„Black Lives Matter“-Debatte: Rassismus ist keine Einbahnstraße!

Der aktuelle Rassismus-Diskurs führt teils zu „Othering“ – dem gutgemeinten, aber nicht zielführenden Andersmachen von anderen.

Illustration: Katja Gendikova

Rassismus ist real. Er ist ernst und lässt sich nicht ignorieren. Rassisten diskriminieren, verfolgen und töten andere Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres „Andersseins“. Die brutale, enthemmte Gewalt des amerikanischen Polizisten gegen George Floyd wühlt auf und erzeugt Wut. Zu Recht führen solche Vorfälle dazu, die eigene Haltung, die eigene Gesellschaft zu hinterfragen. Zu Recht lösen sie Debatten aus. Das ist lebensnotwendig für die Demokratie.

Keinen anderen Ansatz im Kampf gegen Rassismus kann es geben als den einer breiten Diskussion über das Phänomen selbst, seine Ursachen und die Einstellungen dazu.

Doch in den Debatten zeigen sich auch Schieflagen. Teils genügen Codes, Memes, einzelne Worte, um Hass oder Ablehnung und Denkverbote zu aktivieren. In Teilen der Linken gleicht jegliche differenzierte Betrachtung der Polizei einem Verrat.

Wer, wie ich, strukturellen Rassismus in der Polizei als nicht existent wahrnimmt und große Unterschiede in der Ausbildung der Polizei zwischen der USA und Deutschland sieht, ist für sie „rechts“, ein Onkel-Tom Migrant oder ein Haussklave, wer auf Diskriminierung von Minderheiten durch andere Minderheiten hinweist, wird abqualifiziert und diffamiert. Nach diesem Muster verlaufen Debatten über Integration, Frauenrechte im Islam und viele andere Diskussionen.

Schwarze berichten von ihren Alltagserfahrungen, das ist gut und richtig. Doch einige erteilen dabei nichtschwarzen Leuten Sprechverbote: Als Privilegierte könnten sie nie nachvollziehen, was es bedeutet, wegen der Hautfarbe angestarrt oder ausgegrenzt zu werden. Geht es dabei tatsächlich nur um das Bekämpfen von Rassismus? Oder eher darum, Thesen und Theorien zu untermauern und etwa den eigenen Opferstatus festzuschreiben?

Maulkorb für Nichtschwarze

Im Namen der Toleranz kann eine Menge Intoleranz entstehen – gegenüber anderen Meinungen, anderen Gruppen, selbst wenn diese vom eigenen moralischen Kompass nur wenige Millimeter abweichen und heilige Figuren der Szene kritisch berühren. Die Gefahr für den freien Diskurs besteht dann, wenn Minderheiten für sich eine Form von „Artenschutz“ reklamieren, der selber wieder biologistische Züge trägt. „Weil ich schwarz bin, können Weiße mich nicht verstehen! Also haben Weiße auch nichts dazu zu sagen!“

Schwarze Studierende in den USA haben in den vergangenen Jahren schon manchmal gefordert, dass Weiße ein Seminar oder eine Vorlesung verlassen, damit sie „unter sich“ in einem „safe space“ sein könnten. Auch schwarze Professoren wie John McWhorter von Columbia University oder Glenn Loury von der Brown University haben solche Ansätze offen als „illiberal“ kritisiert.

McWhorter gab zu, dass ihm solche Phänomene, angefeuert durch Soziale Medien, Angst machen, da sie keineswegs weiße Privilegien beseitigen und mehr freien Diskurs schafften, sondern dogmatisch Sprechverbote und Denkverbote errichteten. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hielt am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington seine berühmte Rede mit dem Leitmotiv: „Ich habe einen Traum.“

Ein Schlüsselaspekt darin war der Traum, dass die Kinder der früheren Sklaven und die Kinder der früheren Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen werden, dass nicht die Hautfarbe, sondern der Charakter eines Menschen zählt. Solche Sätze würden im heutigen Diskurs von vielen als naiv verurteilt. „Aber ich bin und bleibe doch schwarz – und Weiße sehen mich anders an!“ Ja, das ist wahr – aber genau deshalb sollten Sätze wie die von Dr. King heute noch mehr Geltung bekommen.

