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Offensive des ukrainischen Militärs„Den Feind destabilisieren“

Ukrainische Streitkräfte greifen die westrussische Grenzregion Kursk an. Dass auch ein Kernkraftwerk umkämpft sein könnte, sorgt Anwohner.

Ein bei den ukrainischen Angriffen zerstörtes Haus in der westrussischen Region Kursk Foto: Gouverneur der Region Kursk via ap

Kyjiw taz | Die ukrainische Armee hat offenbar am Dienstag und Mittwoch mehrere Ortschaften im russischen Gebiet Kursk angegriffen. Das berichten russische sowie ukrainische Medien. Einer der Schwerpunkte des Angriffes ist die Kleinstadt Sudscha, in der sich ein Übergangspunkt der russischen Gaspipeline zur ukrainischen Pipeline befindet. Über die Gasmessstation Sudscha wird das russische Gas nach Mitteleuropa transportiert. Es ist die einzige Pipeline, die Europa mit russischem Gas versorgt.

Alexej Smirnow, Gouverneur des Gebietes Kursk, beklagt auf seinem Telegram-Kanal getötete Zivilisten, ohne jedoch Zahlen zu nennen. Die Angriffe bezeichnet er als „Terror der Zivilbevölkerung durch ukrainische Nazis“. Unterdessen ist eine Gruppe von Ärzten aus St. Petersburg in das Gebiet Kursk gereist, um die Ärzte vor Ort zu unterstützen.

Am späten Abend des 6. August waren in der unweit von Kursk gelegenen Stadt Kurtschatow eine Reihe von Explosionen zu hören. Die Explosionen seien in der Nähe des Kernkraftwerks Kursk zu hören gewesen, was bei Anwohnern und Nutzern sozialer Medien Besorgnis ausgelöst habe, berichtet das ukrainische Portal glavkom.ua unter Berufung auf russische Quellen.

Im AKW Kursk befinden sich Reaktoren vom Typ RBMK, berichtet Ludwig Litwinski, ein ehemaliger Mitarbeiter des Instituts für Nuklearforschung der ukrainischen Akademie der Wissenschaften gegenüber telegraf.com.ua. Dabei handele es sich um Reaktoren, die weniger gut vor einem Raketeneinschlag geschützt seien, so Litwinski.

In dem AKW, das gerade einmal 70 Kilometer von Sudscha entfernt liegt, könne jeder Zwischenfall zu schrecklichen Folgen führen, warnt der Atomexperte. Sicherlich werden, so glaubt Litwinski, die ukrainischen Streitkräfte das AKW nicht angreifen. „Aber die Russen sind zu allem fähig.“ Sie würden ja auch vom AKW Saporischschja auf ukrainische Stellungen und Siedlungen schießen.

Die Ukraine schweigt zu den Vorfällen in der Grenzregion

„Die Verlagerung des Krieges auf das Territorium der Russischen Föderation ist eine strategische Aufgabe für die Ukraine“, kommentiert der Polittechnologe Taras Sagorodni gegenüber dem Nachrichtenportal nv.ua. „Wir müssen den Feind und vor allem sein Energiesystem so weit wie möglich destabilisieren.“

Und da passe es gut, dass sich ausgerechnet in Sudscha der einzige Zulauf für russisches Gas in die Ukrai­ne befinde. Nun gelte es, die russische Energieinfrastruktur zu zerstören. Je mehr man Russland destabilisieren könne, umso besser für die Ukraine, so Sagorodni.

Alexej Smirnow, Gouverneur des Gebietes Kursk, bezeichnet die Angriffe als Terror der Zivilbevölkerung durch ukrainische Nazis

Eine weitere Destabilisierung des Energiesektors, da ist sich Sagorodni sicher, werde auch die russische Wirtschaft und die Industrie destabilisieren. Und dies insbesondere in den Regionen Krasnodar und Rostow, die militärisch und industriell für Russland sehr wichtig seien. Unterdessen beklagt auch der Gouverneur des russischen Grenzgebietes Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, auf seinem offiziellen Telegram-Kanal einen Toten und vier Verletzte in den letzten beiden Tagen durch ukrainische Drohnenangriffe.

Während die Ukraine offiziell zu den Vorgängen in den russischen Grenzregionen schweigt, hat sich Wladimir Putin vor der Sitzung der russischen Regierung hierzu geäußert. Er bezeichnete die Vorgänge als „eine weitere groß angelegte Provokation“ und beschuldigte die Ukrai­ne des „wahllosen Beschusses“ von zivilen Objekten.

Russlands Beschuss ukrainischer ziviler Ziele in den letzten Tagen bleibt indes unerwähnt. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabes waren allein in den letzten 24 Stunden 97 Gleitbomben, zwei Raketenangriffe und 73 Luftangriffe auf zivile und militärische Ziele in der Ukraine gefahren worden. Auch in Kyjiw waren in der Nacht zum Dienstag schwere Explosionen zu hören.

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16 Kommentare

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  • Alles andere wäre ein Wettbewerbsnachteil der Ukraine. Sie muss den Gegner endlich auf Distanz halten und Verhandlungschips sammeln, denn erste Sätze von Selenskij lassen sich so interpretieren, dass er es nicht ausschließt.



    Und so wäre es gar nicht stabil. Am stabilsten ist ein russischer Rückzug mindestens auf 2020, am besten gleich auf 2012.

