Cem Özdemir über die Regierungsbildung: „Über die Schmerzgrenze“
Cem Özdemir hätte fast regiert. Fast. Vor dem Parteitag spricht der Grünen-Chef über den Untergang von Jamaika und die Folgen.
taz.am wochenende: Herr Özdemir, in der Nacht, in der Jamaika gescheitert ist, lagen sich Grüne und Unions-Politiker in den Armen. Können Sie nun endlich offen sagen, dass die Union Ihr Traumpartner ist?
Cem Özdemir: Die Union war und ist nicht mein Traumpartner. Ich würde im Übrigen auch sehr davon abraten, sollte es zu Neuwahlen kommen, einen Schwarz-Grün-Wahlkampf zu machen. Aber eine Erkenntnis ist durch die Sondierungen mit CDU, CSU und FDP in Stein gemeißelt: Die Grünen sind die einzige Kraft, die entschieden gegen Klimakrise und für gesellschaftlichen Zusammenhalt kämpfen.
Aber das Vertrauen zwischen Ihnen und den Schwarzen ist gewachsen?
Kontakte zwischen Grünen und CDU gab es ja schon lange. Aber Grüne und CSU sind sich im gegenseitigen Verständnis näher gekommen: Ich teile deine Meinung nicht, aber ich verstehe, wie du zu ihr kommst. Ich habe Horst Seehofer als ehrliche Haut erlebt. Selbst die CSU bezweifelt jetzt nicht mehr, dass auch die Grünen loyale, verfassungstreue Bürger dieses Landes sind. Ich hatte das Gefühl, dass die Sondierungen für einen Teil der CSU wie ein spätes Ankommen der Grünen in der Bundesrepublik Deutschland waren.
Wie sehr setzen Sie noch auf Merkel?
Wenn die FDP das Ziel hatte, durch ihr Manöver Angela Merkel loszuwerden, ist das nach hinten losgegangen. Ihr Standing wurde meinem Eindruck nach in CDU und CSU gefestigt. Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass sich Herr Lindner über die mangelnde Unterstützung der Kanzlerin in den Verhandlungen beklagt. Ehrlich gesagt: Diese Weinerlichkeit von Männern, die ein Problem mit starken Frauen haben, geht mir auf den Zeiger.
Würden Sie mit Angela Merkel auch über eine schwarz-grüne Minderheitsregierung reden?
Jetzt ist erst mal der Bundespräsident dran. Er muss laut Verfassung entscheiden, wie es weitergeht. Und dann liegt der Ball bei Union und SPD. Wir Grüne machen keine Tür zu. „Erst die Partei, dann das Land“ – eine solche Politik gibt es mit uns nicht.
Glauben Sie, dass die SPD in eine Große Koalition eintritt?
Die Rufe in der SPD werden ja schon lauter. Das wäre die dritte Groko in vier Legislaturperioden. 2005, nach dem Ende von Rot-Grün, hatten Union und SPD knapp 70 Prozent. Heute hätten sie nur noch 53 Prozent. Da fragt man sich schon: Wie viel haben sie nach dem nächsten Mal?
Jahrgang 1965 ist Kovorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und war einer von zwei Spitzenkandidaten im Wahlkampf. 1994 saß er einer der ersten Abgeordneten mit türkischen Wurzeln im Bundestag. Von 2004 bis 2009 war er im Europaparlament.
Wie haben die Sondierungen die Grünen verändert?
Die Grünen sind in diesem Prozess zusammengewachsen und äußerst geschlossen aufgetreten. Das war ein richtiges Team. Das hat mich schwer beeindruckt und erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Da saßen ja durchaus meinungsstarke Leute mit am Tisch, Toni Hofreiter, Claudia Roth, Winfried Kretschmann, Jürgen Trittin und andere, wir waren ja wahrlich nicht immer ein Herz und eine Seele. Aber in den vergangenen Wochen haben alle an einem Strang gezogen. Auch Agnieszka Brugger, Annalena Baerbock oder Katja Dörner, die man in der breiten Öffentlichkeit noch nicht so gut kennt, haben einen tollen Job gemacht. Darauf kann die Partei stolz sein.
Die Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Canan Bayram findet, es müsse darüber geredet werden, dass die Verhandler ihr Mandat überschritten hätten. Sie sieht Klärungsbedarf. Das klingt eher nach einer parteiinternen Untersuchungskommission, die eingerichtet werden muss?
Da wünsche ich frohes Verrichten. Wie mehrheitsfähig Frau Bayrams Anträge sind, konnte man ja auf dem letzten Bundesparteitag beobachten. Ich habe die Kollegin in der Fraktion bisher nicht als konstruktive Abgeordnete wahrgenommen, von der ich viel gehört hätte. Die Reaktion in der Partei war ja auch entsprechend: nämlich nicht messbar. Ich lege übrigens Wert drauf, in meinem Wahlkreis in Stuttgart ein besseres Ergebnis erreicht zu haben als Canan Bayram in Friedrichshain-Kreuzberg. Hat leider trotzdem nicht gereicht.