Genau darum geht es: um die Würde eines jeden Menschen, die unantastbar ist - ganz gleich, wie unterschiedlich wir sind. Es gilt das Recht durchzusetzen, das jedem Menschen zusteht, das Menschenrecht. Wenn ich darauf beharre, dass ich als Araber „anders“ bin, weil ich eine andere Herkunft als die der Mehrheit hier im Land habe, bekräftige ich das „Othering“, das mich zum „anderen“ macht.

Die Farbe muss egal sein

Ich suche dann weniger meine Würde, mein Menschenrecht und meine Gleichberechtigung, als meinen Status als Opfer. Ich verfestige eine in Schwarz und Weiß gespaltene Welt. Darum kann es nicht gehen. Es geht darum, jedem Rassismus entschieden mit dem Grundgesetz, mit dem Menschenrecht entgegenzutreten. Das gilt für den Rassismus der Weißen gegenüber Schwarzen, für den Rassismus der Chinesen gegenüber den Uiguren, der Türken gegenüber den Kurden – und so fort. Überall. Auf allen Kontinenten.

Es geht darum, dass Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft immer klarer, immer selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind: an Schulen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, in Medien – in allen Bereichen der Lebens- und Arbeitswelt. Das erreiche ich nicht, wenn ich beanspruche, allein den Diskurs zu bestimmen und zu entscheiden, was legitime Meinungen sind, und außerhalb meiner Blase nur Gegner sehe. Das Ziel der Gleichberechtigung erreiche ich nicht mit Theorien, die ich meinen Dogmen anpasse.

Wer zum Beispiel heute auf die gefährdete Lage von Lesben und Schwulen in muslimischen Ländern und anderen traditionellen Gesellschaften hinweist, in denen homophobe Gesetze und Sitten gelten, wird im postkolonialen Diskurs oft als „Homonationalist“ bezeichnet. Solche Anwürfe sind grotesk. Sie verzerren die Frage, welche Probleme und Rechte auf dem Spiel stehen.

Der Begriff Homonationalist ist grotest und arrogant

Sie verstellen den Blick auf die Realität und verraten diejenigen, die in diesen Ländern um ihre Rechte kämpfen, die verfolgt und inhaftiert oder hingerichtet werden. Vertreter der Denkrichtung des Postkolonialismus wollen Missstände, etwa im Nahen Osten oder in afrikanischen Staaten, sämtlich als Folge des Kolonialismus definieren. Den Menschenrechten erweist diese monokausale Perspektive einen Bärendienst.

Es ist, als seien die Gesellschaften dort noch immer nicht erwachsen, nicht souverän und nicht zumindest mitverantwortlich für ihre Lage, auch steinreiche Ölstaaten nicht. Es ist, als könnten „Araber“ oder „Afrikaner“ keinerlei Kritik ertragen, als seien sie passive Wesen und Bevölkerungen, unfähig, sich aus eigener Kraft zu reformieren. Auch das ist „Othering“ – das gutgemeinte, aber nicht zielführende Andersmachen von Anderen.

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Rassismus von Nichtweißen darf in diesem Weltbild nicht vorkommen, da kann nur „der weiße alte Mann“ Rassist sein. Doch die Abwertung von „anderen“ und die irreale Fantasie der „homogenen Gruppe“ kommt rund um den Globus vor. Rassismus ist keine Einbahnstraße, die nur von den „Weißen“ in Richtung anderer Gruppen führt. Diskriminierung aufgrund von Glauben, Nationalität, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer Schicht ist universell.

