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Karlsruhe beanstandet WahlrechtsreformSitze, Stimmen und Hürden

Das Bundesverfassungsgericht beanstandet ein wichtiges Detail des neuen Bundestagswahlrechts. Die CSU und ihre Wähler würden womöglich benachteiligt.

Raum für Verbesserungen: der Reichstag in Berlin Foto: Stefan Zeitz/imago

Karlsruhe taz | Das Bundesverfassungsgericht hat das neue Wahlrecht im Kern bestätigt. Allerdings erklärte das Gericht die Streichung der Grundmandateklausel für verfassungswidrig, weil dies die CSU und ihre Wähler unzulässig benachteiligt hätte.

Karlsruhe urteilte über das neue Wahlrecht, das der Bundestag im März 2023 mit den Stimmen der Ampelkoalition beschlossen hat. Die Ampel wollte damit den Bundestag, der aktuell 734 Abgeordnete umfasst, dauerhaft auf 630 Sitze verkleinern. Deshalb wurden Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft, ebenso die Grundmandateklausel. Das Konzept war aber sehr umstritten.

Gerügt hat das Bundesverfassungsgericht nur den Wegfall der Grundmandateklausel. Diese Regelung ermöglichte bisher Parteien den Einzug in den Bundestag, wenn sie zwar an der Fünfprozenthürde scheitern, aber mindestens drei Direktmandate in den Wahlkreisen holen. 2021 profitierte die Linke davon, die bundesweit nur 4,9 Prozent der Stimmen erreichte. Die CSU wäre – bei Geltung der Zweitstimmendeckung – mit 5,2 Prozent fast auch auf die Regelung angewiesen gewesen.

Das Verfassungsgericht entschied, dass die Fünfprozentklausel ohne Grundmandatsklausel verfassungswidrig ist. Grundsätzlich sei die Fünfprozenthürde zwar gerechtfertigt, um die Funktionsfähigkeit des Bundestags zu sichern. Bei der CSU sei die Hürde aber nicht nötig, weil ihr Einzug in den Bundestag nicht zur Zersplitterung des Parlaments beitrage. Traditionell schließe sich die CSU mit der CDU zu einer gemeinsamen Fraktion zusammen. Es bestehe die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“, dass CDU und CSU auch nach der nächsten Bundestagswahl eine Fraktionsgemeinschaft bilden.

Direkt gewählte Wahlkreiskandidaten nicht verpflichtend

Keine Einwände hatte das Verfassungsgericht gegen den Kern des neuen Wahlrechts, wonach die Parteien nur noch so viele Sitze im Bundestag erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dies soll künftig auch dann gelten, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr Sitze zustehen. Bisher bekam sie dann Überhangmandate und die anderen Parteien bekamen Ausgleichsmandate, damit das Wahlergebnis nicht verzerrt wird. So wurde der Bundestag deutlich größer als eigentlich geplant.

Doch künftig gibt es in dieser Konstellation keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Vielmehr gehen die prozentual schwächsten Wahlkreisgewinner leer aus. Wer in seinem Wahlkreis mit 40 Prozent der Stimmen gewinnt, erhält sicher ein Mandat, wer den Erfolg nur mit 22 Prozent erzielt, geht tendenziell leer aus.

Diese sogenannte Zweitstimmen­deckung kann zwar dazu führen, dass es nicht mehr in allen Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete gibt. Dies verstößt aber nicht gegen das Grundgesetz, so die Richter:innen, das dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum gebe. „Der Gesetzgeber kann Änderungen einführen, die ein Umdenken der Wähler erfordern“, sagte Doris König, die Vizepräsidentin des Gerichts.