Sie haben in den Sondierungen angeboten, einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr zu akzeptieren. Kommt die Zahl ins Wahlprogramm?
Unser Wahlprogramm gilt. Unverändert. Grüne und Union mussten sich gerade auch in der Flüchtlingspolitik aufeinander zubewegen. Sicher ist: Das weitere Aussetzen des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte wäre mit uns nicht machbar gewesen.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Sie haben vorher fest versprochen, dass es eine Obergrenze mit den Grünen nicht geben werde.
Das wäre keine Obergrenze gewesen. Darauf lege ich Wert. Die hätte es ja nicht nur mit uns nicht gegeben, sondern auch mit der Kanzlerin nicht.
Was für ein Signal sendet es, wenn die Grünen eine Zahl akzeptieren, die so eine Begrenzung zumindest suggeriert?
Wir hätten keine Begrenzung akzeptiert. Wir haben deutlich gemacht: Die 200.000 wären für uns ein Planungsrahmen gewesen, in dem wir in Zukunft handeln wollen, gerade mit Blick auf die Integrationsmöglichkeit in den Kommunen. Unser Kompromissangebot hat betont, dass weder das Grundrecht auf Asyl noch die Genfer Flüchtlingskonvention angetastet werden dürften.
Die Zahl hätte im Koalitionsvertrag gestanden. Und die Grünen hätten unterschrieben.
Und damit konkrete Verbesserungen für geflüchtete Menschen erreicht. Das hätte an erster Stelle nämlich geheißen, dass der Familiennachzug auch für subsidiär Geschützte wieder ermöglicht worden wäre.
Sie haben in der Flüchtlingspolitik auch angeboten, Algerien, Tunesien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Dort werden Homosexuelle per Gesetz bestraft – und im Gefängnis brutal misshandelt.
Wir hätten uns nicht verschlossen, diese Frage europäisch zu lösen, da sie derzeit ohnehin europäisch verhandelt wird. Eine solche Regelung hätte allerdings zwingend einen Schutz für sogenannte vulnerable Gruppen enthalten müssen – etwa für Journalisten, Blogger, Schwule und Lesben oder ethnische Minderheiten.
In grünen Anträgen für den Bundestag steht: Die drei Maghrebstaaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, widerspreche dem Grundgesetz und europäischem Recht.
Leider können wir mit 8,9 Prozent nicht allein regieren. Sie stehen mit solch schwierigen Partnern wie CDU, CSU und FDP vor der Frage: Beharren Sie auf 100 Prozent Programm oder sind Sie bereit, notfalls auch über die Schmerzgrenze hinaus Kompromisse einzugehen, um konkrete Verbesserungen zu erreichen – wenn auch nicht für alle, so doch für einen relevanten Teil der Geflüchteten. Wir hätten einiges erreichen können. Ein modernes Einwanderungsgesetz zum Beispiel. Lange in Deutschland lebende Geflüchtete hätten durch den sogenannten Spurwechsel eine gute Perspektive bekommen. Außerdem wäre das die erste Regierung gewesen, die ernsthaft Fluchtursachen bekämpft. Wir haben den Schwarzen abverhandelt, dass es für jeden Euro für Rüstung einen Euro für Entwicklungshilfe gibt. Jetzt haben wir null Verbesserung.
Sie haben etliche Positionen aufgegeben, um in die Regierung zu kommen.
Um dort dann für Veränderung zu sorgen und den Status quo zu überwinden. Sieben Gigawatt Braunkohlekraftwerke vom Netz bis 2020, das ist eine CO2-Reduktion um 40 Millionen Tonnen. Das wäre das ehrgeizigste Dekarbonisierungskonzept gewesen, für das sich eine deutsche Regierung je gesetzt hat. Es geht mir auf den Senkel, dass in Deutschland der Kompromiss als Verrat denunziert wird. Kompromisse sind konstitutiv für das Gelingen der Demokratie.
Falls es nicht zu einer Großen Koalition oder Minderheitsregierung kommt, müssen Sie sich auf Neuwahlen vorbereiten. Stehen Sie noch mal zur Verfügung?
Jetzt müssen wir erst mal schauen, wie sich die Regierungsbildung entwickelt. Es freut mich aber, dass Toni Hofreiter bereits vorgeschlagen hat, dass Katrin Göring-Eckardt und ich im Falle von möglichen Neuwahlen die Partei wieder als Spitzenkandidaten in den Wahlkampf führen sollten.
Wir meinten eher: Stehen Sie für eine Urwahl zur Verfügung?
Wenn es Neuwahlen gäbe, wüsste ich nicht, wie wir so schnell eine Urwahl organisieren sollten. Dafür wäre zu wenig Zeit. Die Neuwahl würde ja innerhalb weniger Monate stattfinden.
