Autor über Zukunft der Sozialdemokratie: „Die SPD ist in einer Angststarre“
Nils Heisterhagen hofft vor der Vorstandswahl auf einen Linksschwenk der Sozialdemokraten – und fordert eine deutliche Abgrenzung von den Grünen.
taz: Herr Heisterhagen, Sie haben kürzlich den österreichischen Sozialdemokraten eine Doppelspitze mit der jetzigen Parteivorsitzenden Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil empfohlen. Warum?
Nils Heisterhagen: Die Sozialdemokratie kann nur dann wieder eine Volkspartei werden, wenn sie die Breite der Überzeugungen, die in ihrer Wählerschaft vorhanden sind, repräsentiert und abbildet. Frau Rendi-Wagner steht eher für ein großstädtisches, liberales Milieu. Herr Doskozil steht eher für Law and Order, aber auch für soziale Sicherheit, also für das, was ich immer als linken Realismus bezeichne. Wenn man eine Volkspartei sein will, muss man beides im Angebot haben.
Herr Doskozil hat 2017, als er noch Verteidigungsminister war, vorgeschlagen, Panzer an den Brenner zu schicken, um Flüchtlinge abzuschrecken. Jetzt ist er Landeshauptmann im Burgenland in einer Koalition mit der FPÖ. Gibt es Schamgrenzen für Ihren linken Realismus?
Das ist eine wichtige Debatte, auch im Hinblick darauf, was die dänischen Sozialdemokraten vorschlagen. Ich verstehe unter dem dänischen Modell die Rückkehr zum starken Staat, in der Sozial- und Steuerpolitik, in der Wirtschafts- und Industriepolitik und bei der inneren Sicherheit. Es gibt Ideen, die ich für nachahmenswert halte, andere aber nicht. Die Insel für Flüchtlinge, die die Dänen schaffen wollten, lehne ich ab. Und die Doskozil'sche Drohgebärde mit den Panzern zur Abschreckung ist mir auch zu hart.
Was man aber von den Dänen und Herrn Doskozil lernen kann: dass Sozialdemokraten Regeln vorgeben sollten, an die sich alle zu halten haben. Was für die Migrationspolitik heißt, Migrationsströme so zu regulieren, dass sie nicht in Chaos und im anything goes enden.
Was ist mit der Koalition mit der FPÖ?
Ich kenne die FPÖ im Burgenland nicht. Mit der AfD kann man nicht koalieren. Sie ist auf einem Radikalisierungskurs nach rechts. Moderate Kräfte, wenn es sie überhaupt noch gibt, verlieren an Einfluss.
31, ist Politologe, Volkswirtschaftler, Autor, SPD-Mitglied. Bis September 2018 war er Grundsatzreferent bei der Landtagsfraktion der SPD in Rheinland-Pfalz. Er hat unter anderem in Hannover studiert.
Wen würden Sie der SPD für ihre neue Spitze empfehlen?
Eine schwierige Frage. Ich wünsche mir, dass linke Realisten in einer Doppelspitze eine Rolle spielen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Sigmar Gabriel das größte politische Talent der Sozialdemokratie ist, wenn nicht sogar des ganzen deutschen Bundestags.
Talent – mit 59?
Es war falsch, dass man ihn aus der ersten Reihe entfernt hat, weil er immer noch ein großes intellektuelles und politisches Gewicht hat. Wir müssen aber zunächst einmal abwarten, wer sich bewirbt. Falls Franziska Giffey oder auch Boris Pistorius anträten, fände ich das nicht das Schlechteste.
Was halten Sie von den jetzigen Kandidaten?
Nicht so viel. Michael Roth etwa steht für eine Fortsetzung des urbanen Liberalismus, der ein Symptom der Krise der Sozialdemokratie ist. Die SPD braucht keine diffuse Haltung. Sie braucht realpolitische Antworten auf die Fragen der Zeit.
Roth hat sich jetzt gegen die Schuldenbremse gewandt.
Wenn ich noch mal auf Sigmar Gabriel verweisen darf, der kürzlich das Plädoyer „Zurück zum starken Staat“ geschrieben hat: Das ist genau die Idee, die die Sozialdemokratie braucht, nämlich einen starken Staat in vielen Bereichen. Diese Idee würde die Stammklientel der SPD wieder zurückholen. Die Sozialdemokratie braucht Kandidaten, die die Alltagsprobleme der Menschen verstehen.
Das haben Sie schon vor einem Jahr in Ihrem Buch „Die liberale Illusion“ geschrieben. Damals stand die SPD in den Umfragen bei knapp 20 Prozent, die Grünen bei 12. Nun liegen die Grünen bei 25, die SPD bei 14. Vielleicht ist die Klientel, die auf Ihren linken Realismus wartet, gar nicht so groß.
Wenn zwei linke Parteien die Grünen kopieren, gewinnen die Grünen und die anderen beiden verlieren. Genau das passiert jetzt. Die Linke versucht unter Katja Kipping das Thema Klima hochzuziehen und damit gewisse Milieus in Großstädten zu erreichen, vernachlässigt aber den ländlichen Raum und den Osten. Die Linkspartei ist ja sogar radikaler als die Grünen beim Klima und macht sinnfreie Verstaatlichungsvorschläge. Bei der SPD ist es ähnlich.
Nach der Europawahl hat die SPD gesagt: Wir müssen Klima und Digitalisierung angehen. Alles richtig. Aber mit welcher Tonalität und mit welchem Programm? Ich habe keine umfassenden Vorschläge der SPD bezüglich einer grünen Industriepolitik gehört, mit denen sie zeigen könnte, dass sie die Partei ist, die Ökologie und Ökonomie sinnvoll miteinander verbinden und auch hier die Idee des starken Staates durchdeklinieren kann. Etwa indem sie sagt, wir stecken viel mehr Geld in die Grundlagenforschung bei Brennstoffzellen oder Batterien.
Die SPD stellt doch die Bundesumweltministerin.
Svenja Schulze ist überfordert und nicht in der Lage, der deutschen Sozialdemokratie beim Thema Klimapolitik wirklich zu helfen. Bei dieser Dominanz des Themas müsste man im Umweltministerium jemand haben, der eigene Akzente in der Debatte setzen könnte – vor allem hinsichtlich einer grünen Industriepolitik, die nämlich die rote Umweltpolitik wäre.
Was werfen Sie Frau Schulze konkret vor?
Sie ist zu leise. Sie sagt, man müsse auf die soziale Balance bei einer CO2-Bepreisung achten. Aber das sagen im Grunde alle, weil niemand Gelbwesten in Deutschland will. Frau Schulze spricht dann noch über das Klimakabinett oder davon, dass man Dinge beschleunigen muss. Aber konkrete Vorschläge höre ich von ihr nicht.
Hat die SPD nicht eher ein Haltungsproblem? Etwa in der Mietenpolitik: Vor den Landtagswahlen im letzten Jahr haben Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel ein Mietenpapier veröffentlicht, das die Grünen links überholt hat, etwa mit der Forderung nach einem Mietenstopp. Seitdem ist nichts passiert. Wenn Sie jetzt nachfragen, sagt Schäfer-Gümbel, das wird zum Antrag für den nächsten Parteitag. Diesen Unernst spüren die Wähler.
Die Partei ist in einer Angststarre. Vor allem die Spitzenfunktionäre begehen mit bürokratischem Eifer Selbstmord. Intern spricht man manchmal bestimmte Dinge klar an, tritt dann doch vor die Presse und verliert sich in einem verquasten, moderaten Slang, den niemand versteht. Thorsten Schäfer-Gümbel hat kürzlich dem Tagesspiegel ein Interview gegeben, in dem er Ähnlichkeiten zwischen der AfD und den Grünen aufgezeigt hat: Beide seien monothematische Parteien. Ich glaube, da war er sehr bei sich und ehrlich.
Dann ist er am nächsten Tag zurückgerudert.
Ich hätte dazu gestanden. Er hat doch recht. Die AfD und die Grünen sind wie Yin und Yang, die Pole einer gesellschaftlichen Polarisierung. Wenn die Grünen steigen, geht wahrscheinlich auch die AfD nach oben. Das hat die Schriftstellerin Juli Zeh bei „hart aber fair“ schön formuliert: Auf dem Land wählt man AfD teilweise aus bestimmten Interessen – und als Gegensatz zu den Grünen.
Wer also im Sinne der Grünen nur sagt: Wir müssen schneller und energischer werden beim Thema Klima, übernimmt die Poesie und die Emotionalität der Grünen. So stärkt man deren kulturelle Hegemonie und steht am Ende selbst als Depp da, weil man verliert. Die SPD muss klare Konzepte haben. So macht man auch Politik.
Soll die SPD aus der Großen Koalition raus?
Ich habe diese Große Koalition für falsch gehalten, weil die beiden großen Volksparteien wieder in einen Konflikt gegeneinander müssen …
… die zweite große Volkspartei ist – die SPD?
Ja. Um das zu symbolisieren: Friedrich Merz müsste die Union führen und ein junger Oskar Lafontaine die SPD. Und dann reden wir nicht nur über Klima und Migration, sondern auch über Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Steuerpolitik. Das würde beide Volksparteien wieder stark machen.
Aber?