    • @Janix:

      Würde nicht 2014 reichen? Oft habe ich das Gefühl, dass es leider nur bedingt um Fakten in diesem Krieg geht.



      Ein Verhandlungschip würde sich nur bei Eroberung des AKWs ergeben, aber das kann ehrlich gesagt kein wünschenswertes Ziel sein.

      • @Alexander Schulz:

        Meinen Sie zufällig NACH dem 18.03.2014?

        • @Waagschale:

          Wünschenswert wäre 1991.

          • @Alexander Schulz:

            Genau so einfach ist es. Was soll dieses Geeiere, welche Zugeständnisse man Russland zum Dank für seine völkerrechtswidrigen Angriffe machen sollte?

          • @Alexander Schulz:

            Um genau zu sein in den Grenzen von 27.12.91. Letztendlich ist das aber unrealistisch. Zumindestens jedoch sollten neue "temporäre" Grenzen, wenn sie irgendwann beschlossen werden nicht offiziell anerkannt werden.

  • Es bleibt abzuwarten, ob es sich um eine "PR-Aktion" handelt oder ob operative Ziele befolgt werde. Beunruhigungend finde ich Meldungen, die darauf hindeuten dass das Ziel das AKW Kursk sein könnte, was sicherlich ein gutes Faustpfand in späteren Verhandlungen darstellen könnte.

  • Die ukrainische Offensive im Kursker Gebiet offenbart die Schwäche der russischen Militärmaschinerie gnadenlos. Moskau scheint nicht in der Lage zu sein, sein eigenes Hinterland vor solchen Angriffen zu schützen.



    Einen Brückenkopf von 15 Kilometern Tiefe, den die Ukrainer innerhalb von nur zwei Tagen unter Einsatz von Eliteeinheiten, schwerem Gerät und entsprechender Technologie errichten konnten, dürfte nur schwer und unter massivem russischen Truppeneinsatz zu eliminieren sein. Pikanterweise haben sich die Ukrainer dabei auch dem AKW Kursk gefährlich genähert.



    Wenn es Kiew gelingt, diese Gebietseroberung von russischem Kernland zu konsolidieren, möglicherweise auszubauen, zwingt es Russland, Truppen von anderen Frontabschnitten abzuziehen, die dort dringend gebraucht werden - und es hat bei zukünftigen Verhandlungen ein Faustpfand in der Hand: ukrainischer Rückzug aus der Oblast Kursk gegen russischen Verzicht auf Eroberungen bei Charkiw?



    Höher würde ich die Bedeutung der jüngsten ukrainischen Erfolge allerdings nicht hängen.

  • Zitat: 'Alexej Smirnow, Gouverneur des Gebietes Kursk, bezeichnet die Angriffe als „Terror der Zivilbevölkerung durch ukrainische Nazis“'.

    Endlich nennt mal jemand die Dinge beim Namen. Jetzt ist es höchste Eisenbahn, dass auch Sarah Wagenknecht, Tino Chrupalla, Björn Ladig und Landolf Höcke ihre Stimme erheben.

  • Ich denke mal, dass es so ist wie früher:



    - Bachmuth fällt (Schlimme Nachricht).



    - Ukraine greift in Belgorod an (überlagernde Nachricht)



    So ist es schon ein paar Mal geschehen. Schlechte Aussichten an der Front wurden durch spektakuläre aber militärisch fragwürdige Aktionen übertönt.



    Informationskrieg, wie Oberst Reisner immer sagt.

  • Sinn für Ironie haben die Ukrainer ja.



    Ausgerechnet Kursk. So hiess auch das mit Marschflugkörpern bestückte U-Boot, das sich mit voller Besatzung in der Barentssee selbst versenkt hat.



    Ich drücke der Ukraine ganz fest beide Daumen, dass sich die Lage zum besseren wendet und irgendwann in nicht allzuferner Zukunft wieder Frieden herrscht, Rückzug der russischen Truppen eingeschlossen.

    • @Carsten S.:

      Kursk war einer der wichtigen Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Den Truppen Hitlerdeutschlands gelang kein Durchbruch, ihr Momentum war weg bis Torgau.



      Um ein wenig Geschichte nachzuschieben, warum das U-Boot wohl so heißen mochte.



      Besatzer waren damals die Nazis, heute sind es die Putinisten.

    • @Carsten S.:

      Und wo die überlebenden Crewmitglieder gerettet werden hätten können wäre da nicht Putins Nationalstolz gewesen...

      • @Machiavelli:

        Genau.



        Da sieht man mal wieder, was ein Menschenleben in Russland wert ist.



        Ein paar Tote mehr auf Putins Gewissen. Aber der Verbrecher weiss vermutlich noch nicht einmal, wie man Gewissen schreibt.

  • "Wladimir Putin ...bezeichnete die Vorgänge als „eine weitere groß angelegte Provokation“ und beschuldigte die Ukrai­ne des „wahllosen Beschusses“ von zivilen Objekten."



    Immer wieder faszinierend, wie sehr ein Mensch so vollkommen ohne Schamgefühl oder dergleichen sein kann.

    • @Encantado:

      Wie heißt es so schön?: "Wenn du mit einem Finger auf andere zeigst, zeigen die restlichen Finger auf dich zurück." Man reibt sich verwundert Augen und Ohren.