Der Gesetzgeber kann nun die Fünfprozentklausel neu regeln, muss dies aber nicht. Das Gericht hat keine Frist gesetzt. Bis zu einer Neuregelung gilt wieder die alte Grundmandatsklausel. Das heißt: Wenn eine Partei nur 4,8 oder 2,8 Prozent der Zweitstimmen erhält, aber in drei Wahlkreisen am meisten Erststimmen erhält, kann sie mit allen ihr prozentual zustehenden Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Dies gilt nicht nur für die CSU, sondern auch für die Linke und andere Parteien. Die Richter betonten, dass die alte Grundmandatsklausel als Übergangsregelung besonders geeignet ist, weil sie den Wäh­le­r:in­nen bereits bekannt ist. Sie stärke das Vertrauen, „dass durch die Wahlrechts­reform keine Partei benachteiligt wird“, betonte Richterin Astrid Wallrabenstein, die das Urteil vorbereitet hatte.

Wenn der Bundestag die Rückkehr der alten Grundmandatsklausel verhindern will, ist dies möglich. Der Bundestag müsste die Neuregelung dann aber sehr schnell beschließen, denn die Vorbereitungen auf die Bundestagswahl 2025 haben bereits begonnen. Wahrscheinlich ist das nicht.

Die Neuregelung der Fünfprozentklausel wird wohl eher ein Projekt für die nächste Wahlperiode. Der Bundestag hat dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten. So könnte er zum Beispiel mehr als 3 Grundmandate verlangen, etwa 5 oder 15 Mandate. Alternativ könnte der Bundestag aber auch die 5-Prozent-Hürde auf 4 oder 3 Prozent absenken oder Parteien, die wie CDU und CSU gemeinsam eine große Fraktion bilden, ausnehmen.

Als weitere Option erwähnten die Rich­te­r:in­nen ein Modell, bei dem so viele Parteien Mandate im Bundestag erhalten, bis 95 Prozent der Wäh­le­r:in­nen vertreten sind. Der Gestaltungsspielraum des Bundestags ist offensichtlich sehr groß.

Das Urteil war am Bundesverfassungsgericht nicht sehr umstritten. Die Klagen der CDU/CSU gegen die Zweitstimmen­deckung wurden einstimmig ­abgelehnt. Die Beanstandung der weggefallenen Grundmandatsklausel erfolgte mit 7:1 Richterstimmen. Erfolg hatten hier CDU/CSU, Bayern, die CSU und Links-Wählerinnen. Die Klagen von Links-Partei und Links-Fraktion waren unzulässig.

Das Urteil war schon am späten Montagabend bekannt geworden, weil es mit einem speziellen Link auf dem Server des Gerichts abrufbar war. „Das ­Gericht prüft, wie es dazu kommen konnte“, sagte Vize­präsidentin König bei der Urteilsverkündung­.

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17 Kommentare

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  • Es ist nicht unterkomplex, was von der Ampel als Änderung des Wahlrechts unterbreitet wurde, aber diskussionswürdig:



    Aus 2023 in der Gegenüberstellung der Argumentation:



    "Ein Pro und Contra: Grundmandatsklausel streichen?



    Ist die Entscheidung der Koalition, die Grundmandatsklausel aus dem Wahlgesetz zu kippen ein konsequenter Schritt oder führt sie zu vergiftetem demokratischen Klima?"



    www.das-parlament....sklausel-streichen

  • Im Grunde wurde also die Änderung komplett bestätigt. Einzige Ausnahme: Die CSU darf nicht wegen der 5%-Hürde aus dem Bundestag fliegen, weil sie dort ja eine gemeinsame Fraktion mit der CDU bildet.



    Die vernünftige Regelung wäre dann doch, formal verschiedene Parteien immer dann gemeinsam bei der Bundestagswahl zu berücksichtigen, wenn sie anschließend eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. Es wäre schön, wenn das eindeutig geregelt wäre, damit nicht beliebige Regionalparteien ins Kraut schießen, sondern es bei der CSU bleibt.

    • @Zangler:

      Die andere Partei dürfte dann aber in dem Bundesland nicht antreten und das würde keine andere Partei machen.



