Gewerkschafterin über Bildungschancen: „Viele Kinder leiden psychisch“

Der Fokus muss auf Kindern liegen, die von Schulschließungen besonders benachteiligt sind, fordert Ilka Hoffmann. Lehramtsstudierende könnten helfen.

Auf dem Boden eines Kinderzimmers liegen Schulsachen verstreut

Gehört wohl noch eine Weile zum Familienalltag: Home­schooling Foto: Jannis Chavakis/KNA

taz: Frau Hoffmann, immer wieder wurde in den letzten Wochen und Monaten argumentiert, dass die Schulen geöffnet bleiben sollen, um Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Was ist da dran?

Ilka Hoffmann: Man muss ganz klar sagen: Das suggeriert, dass es vor Corona eine Bildungsgerechtigkeit gegeben hätte. Aber wir wissen aus vielen nationalen und internationalen Studien, dass der Bildungserfolg in Deutschland stark an das Einkommen der Eltern und den sozialen Hintergrund gekoppelt ist. Jetzt so zu tun, als ob erst durch den Lockdown Bildungsungerechtigkeit entstanden wäre, vermittelt ein völlig falsches Bild.

Haben die Schulschließungen Bildungsungerechtigkeit dennoch verschlimmert?

war lange als Sonderpädagogin tätig und ist im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Bereich Schule zuständig.

Die eklatanten Probleme, die ein gegliedertes Bildungssystem hat, haben sich im Lockdown verschärft. Soziale Probleme wirken sich beim Fernunterricht noch stärker auf die Bildungsbiografie der Kinder aus – wenn sie beispielsweise den einzigen Berührungspunkt mit Lernen und Schriftsprache in der Schule haben und nun davon abgeschnitten sind. Ein weiteres Problem ist, dass Armut, enge Wohnverhältnisse und Gewalt in der Familie noch mehr durchschlagen.

Die Kultusminister*innen wurden zuletzt vielfach für ihre Schulpolitik kritisiert. Was erwarten Sie von ihnen nach den neuen Bund-Länder-Beschlüssen?

Wir wünschen uns klare Leitlinien, die dann regional und schulisch angepasst werden können, sowie ein Monitoring des Infektionsgeschehens in Schulen. Eine gute Abwägung zwischen Bildungsrecht und Gesundheitsschutz ist notwendig. Das heißt, dass ab einem Inzidenzwert von 50 Wechselunterricht angeboten, bei hohen Infektionszahlen auf Fernunterricht umgestellt werden sollte. Aber die gesamte Gesellschaft, auch die Unternehmen, sind gefragt, Familien in der Betreuungsfrage zu unterstützen. Die Verantwortung kann nicht wie bisher allein auf die Bildungseinrichtungen abgewälzt werden.

Mit welchen konkreten Maßnahmen können Schü­le­r*innen in schwierigen Situationen jetzt unterstützt werden?

Der Fokus darf jetzt nicht auf der Einhaltung von Lehrplänen und dem Prüfen von Leistungen liegen. Er muss auf den Kindern liegen, die tatsächlich besonders stark von Schulschließungen benachteiligt werden: Das sind die jüngeren Kinder und diejenigen, die zu Hause nicht lernen können. Der Wechselunterricht, bei dem jeweils kleinere Gruppen unterrichtet werden, bietet die Möglichkeit, mehr auf die einzelnen Bedürfnisse und Probleme einzugehen. Für Kinder, die noch im Erwerb der Zweitsprache Deutsch stecken oder zu Hause Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind, müssen zusätzliche Angebote geschaffen werden. Hier könnten beispielsweise Lehramtsstudierende zum Einsatz kommen, die einzelne Kinder und Jugendliche oder kleine Gruppen beim Lernen unterstützen. Dies sollte auf die Studienleistung angerechnet und auch honoriert werden.

Was ist in der Unterrichtsgestaltung wichtig, um möglichst wenige Kinder abzuhängen?

Wichtig ist eine gute Verzahnung von Präsenz- und Fernphasen. Der Präsenzunterricht dient der Vor- und Nacharbeitung der Fernlernphasen. Es muss auch über das Lernen reflektiert werden: Was hast du gemacht? Warum hat das geklappt und warum nicht? Das ist sehr arbeitsintensiv, aber hilfreich.

Und wenn kein Präsenzunterricht mehr stattfindet?

Dann ist der persönliche Kontakt zentral: Es muss feste Zeiten und Wege geben, um einen Kontakt zur Lehrperson oder zu anderen Schüler*innen aufrechtzuerhalten. Und wenn Probleme auftreten, muss es auch die Möglichkeit geben, mit Schulsozialarbeiter*innen zu sprechen.

Welche Rolle können Schulsozialarbeiter*innen spielen?

Sie sind extrem wichtig, weil sie einen lebensweltbezogenen Ansatz haben, während die Schulpädagogik eher auf die formale Bildung abzielt. Schulpädagogik und Sozialpädagogik können sich sehr gut ergänzen. Aber nur, wenn die Schulsozialarbeit ausreichend ausgestattet, institutionell in der Schulleitung verankert und damit ein fester Teil jeder Schule ist. Es muss also feste tariflich gesicherte Anstellungsverhältnisse und feste Zuordnungen zu einer Schule geben.

Was können Schulsozialarbeiter*innen gerade ganz praktisch für die Kinder tun?

Wir haben beobachtet, dass viele Kinder psychisch extrem unter der Pandemie leiden – beispielsweise, wenn die Eltern Existenzsorgen haben. Da kommen Schulsozialarbeiter*innen ins Spiel. Sie können den Kindern ein pädagogisches Angebot machen oder sie beraten, ohne dass dies im Zusammenhang mit einer Leistungsbewertung steht.

Sie waren viele Jahre Sonderschullehrerin. Wie gut sind Schulen auf Kinder mit besonderem Förderbedarf vorbereitet?

Ich habe zum Beispiel beraten, wenn Kinder in gewalttätigen Familien aufwuchsen, selbst gewalttätig wurden und den Unterricht störten, und muss sagen: Viele Schulen sind überfordert. In manchen Bundesländern wie Bremen, Hamburg, Berlin und einzelnen Städten gibt es Beratungs- und Unterstützungsangebote, die Jugendhilfe und Schule verknüpfen. Diese könnten allerdings personell besser ausgestattet sein. In vielen Fällen geht der Weg aber auch in die Ausschulung oder in die Jugendpsychiatrie. Wir haben leider kein flächendeckendes, gut ausgestattetes präventives System etabliert, das sofort greift, wenn Kinder auffallen. Das gibt es nur vereinzelt.

Haben die Lehrer*innen Zugang zu diesen Kindern?

Zu Beginn der 2000er rückte man die Effizienzsteigerung des Bildungswesens in den Mittelpunkt. Seitdem ist die Betrachtung von sozialen Problemen sowie ein emanzipatorischer Ansatz von Erziehungswissenschaft etwas verblasst. Hinzu kommt, dass die Lehrer*innen immer weiter von der Lebensrealität vieler Schüler*innen weg sind: Früher war Grund- und Hauptschullehrer*in ein Aufstiegsberuf. Den ergriffen Leute, die aus der Arbeiterklasse oder dem Bauernmilieu kamen und als Erste in ihrer Familie Abitur machten und studierten. Heute kommen viele Lehrer*innen selbst aus der Bildungsschicht. Das ist ja erst mal nicht schlecht, aber die Distanz zu Familien, die Existenzsorgen, keinen Klavierunterricht oder gute Lebensverhältnisse haben, ist größer geworden. Man muss sich diesen Kontakt und dieses Verständnis erarbeiten, eine gemeinsame Sprache finden. Dies spielt leider in der Ausbildung kaum eine Rolle. Ich wünsche mir, dass wir aus Corona lernen, welche extremen sozialen Probleme wir in diesem Land haben und unter welch schwierigen Bedingungen manche Kinder aufwachsen.

Wenn es nach Corona nicht so weitergehen kann wie zuvor – wie sieht dann Pande­mie­nachsorge aus?

Man muss schauen, dass man den Kindern und Lehrkräften Zeit gibt. Weiterzumachen mit Stoffdruck und Klassenarbeiten, das wird nicht gehen. Und längerfristig muss man die Karten auf den Tisch legen und fragen: Was braucht eine Schule langfristig an Personal, Unterrichtsformen, Ausstattung, Fortbildung, Schulentwicklung? Zu solchen sozialen Verwerfungen darf es nicht wieder kommen.

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