Sie trifft Geflüchtete, Muslime, Schwarze, LGBTQ-Gruppen, „Ungläubige“ oder auch Hartz IV-Empfänger…die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. All diesen Herausforderungen begegnen moderne, diverse Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung. Kein Dogma, kein Sprechverbot schafft sie aus der Welt – nur der couragierte, offene und herrschaftsfreie Diskurs. Wird er im Namen einer falschen Toleranz unterbunden, dann verliert der Begriff Toleranz seine Substanz.

Und dann reiben die Rechten sich die Hände. Die Rechte ist dreister geworden. Sie hat aufgehört ihre rassistische Ideologie schön zu verpacken und als Konservatismus auszugeben. Offen propagiert sie Hass gegen jene, die nicht bereit sind, ihre Panik vor dem Ende vermeintlicher Homogenität zu bestätigen. In ihr Feindbild gehören Ausländer, Muslime, Flüchtlinge, Linke, Grüne, Journalisten, die Kanzlerin, die Europäische Union – im Kern: die Demokratie.

Die Rechte nutzt emotional aufgeladene Codes, Argumente und Fakten wischt sie vom Tisch der Brüderlichkeit, ob in Brasilien, den USA, den Philippinen oder in Ungarn, Frankreich, Polen – und Deutschland. Und die Verbohrtheiten der Linken machen es ihr – leider – oft nur leichter. Ohne rechte und linke Ränder gleichsetzen zu wollen, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen identitärer Bewegung und Identitätspolitik sind da: Beide Ideologien arbeiten mit Fantasien von homogenen Gruppen und mit Opferkonkurrenz.

Demokratie braucht die Mitte

Beide nutzen fixierte Feindbilder und Opferrollen, beide Ideologien gehen von der Minderwertigkeit Anderer aus – die Identitären und Völkischen wollen Minderheiten ausgrenzen, die Anhänger der Identity Politics wollen Minderheiten glorifizieren. Dass Großgruppen ebenso wie Individuen stets gemischte, hybride Identitäten haben, blenden beide strategisch aus.

Gesellschaften, in denen die politischen Ränder am lautesten sind während die Mitte schweigt, verlieren ihre demokratische Basis. Die Ränder befeuern sich gegenseitig und die Mitte hält sich raus,sie beobachtet das Ping-Pong der Parteien und überlässt stellvertretend den Radikalen die Diskussion. So bleibt keine Demokratie bei sich. So ist auch kein Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung zu gewinnen.

Wenn ich mit Martin Luther King sage „ich habe einen Traum“, dann träume ich von einer Gesellschaft, in der Herkunft oder Hautfarbe kein Wort zu sagen haben über gerechte Chancen, in der es keine dummen Trennwände gibt zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sondern kluge Trennwände zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten.

Ich träume von einer Gesellschaft, in der ein Kind von Migranten Kanzlerin oder Kanzler werden kann, aufgrund von Haltung und Können, nicht trotz oder wegen eines Migrationshintergrunds. Das wäre Gerechtigkeit. Ich träume von einer Gesellschaft, die Konflikte friedlich löst, sachlich und differenziert diskutiert und die wichtigsten Themen tabufrei diskutiert, lösungsorientiert und im Geist des Grundgesetzes.

Demokratie lebt nicht davon, dass die Mitte schweigt, sondern dass dort alle bereit sind, zur offenen Diskussion, zur konstruktiven Streitkultur mit Argumenten und Gegenargumenten, zu gegenseitiger Anerkennung und Flexibilität im Denken. Um das zu erreichen, brauchen wir starke und selbstbewusste Demokratiebildung in jeder Schule, einen Schwerpunkt auf Erziehung zu Diskursfähigkeit und Empathie.

Dafür sind politische Vorbilder nötig, die bereit sind auch die unbequemeren Themen zu behandeln. Mit Sonntagsreden und Mahnwachen wird der Kampf für Gleichberechtigung und Demokratie nicht gewonnen.

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ist Diplom-Psychologe, Autor, Gründer und Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND preven­tion).

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