Bildung und Pandemie: Illusion Präsenzunterricht
Die Schulen werden mehr digital unterrichten, als ihnen lieb ist. Auch wenn das vielerorts nicht gut klappt: Bund und Länder bessern endlich nach.
F ür die Schulen beginnt das neue Jahr: im Chaos. Dafür reicht ein Blick auf die Regeln, die nach den Weihnachtsferien in Deutschland gelten. Kinder müssen weiter zu Hause lernen, zu Klassenarbeiten aber in die Schule kommen. Je nach Wohnort gibt es eine Notbetreuung für alle – oder nur für Eltern mit bestimmten Berufen. Manche Länder verschieben die Halbjahreszeugnisse – andere die Faschingsferien. Baden-Württemberg und Niedersachsen öffnen die Grundschulen schon kommende Woche. Woanders hält man das für verfrüht. In Hamburg und Bremen entscheiden die Eltern, ob die Kinder in die Schule dürfen. Und in Sachsen und Thüringen versprechen Landespolitiker:innen Regelunterricht im Februar, obwohl die aktuellen Infektionszahlen das kaum hergeben.
Die Kultusminister:innen fahren auf Sicht. Sie wägen ab zwischen Gesundheitsschutz, der Chancengerechtigkeit, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Bis Ende Januar bleiben deshalb – trotz aller Unterschiede zwischen den Ländern – die meisten Schulen im Land zu. Das ist gut so. Damit gestehen die Kultusminister:innen auch stillschweigend ein, was sie bis vor Weihnachten noch rundheraus bestritten haben: dass Schulen sehr wohl eine Rolle für das Infektionsgeschehen spielen können. Das bedeutet aber auch: Geschlossene Schulen und Distanzunterricht könnten uns 2021 noch lange, lange begleiten. Nicht zuletzt wegen der besonders ansteckenden Virusmutation B.1.1.7, die schon in mehreren Bundesländern entdeckt wurde. Die baldige Rückkehr zum Präsenzunterricht, auf die die Kultusminister:innen wie selbstverständlich bauen, könnte sich als Illusion herausstellen. Umso ärgerlicher sind die Versäumnisse, die den Fernunterricht heute erschweren.
Zur Erinnerung: Vor fünf Jahren haben die Kultusminister:innen versprochen, dass im Jahr 2021 jede und jeder Schüler:in im Land auf eine „digitale Lernumgebung“ zurückgreifen kann – mit eigenem Smartphone, Breitband an allen Schulen und entsprechend fortgebildeten Lehrkräften. Wie weit die Schulen von diesem Versprechen entfernt sind, zeigt eine Umfrage der Lehrergewerkschaft VBE unter 785 Schulleiter:innen von Ende November: Nur an 6 Prozent der Schulen gibt es demnach Tablets für alle Kinder, lediglich an 15 Prozent ist das Kollegium hinreichend für digitales Arbeiten fortgebildet. Anschluss ans Breitband? Hat nur jede zweite Schule. Und das volle acht Monate nach den schmerzlichen Homeschooling-Erfahrungen im ersten Lockdown. Wie kann das sein?
Am Geld jedenfalls liegt es nicht. Seit Mai 2019 stehen die 5 Milliarden Euro des Bundes für den Digitalpakt Schule zur Verfügung. Doch selbst während der Pandemie schien es damit niemandem sonderlich eilig zu sein. Bis Juli 2020 haben die Länder gerade mal 15,7 Millionen Euro abgerufen. Seither hat der Bund noch drei Sofortprogramme über je 500 Millionen Euro draufgepackt: zunächst für Leihgeräte für bedürftige Schüler:innen, später noch eins für IT-Personal an Schulen sowie für Dienstlaptops für Lehrer:innen. Und: Bund und Länder haben das Antragsverfahren für Digitalpakt-Gelder vereinfacht. Seither kommt etwas Tempo in die Sache. Trotzdem waren Ende 2020 gerade mal 18 Prozent der Mittel bewilligt. Im Saarland oder in Schleswig-Holstein sogar nur rund 3 Prozent. Schnelles Nachrüsten in der Pandemie sieht anders aus.
Keine virtuellen Unterrichtsstunden
Nichts symbolisiert die Halbherzigkeit besser als die staatlichen Lernplattformen. Eigentlich sollen Mebis, LernSax oder Lernraum Berlin aus dem „häuslichen Lernen“ mehr machen als einen Stapel ausgedruckter Arbeitsblätter. Leider schmieren Mebis & Co zuverlässig ab, wenn sich zu viele Klassen gleichzeitig einloggen wollen. Im März hatten die Eltern für die technischen Pannen noch Verständnis. Heute sieht es so aus, als hätten die Ministerien ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Doch selbst wenn die Lernplattformen optimal liefen: Virtuelle Unterrichtsstunden ermöglichen sie nicht. Dafür braucht es Videotools wie Zoom oder Microsoft Teams, denen die Kultusministerien aber zurückhaltend begegnen – aus Datenschutz- und vielleicht auch aus Kostengründen.
Zur Wahrheit gehört, dass nicht alle Lehrkräfte Liveunterricht vor dem PC geben möchten (oder für notwendig halten). Sie würden es aber vielleicht ausprobieren, wenn sie ein entsprechend ausgestattetes Dienstgerät hätten, sich nicht um Datenschutzfragen scheren müssten und mit dem technischen Support an der Schule zufrieden wären. Zumindest zeigt eine Umfrage der Bildungsgewerkschaft GEW, dass die große Mehrheit der befragten Lehrkräfte beim Thema digitaler Unterricht unzufrieden ist. Und auch mit den Fortbildungsangeboten.
Doch es tut sich was. In Niedersachsen beispielsweise wurden seit dem ersten Lockdown 53.550 Lehrkräfte digital fortgebildet, fast 80 Prozent der gesamten Lehrerschaft. Ähnlich imposant klingt die Zahl der Laptops, die die Ministerien mittlerweile gekauft und bereits an Schulen verteilt haben: 23.412 Stück in Schleswig-Holstein, 38.813 in Sachsen, 41.610 in Berlin etc. Viele Länder packen noch Tausende Geräte obendrauf, um möglichst vielen Schüler:innen ein Gerät leihen zu können. Wenn nun ebenso rasch Schuladministratoren angeheuert und Dienstlaptops für Lehrkräfte verteilt würden, dürfte der Fernunterricht im zweiten Schulhalbjahr schon gleich etwas besser und gerechter laufen. Und digitaler.
Das löst freilich nicht alle Probleme, die bei längerem Fernunterricht auftreten. Aber immerhin bessern die Länder nun beherzter nach. Passend dazu liegt der diesjährige Schwerpunkt in der Kultusministerkonferenz bei: digitalem Lernen. Wobei das nichts am obersten Ziel der Minister:innen ändert: der schnellstmöglichen Rückkehr zum Präsenzunterricht. Wann und wie jedoch welche Schulen wieder öffnen, entscheidet jedes Bundesland selbst. Für die Schulen dürfte das Jahr 2021 so chaotisch weitergehen, wie es angefangen hat.
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