Das heißt, die Basis wäre dieses Mal kein Boss?
Die Basis hat ja entschieden. Sie hat zwei Spitzenkandidaten gewählt. Dann haben die Wählerinnen und Wähler gewählt. Ich glaube, mehr Legitimation gibt es nicht. Aber noch mal: Ich halte die Frage nach Neuwahlen derzeit für sehr spekulativ.
Sie haben angekündigt, den Parteivorsitz abzugeben. Bleibt es eigentlich dabei?
Ich werde nicht mehr für den Parteivorsitz der Grünen kandidieren. Das habe ich gesagt, und dabei bleibt es.
Wer käme in Frage?
Es ist kein Geheimnis, dass ich Robert Habeck für einen sehr schlauen Kopf halte. Für ihn wünsche ich mir eine wichtige Rolle bei den Grünen. Weil es männliche Doppelspitzen nicht gibt, sind wir uns einige Male in die Quere gekommen. Das bedauere ich. Aber wir haben viele gute, profilierte und sachkundige Leute bei uns. Mir fällt da unser Politischer Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ein oder der Europaabgeordnete Sven Giegold. Auch von den Frauen aus unserem Sondierungsteam, von Agnieszka Brugger, Annalena Baerbock und Katja Dörner, wird man noch viel hören.
Ihr Wahlergebnis war mit 8,9 Prozent eher mäßig, oder? 2013 galten 8,4 Prozent als Katastrophe.
Sie müssen schon den Vergleichsmaßstab sehen. Alle Auguren haben uns vor der Wahl vorhergesagt, wir würden im Vergleich mit 2013 deutlich verlieren. Die Frage war nur noch, wie stark wir verlieren. Aber wir haben eine halbe Million Stimmen mehr geholt.
Sie haben nach der Wahl eine Fehleranalyse angekündigt. Kommt die eigentlich noch?
Wir haben sogar schon einen Prozess dafür gestartet. Ich bin ein großer Fan der Optimierung von Prozessen. Nur konnte die Kommission bisher nicht arbeiten, weil wir alle Kräfte auf die Sondierungen konzentriert haben. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass wir in diesem Wahlkampf nicht alles super gemacht haben – und ein paar Sachen besser machen können.
Was?
Das würde ich in der Kommission besprechen.
Ihnen fällt kein einziger Fehler ein?
Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, wir waren in der Endphase des Wahlkampfs am besten. Da zogen die Formate, da drangen wir mit unseren Themen durch. Anfangs hatten wir Probleme, in den Tritt zu kommen, auch weil wir viele Ressourcen in die Urwahl gesteckt hatten.
Was wäre anders in einem neuen Wahlkampf? Gleiche Spitzenkandidaten, gleiches Programm, gleiche Strategie. Klingt wie: Und täglich grüßt der Özdemir.
Sollen wir jetzt nicht mehr über Klimaschutz reden? Ist alles erledigt? Schmilzt das Eis nicht mehr, gehen die CO2-Werte zurück? Diese Bundestagswahl und der Prozess danach haben uns doch eines gelehrt: Nur die Grünen sind wirklich grün. Wir sind die Einzigen, deren Kompass der Klimaschutz ist.
Endet gerade Ihre politische Karriere? Die Grünen gehen nun wahrscheinlich wieder in die Opposition.
Ich habe in Stuttgart einen wunderschönen Wahlkreis, wo ich das Direktmandat knapp verpasst habe. Es würde mich sicher reizen, im dritten Anlauf das Direktmandat zu erobern. Ich bin Grüner mit ganzem Herzen und Verstand.
Hat das alles auch etwas Tragisches? Sie, der Sohn türkischer Gastarbeiter, waren kurz davor, Minister zu werden.
Ich bin ganz zufrieden. Meine Eltern haben beide in der Fabrik geschuftet. Ich heiße nicht Hans, Detlev oder Gustav, sondern Cem Özdemir. Ich habe einen Namen, bei dem viele sagen: Wie kann der Vorsitzender einer deutschen Partei sein? Und ich stehe morgens auf und sitze dann Angela Merkel gegenüber, um für die Ziele der Grünen zu kämpfen.
Sie sind jetzt der Unvollendete.
Wie gesagt: Weinerliche Männer nerven mich. Dass es nicht reicht für die Regierung, tut mir weh, klar. Aber nicht wegen des Amts. Meine Tochter lernt gerade viel über Artenschutz in der Schule. Sie bastelt Insektenhotels und erzählt mir vom Sterben der Wild- und Honigbienen. Ihr hätte ich gern gesagt: Dein Papa hilft dabei, dass es von diesen Insekten wieder mehr gibt, dass die Menschen überall auf der Welt besser leben können. Aber das Leben geht weiter. Mal schauen, was noch kommt. Ich bin noch nicht fertig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin