Asyl- und Grenzpolitik: Im Dilemma und in der Defensive
Die Grünen sind in der Asyldebatte nicht sehr präsent. Statt über Islamismus und Integration zu reden, geht es um Grenzkontrollen und Abschiebungen.
M igration, Asyl, Grenzkontrollen. Eine Woche geht zu Ende, in der es kaum ein anderes Thema zu geben schien. Selbst als im Bundestag der Haushaltsentwurf debattiert werden sollte, stritten die Parteien darüber, wer den längsten Schlagbaum hat. Ein Haushalt, der übrigens bei der Integration und damit Islamismusprävention spart, ging dagegen im Nachrichtenstrom unter, als ginge es nur um eine marode Brücke in Dresden.
Dabei würde niemand behaupten, dass es keine Probleme zu lösen gäbe bei der Integration und beim Islamismus. Nur spielt das kaum noch eine Rolle. Stattdessen geht es nur noch um die Forderung nach Abschiebungen und geschlossenen Grenzen. Grund dafür ist auch eine aufgehetzte Öffentlichkeit, und es wäre verkehrt, nur auf den Springer-Verlag zu zeigen. Ein FAZ-Herausgeber nannte den Streit über Grenzkontrollen gerade die „Schicksalsfrage“ der Demokratie, eine Frage also, bei der die falsche Antwort das Ende bedeuten würde.
Aber der Rechtsruck ist auch deshalb so stark, weil kaum jemand dagegenhält. Womit sich eine politische Vermisstenanzeige aufdrängt. Hat jemand die Grünen gesehen? Die Partei, die im Wahlprogramm schrieb: „[…] sofortige Zurückweisung an den deutschen Binnengrenzen wollen wir abschaffen.“ Vier Jahre später trägt die Partei Abschiebungen nach Afghanistan, bundesweite Grenzkontrollen, die Streichung der Leistungen für Dublin-Flüchtlinge mit.
Es gibt zwei verschiedene Sichtweisen, beide haben ihre Berechtigung. Die Grünen können behaupten, dass die Maßnahmen dieser Woche keine größeren Änderungen bedeuten: Das EU-Recht wird nicht gebrochen, jeder Asylantrag wird geprüft, es soll nur schneller gehen. Die Grünen haben Schlimmeres verhindert. Genauso stimmt aber: Die Grünen sind eingeknickt. Es wird nur über Verschärfungen in der Asylpolitik diskutiert, kaum hingegen über Islamismus und Integration.
Nicht Überzeugungen für Wählerstimmen handeln
Die Partei ist in einem Bereich, der ihren Wesenskern ausmacht, nicht mehr wahrzunehmen. Für die Grünen ist die Lage ein Dilemma. Sie stehen vor der Wahl in Brandenburg wieder kurz davor, aus einem Parlament zu fliegen. Und sehen sich einer Mehrheit gegenüber, die für eine härtere Asylpolitik ist. In dieser Lage haben sie sich entschieden, Verschärfungen weitgehend klaglos mitzutragen. Aber nicht alles, was eine Entscheidung ist, ist auch eine Strategie.
Falls die Grünen das Ziel verfolgen sollten, bei den Landtagswahlen weniger Stimmen zu verlieren, scheint das nicht aufzugehen. In Thüringen ist man aus dem Landtag geflogen, in Brandenburg könnte es ähnlich kommen. Ein Teil ihrer Wählerinnen dürfte versuchen, die AfD als stärkste Kraft zu verhindern, und SPD wählen.
Aber selbst, wenn: Die Grünen sollten sich für ein paar Tausend Wählerstimmen in einem Bundesland, in dem ähnlich viele Menschen wohnen wie in Hamburg, nicht von Überzeugungen verabschieden. Wenn die FDP die Ampel blockieren kann, sollten die Grünen das auch können. Das wäre wichtiger als die Frage, ob sie in Brandenburg auf 5,1 oder 4,9 Prozent kommen. Dass die Grünen standhaft sein können, haben sie bewiesen: In keiner anderen Partei ist die Unterstützung der Ukraine so unerschütterlich.
Die Grünen bleiben klar, auch wenn sie das nicht nur im Osten Stimmen kostet. Wenn die neue Asylpolitik aber keiner erkennbaren Strategie folgt, ist es wohl Überzeugung. Und das ist die bittere Erkenntnis dieser Woche. Die Grünen sind mit ihrem Sinneswandel nicht allein. Eine Umfrage der Zeit ergibt, dass über 80 Prozent eine strengere Migrationspolitik wünschen, sogar knapp mehr als die Hälfte der Grünen-Wähler. Seit 2015 hat sich viel verändert.
Auch Teile der liberalen Mittelschicht, Grünen-Wähler und solche, die es sein könnten, kümmern sich nach Pandemie, Energiekrise und Inflation im Zweifel lieber um sich selbst als um Menschen in Not. Es wäre zu einfach, die Grünen dafür zu kritisieren, in der Defensive zu sein. Die gesellschaftliche Linke ist es auch. Trotzdem sollten sich die Grünen fragen, was mit der anderen Hälfte ihrer Wähler ist, die keine Verschärfung will.
Jener, die unverdrossen in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, die auf die Demos für eine weltoffene Gesellschaft gehen. Sie sind nicht die Mehrheit, aber sie haben aktuell keine politische Vertretung. Die Grünen werden ihnen fremd, die Linke ist mit sich beschäftigt. Die Partei riskiert, sie als Wählerinnen und Mitglieder zu verlieren. Bei den Versuchen einer Erklärung für die Wahlergebnisse von AfD und BSW im Osten heißt es oft, dass sich viele nicht repräsentiert fühlten. Aber wer vertritt eigentlich die Linksgrünen?
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