfreich noch für vermittelbar halte, sah er sich doch gezwungen, beim Reizwort der Herden-Immunität nuancierend nachzubessern: “Unser Ziel sind ausreichende Kapazitäten auf Intensiv-Stationen. Herden-Immunität ist ein Nebeneffekt dieses Ansatzes.“

Mehr Tests sind nicht geplant

Dass die niederländische Debatte im Kern den Konflikt zwischen traditionellen Parteien und ihren rechtspopulistischen Herausforderern widerspiegelt, ist wenig überraschend, Eine ähnliche Konstellation findet sich in Den Haag inzwischen bei den meisten politischen Fragestellungen.

Zugleich klingt auch seitens der WHO deutliche Kritik am Ansatz der Regierung: auf einer Pressekonferenz am Dienstag betonten Vertreter der Organisation, Herden-Immunität sei beim Coronavirus nicht nachgewiesen. Daher sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf einen entsprechenden Ansatz zu vertrauen. Stattdessen ginge es um Vorsorgemaßnahmen und vor allem darum, im großen Rahmen zu testen.

Mehr Tests gehören indes nicht zur derzeitigen Den Haager Krisen- Bekämpfung. Stattdessen gilt seit Freitag ein Besuchsverbot in Pflegeheimen, um Bewohner und Angestellte zu schützen. Ansonsten liegt auch zwischen Maastricht und Groningen das öffentliche Leben weitestgehend still, sind Schulen und Unis, Restaurants, Bars, Sporteinrichtungen und die meisten Geschäfte geschlossen.

Ungeachtet der Diskussion der letzten Tage ist es nicht ausgeschlossen, dass noch umfassendere Maßnahmen folgen. Die niederländische Polizei hat sich bereits auf weitere Beschränkungen vorbereitet, und Femke Halsema, die Bürgermeisterin von Amsterdam, sagte im Gemeinderat, ein Lockdown in der Hauptstadt wäre “keine Überraschung“.

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