      Das war ja die erklärte Besonderheit bei der CSU, weshalb bei ihr die 5% Hürde nicht gilt. Die CSU ersetzt die CDU in Bayern.

  • Ein salomonisches Urteil!



    Der Bundestag schrumpft sich gesund, die Steuergeldbelastung für diese Verwaltung sinkt zukünftig und kleine Parteien haben auch zukünftig die Möglichkeit, in den Bundestag einzuziehen.



    Ich sehe das nicht als Gewinnen oder Verlieren, sondern einen funktionierenden Rechtsstaat, der zusammen Lösungen findet.



    Wer sich für Gewinnerinnen und Verlierer interessiert, kann ja Olympia gucken...

  • Auch von mir vielen Dank. Der erste sachliche Artikel zu diesem Thema, den ich heute gelesen habe. Sonst war überall nur unsachliche Ampelprügel.

  • Lieber Christian Rath, das war der profundeste Artikel, den ich bislang zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts gelesen habe. Danke!

    Eine konkrete Frage, wird der überwiegende Rest des Gesetzes, der ja zu einer Verschlankung des Bundestages führen würde, mit Beibehaltung der bestehenden Grundmandatsklausel, für die kommende Bundestagswahl Anwendung finden?

    Das habe ich nicht eindeutig aus dem Artikel herauslesen können.

  • "Diese sogenannte Zweitstimmen­deckung kann zwar dazu führen, dass es nicht mehr in allen Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete gibt. Dies verstößt aber nicht gegen das Grundgesetz, so die Richter..."

    Ob es sinnvoll ist, darueber redet kaum jemand. In einer Zeit wo Politikern oft Weltfremdheit vorgeworfen wird und Saetze wie "die da in Berlin" immer haeufiger zu vernehmen sind, ist die Schwaechung des Direktmandats keine gute Idee. Eine bessere Variante waere die Anpassung der Wahlkreise gewesen. Ein Wahlkreis ohne Vertretung im Bundestag ist gegenueber anderen Wahlkreisen benachteiligt, gerade in der realen Demokratie mit Proporz und Lobbyismus, aber auch was die Bindung der Einwohner zur Demokratie betrifft.

    „Der Gesetzgeber kann Änderungen einführen, die ein Umdenken der Wähler erfordern...“



    Ich interpretiere das jetzt mal so, dass die Waehler bei der Wahl umdenken und Parteien waehlen sollen, die sich fuer die Direkte Demokratie stark machen, also eine Wahlempfehlung fuer die Opposition.



    Schade, dass quasi jede Wahlrechtsaenderungen zumindest teilweise gegen das Grundgesetz verstiess. Auch diese hat den Anschein, es geht mehr um die Benachtteiligung des politischen Gegners.

    • @elektrozwerg:

      @Elektrozwerg, was meinen Sie denn, wie viel Prozent der Leute, die bei einer Bundestagswahl gewählt haben, nach einem Jahr noch den Namen des von ihnen gewählten Erststimmenkandidaten nennen könnten? Ich jedenfalls könnte das nicht - und das obwohl ich mein Wahlrecht seit der Volljährigkeit in jedem einzelnen Fall ausgeübt habe und wenig wichtiger finde als Wahlen. Aber der Wahlkreiskandidat ist schlicht e g a l. In unserem (prinzipiell gut funktionierenden System) spielt die Musik in der Fraktions- und Parteiführung. Die 50 Leute auf den hinteren Bänken heben die Hand, wenn es die entsprechenden Fachexperten in der Fraktion empfehlen. Und das ist gut so. Wer genau aber da die Hand hebt, ist mir wurst.

      • @Graustufen:

        Ja weiss ich. Aus der Kommunikation folgte sogar mal eine Enthaltung.



        In Deutschland gehoert es zur demokratischen Freiheit, nicht Waehlen zu gehen oder keinen Kontakt zum Wahlkreisvertreter aufzunehmen. Daraus im Umkehrschluss zu argumentieren, man koennte drauf verzichten, ist wie auf Datenschutz zu verzichten weil viele ihre Daten im Social Network an der Tuer abgeben.



        Ob die Hinterbaenkler in der Realitaet eh nichts zu sagen haben ist keine Frage des Wahlrechts, sondern der Fraktionsdisziplin. Und meines Wissens kann Niemand in eine Fraktion gezwungen werden.

    • @elektrozwerg:

      Die Alternative zur Vertretung jedes Wahlkreises durch eine:n Abgeordnete:n wären ja größere Wahlkreis gewesen. Das ist dann aber auch wieder nicht recht. Das dahinter stehende Problem ist doch wohl eher, dass fast alle Wähler:innen meinen, sie und ihre Probleme in ihrer Region seien wichtiger als der Rest und ihre Stimmen müssten daher mehr wert sein als nur so viel wie nun einmal bei gleicher Verteilung herauskommt.



      Wir sind, zusammengefasst, eine Ellbogengesellschaft voller Egoist:innen. Daran ändert aber das Wahlrecht nichts.

      • @Zangler:

        Dann sollte man so konsequent sein, und die Personenwahl abschaffen. Und wieso soll der Wunsch nach politischer Repräsentation egoistisch sein?

        • @YeahYeah:

          Egoistisch ist der Wunsch, die eigene Stimme solle gefälligst mehr wert sein als die der anderen, also der nach ungleicher Repräsentation.



          Ich persönlich wäre für Mehrpersonenwahlkreise, bei denen dann auch gerne zwei Drittel des Bundestages über die Personenstimme gewählt werden und der Rest nur zum Erhalt einer gerechten Verteilung nach Parteienstimmen benötigt wird. Das kann man auch mit Zweit- und Drittwahl, ggf. etc. ergänzen. Wir hätten weniger Einfluss der Parteilisten, aber müssten mit deutlich größeren Wahlkreisen leben.



          Wie gesagt: Das scheint aber auch niemandem recht zu sein im egoistischen Kirchturmdenken.

  • Wie wäre es mit einem Deal, die CSU zahlt die abgezweigten Milliarden an den Bund zurück, dann kommt das Grundmandatsklausel zurück.

    • @Axel Schäfer:

      Tjoa die Grundmandatsklausel ist illegal, die Ampel hat da also gar kein Recht die abzuschaffen. Das Gesetz ist in dem Punkt unwirksam.

      Und welche Milliarden meinen Sie?

      • @Walterismus:

        Das was CSU Minister so in den letzten Jahrzehnten nach Bayern umgeleitet haben und was da an Extrawürsten durch Union- und Koalitionsregierungen abgesegnet wurde.

  • Ach ja, die CSU... alles, was dieser größenwahnsinnige Provinzpartei zurecht stutzt kann dem Bund nur gut tun! Seehofer, Dobrindt, Scheuer - die Liste der CSU-Versager in Berlin ist endlos.

    Und dann noch diese Arroganz vom Söder - der ja meint, in Berlin hätten sie gefälligst Applaus zu zollen und dankbar zu sein, wenn ein Auto mit bayerischem Kennzeichen dort auftaucht, da die Bayern so viel ans Land Berlin zahlen würden. Unerträglich!

    • @Herbert Eisenbeiß:

      Noch in 3/23 stand in der taz



      "Fest steht: Zwei Monate zuvor sind die Fachpolitiker der Ampel noch überzeugt, dass die Grundmandatsklausel unbedingt sein müsse. Als sie ihre Reform in den Bundestag einbringen, erhebt die Union eigene Forderungen. Es könne doch nicht sein, „dass der Wahlvorschlag der CDU/CSU vorsieht, die Linke durch die Anhebung der Grundmandatsklausel einfach so aus dem Parlament zu katapultieren“, sagt damals der zuständige Obmann der SPD, Sebastian Hartmann."



      So ganz klar auf derselben Linie waren offensichtlich nicht alle Ampel-Politikerinnen in der Vorgeschichte.