Für beide großen Volksparteien würde es ein Blutbad geben, wenn wir Anfang 2020 neu wählen.
Sie klingen nach der Angststarre der SPD.
Na ja. Die wirtschaftlichen Rahmendaten werden schon Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres schlechter werden. Damit werden sich auch die Themen ändern, weil viele Leute Sorgen um ihren Arbeitsplatz bekommen. Auch die Verteilungsfrage wird wieder wichtiger werden. Wenn die Sozialdemokratie einen authentischen Linksschwenk hinbekommt, hat sie die Chance, damit vor der Bundestagswahl 2021 zu reüssieren.
Was kann die SPD von den Grünen lernen?
Dinge mit einer gewissen Energie vorzutragen. Die SPD hat zu wenige Überzeugungstäter in ihren Reihen. Sie hat zu viele Pragmatiker, die über ihre 10, 15 Jahre Politikerfahrung abgeschleift sind. Die Angst haben, überhaupt eine These zu haben, egal welcher Natur.
Kevin Kühnert konnte mit seiner unsinnigen Sozialismusthese ja tagelang die Debatte bestimmen. Ich erinnere mich an einen Tweet von Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt, der sinngemäß sagte, Kevin Kühnert sollte Parteivorsitzender werden, nicht für das, wofür er steht, sondern dafür, dass er überhaupt für etwas steht. Kevin Kühnert hat etwas zu sagen. Aber leider ist es nicht das, was der SPD gerade wieder auf die Füße helfen würde.
Der demokratische Sozialismus steht doch immer noch im Grundsatzprogramm der SPD.
Demokratischen Sozialismus, also die Zusammenfügung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, als überholt abtun zu wollen, wird sich als geschichtlicher Irrtum erweisen, hat Willy Brandt noch 1991 gesagt. Willy Brandts demokratischer Sozialismus ist aber nichts anderes als eine Chiffre für einen Anspruch der Sozialdemokratie, sich nicht nur auf Verwaltung und Management zu beschränken, sondern eine Vision von einem gelingenden Leben für alle zu haben.
Das meint auch Bernie Sanders, wenn er von Sozialismus spricht: Schaut euch Skandinavien und Deutschland an, was da alles umsonst ist, sagt er. Der ist ein linker Sozialdemokrat, aber doch kein Sozialist.
Sozialist im Sinne von: für Verstaatlichung.
Kevin Kühnert hat den Begriff des Sozialismus im klassischen Sinne benutzt. Der Kernbegriff dieses Sozialismus war immer die Kritik an der Dezentralisierung der Produktionsplanung. Kapitalismus ist im Kern die dezentrale Entscheidung über die Produktion, weil sich die Unternehmen selbst organisieren. Kühnert hat zumindest angedeutet, dass er sich auch einen staatlichen Betrieb BMW vorstellen kann.
Da gehen nicht nur alle Facharbeiter bei Daimler und BMW auf die Straße, sondern auch jeder pragmatisch eingestellte Linke. Die Planungsmodelle, wie wir sie in Kuba und der Sowjetunion gesehen haben, funktionieren einfach nicht. Soll Kevin Kühnert über Vermögensbesteuerung oder Finanzmarktregulierung reden. Aber bitte nicht über die Überwindung des Kapitalismus.
Wo steht die SPD in einem halben Jahr, wenn sie das ideale Spitzenduo findet?
Partizipation ist gut. Aber ich finde den jetzigen Prozess viel zu lang. Die SPD hat im Grunde im Sommer 2019 entschieden, dass man ein ganzes halbes Jahr bis zum Dezember wartet, bis die Spitze gewählt ist. Die SPD spricht von bis zu 23 Regionalkonferenzen, durch die die Kandidaten innerhalb von sehr kurzer Zeit gehen müssen. Das macht einen erstmal physisch und psychisch fertig. Es ist doch niemandem geholfen, wenn man neue Parteivorsitzende hat, die erst mal Urlaub brauchen.
Und nach dem Urlaub?
Ich fürchte, dass die neuen Parteivorsitzenden mit Formelkompromissen weitermachen wie bisher. Dass sie sich als Integrationskandidaten geben: Jeder soll finden, dass wir die Richtigen sind. Dann hätten wir Mitte 2020, und der Wähler weiß immer noch nicht, wofür die SPD steht. Die Sozialdemokraten müssen ihren Kurs demnächst in aller Klarheit entscheiden. Das wird nicht ohne Konflikte abgehen.
Die SPD hat in diesem neu geordneten Parteiensystem nur noch eine Wahl: wieder eine Reformpartei zu werden, die ihren Fokus auf eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik legt. Dafür muss sie sich entscheiden. Sie muss einfach sagen: So, das machen wir jetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen