Baerbocks und andere Ausrutscher: Egal, was die Leser*innen denken
Vorausschauen ist eine Kunst, die klappt, wenn Selbstbild und Realität nicht zu weit auseinander klaffen. Das musste auch die Außenministerin lernen.
D ie Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich zu wenig vorausschauend. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt, denn zuweilen klaffen Selbstbild und Realität auf irritierende Weise auseinander. Jüngst etwa auf der griechischen Insel Korfu, als wir mit einem Boot zu den Höhlen und Buchten tuckerten, die nur vom Meer aus zugänglich sind.
Kaum war der Anker geworfen, schon hüpfte die taucherbebrillte Minderjährige ins Wasser. Ich hinterher, gierig nach der prächtigen Unterwasserwelt. Doch nachdem Meereshöhle und Bucht ausgiebig beschnorchelt wurden, stellte sich eine unangenehme Frage: Wie soll frau bloß zurück aufs Boot kommen?
Zum Glück entdeckten wir eine sehr schlichte Leiter zum ausklappen. Der untersten Stufe fehlte allerdings die kleine Holzplanke, hier war nur noch das nackte, rutschige Metallrohr vorhanden. Die Minderjährige schwang sich dennoch so behände aufs Boot wie Winnetou auf seinen Rappen Iltschi.
Ich dagegen, nun ja, es wurde so kafkaesk wie die Grundsatzrede von Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche in Prag. Es ergaben sich viele Fragen, aber keine Lösungen. Rutsch und platsch in endloser Folge, interessiert beobachtet von anderen Booten und begleitet vom unterdrückten Prusten der Minderjährigen sowie der Niederländerin, die zu unserer Reisegemeinschaft gehört.
Kurz kam der Gedanke auf, die paar Kilometer zurück zum Anleger zu schwimmen. Aber meine Begleiterinnen entschieden, es erst einmal mit schieben, ziehen und lautem „Hauruck“ zu versuchen. Trotzdem: rutsch und platsch. Den Durchbruch brachte schließlich und endlich ein Taucherschuh mit Antirutschsohle aus den Tiefen meiner Strandtasche. Mein Selbstbild ist, ähm, leicht beschädigt.
So etwas könnte Außenministerin Annalena Baerbock nie passieren. Sie sieht sich als eloquente Rednerin, die Politik herausragend erklären kann und Englisch mit nahezu muttersprachlicher Kompetenz beherrscht. Das erinnert zwar eigentlich an ein anderes Mitglied der Bundesregierung, aber egal, nichts würde Baerbock von ihrem Selbstbild abbringen.
Diese Woche also sprach sie auf dem Forum 2000 in Prag. Wohlwollend zusammengefasst sagte sie Folgendes: Gemäß ihrer Prinzipien steht sie in diesem Angriffskrieg felsenfest zur Ukraine und zu den Sanktionen gegen Russland. Putins Kalkül, Deutschland mit seinen Energiewaffen zu spalten, gehe nicht auf. Die sozialen Härten in der Energiekrise werde man abfedern statt die eigenen Prinzipien zu verraten und die Sanktionen abzuschaffen, um den Wähler*innen zu gefallen.
Sehr richtig und einer deutschen Außenministerin würdig. Doch es fiel auch dieser Satz: „Ich werde dieses Versprechen (die Ukraine zu unterstützen) einhalten. Egal, was meine deutschen Wähler denken.“ Sahra Wagenknecht (die Linke) und Alice Weidel (AfD) gerieten gleichermaßen in Wallung ob des Verrats am deutschen Volke. #Amtseid und #BaerbockRücktritt trendeten alsbald auf Twitter. Die grünen Scharfschützen brachten sich in Stellung und bis ins konservative Lager hinein wurden Pro-Baerbock-Tweets abgefeuert. Fake News! Desinformationskampagne!
Und es stimmt ja, dass die Baerbock-Gegner die Außenministerin bewusst missverstehen wollten. Doch zur Wahrheit gehört auch: Dieser Egal-Satz war sehr, sehr unglücklich und wenig vorausschauend formuliert. Er hätte so nicht fallen dürfen, nicht auf Englisch und auch nicht auf Deutsch. Egal, was meine Leser*innen jetzt denken.
Der Minderjährigen ist auch sehr häufig egal, was ich denke. Ich denke zum Beispiel, dass es komisch ist, dass sie sich immer zur zweiten Pause kurz vor dem freitäglichen Sportunterricht unpässlich fühlt. Oder ich denke, dass sie eigentlich keine neue Klamotten braucht und vier Paar Sneakers ebenfalls ausreichen.
Aber ich schweige, weil ich neuerdings sehr übe, mich vorausschauend zu verhalten. Schließlich soll man auch in jungen Jahren an das Alter denken. Die meisten pflegebedürftigen Menschen werden inzwischen ja zu Hause gepflegt. Von ihren Angehörigen.
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