Boom künstlicher Fingernägel: Fake-Nails sind nicht feministisch
Plastik-Fingernägel sind schwer en vogue. Dabei sind sie doch so unpraktisch! Warum sie als Symbol weiblicher Selbstermächtigung nicht taugen.
V or ein paar Tagen auf Instagram. Ich bleibe an dem Video einer DJ hängen. Die Frau, der ich normalerweise dabei zusehe, wie sie lässig an einem Mischpult herumschraubt, starrt nun mit extrem geröteten Augen in die Kamera. Sie habe sich vor 24 Stunden ihre Fingernägel verlängern lassen; seitdem bekomme sie ihre Kontaktlinsen nicht mehr raus.
Verzweifelt hält sie ihre neuen neongelben Krallen hoch. Ein paar Tage später. Ich wohne in der U-Bahn dem panischen Versuch einer jungen Frau bei, den Türöffner zu bedienen. Doch es will ihr mit ihren extrem langen Nägeln einfach nicht gelingen. Irgendwann drücke ich entnervt selber.
Dies sind nur zwei Beispiele der diversen Fingerverrenkungen, die ich in jüngster Zeit beobachten konnte. Denn lange Fake-Nails für – meist – Frauen liegen im Trend. Trugen diese Art von Körperverzierung hierzulande früher vor allem Superblondinen wie Daniela Katzenberger oder geschmacksverirrte Teenager, sind es heute Frauen aus allen Milieus.
Auch ich habe sie mit 17 Jahren mal ausprobiert. Nicht in Gel- oder Acrylform, wie man sie für teures Geld in einem Nagelstudio angeboten bekommt, sondern als vorgefertigte Plastikaufsätze. Kaum hatte ich sie aufgeklebt, Ratlosigkeit: Wie um alles in der Welt sollte ich mich mit ihnen anziehen oder am Computer tippen? Unvoreingenommen bin ich also sicher nicht, wenn es um Nail-Art geht.
Die Nägel der Sprinterin
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Positiv überrascht war ich dagegen, als ich nun auf diversen Websites die lange und spannende Geschichte der Nagelkunst studierte. Schon seit dem Altertum doktert die Menschheit an ihren Nägeln herum. Ob Babylonier:innen, Kleopatra oder die männliche Elite der Ming-Dynastie, sie alle nutzten Henna, Kohle, Gold, Edelsteine, Porzellanpulver und/oder Reispapier, um ihre Fingerenden nach mehr aussehen zu lassen als nach einem profanen Häufchen Keratin.
Schöne lange Nägel galten als Statussymbol, denn sie zeigten, dass ihre Träger:innen Handarbeit nicht nötig hatten.
Springen wir ins 20. Jahrhundert. Richtig populär wurden die langen Fingernägel in den 1980er Jahren durch die Airbrush-Nails der Schwarzen Sprint-Olympiasiegerin Florence Griffith-Joyner. Frauen aus der US-amerikanischen Black Community haben ohnehin viel mit extravaganten Nagelformen und -farben experimentiert: Style als Mittel zur Selbstermächtigung.
Heute sind Fake-Nails Mainstream, und es werden erbitterte Diskussionen über kulturelle Aneignung geführt. Zeitgleich wird die Plaste an den Händen inzwischen häufig als feministisches Statement verstanden. Statt Muttis nett manikürtes Töchterlein ist frau jetzt lieber eine wehrhafte Raubkatze, die jedem, der ihr dumm kommt, die Augen auskratzen kann.
Doch schon der Name ihrer extremsten Form – „Stiletto-Nails“ – zeigt, dass sich bei diesem angeblich so emanzipatorischen Akt das Patriarchat durch die Hintertür eingeschlichen haben könnte. Auch Schuhe mit Pfennigabsätzen behindern eher, als dass sie befreien.
Feministisch sind die Nails schon allein deshalb nicht, weil echte Feminist:innen immer auch Unterprivilegierte mitdenken. Doch oft werden die äußeren Extremitäten von Billiglöhnerinnen getunt, während ihre Besitzerinnen am Handy hängen, Hashtag: #SoCute #MeTime #FeministRevolution.
Ladys, hört endlich auf, euch wie das größte Kunstwerk eures Lebens zu betrachten und packt mit an. Zu tun gibt es schließlich genug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten