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Abschied vom 1,5-Grad-ZielEin Bungee-Sprung ohne Garantie

Nick Reimer
Kommentar von Nick Reimer

Das 1,5-Grad-Ziel ist nicht mehr haltbar, sagt UN-Generalsekretär Antonio Guterres. Und die Populisten? Sagen, dass alles nicht so schlimm ist.

Würdet ihr euch in die Tiefe stürzen, wenn die Überlebenschance bei nur 70 Prozent liegt? Foto: imago

M eister Lao, der berühmte Philosoph Lao-Tse, hat es vor 1.500 Jahren so formuliert: „Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg.“ Blöd, wenn ausgerechnet der UN-Generalsekretär erklärt, dass das Klimaziel der Welt nicht mehr zu erreichen ist. Wie schließlich soll man dann den Weg finden?

Für die internationale Klimapolitik war lange Zeit das Ziel, die Erderwärmung unter 2 Grad zu halten. Spätestens seit dem Erdgipfel 1992 in Rio ist klar, dass wir mit unserem Tun die Erde aufheizen. Die Wissenschaft sagt: Werden es mehr als 2 Grad im globalen Durchschnitt, fallen Kippelemente um, die den Klimawandel unbeherrschbar machen für die Menschheit.

Der Grönländische Eisschild ist so ein Kipp­element. Viermal so groß wie die Bundesrepublik, ist er in seiner Spitze höher als 3.000 Meter. Jeder der in den Alpen wandern geht, packt sich einen Pullover ein, weil er weiß, auf dem Berg ist es kühler als unten im Tal. Das ist beim Grönland-Eis ganz genau so: Beginnt der Gletscher zu tauen, sinkt seine Oberfläche nach unten in immer wärmere Schichten. Die Eisschmelze – einmal angefangen – wird sich immer weiter beschleunigen. Schmilzt Grönland ab, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. Emden liegt einen Meter hoch.

Würdet ihr euch in die Tiefe stürzen, wenn die Überlebenschance bei nur 70 Prozent liegt?

Der Golfstrom, der Amazonaswald, die Antarktis oder der Permafrost – gut ein Dutzend solcher Kippelemente gibt es. Und: Die Wissenschaft kann nur zu 70 Prozent garantieren, dass diese „Großrisiken im Erdsystem“ auch wirklich 2 Grad mehr standhalten. Wöllten wir hundertprozentige Sicherheit, müsste die globale Erd­erwärmung auf 1,5 Grad beschränkt werden.

1,5 Grad also, mehr darf es nicht werden. Trotzdem feierten es die Öl- und Industriestaaten als „Revolution“, als 2010 auf der COP 12 in Cancún das 2-Grad-Ziel beschlossen wurde. Immerhin hatten sie sich in den Klimaverhandlungen anfangs auf gar keine Obergrenze festnageln lassen wollen. Sonst hätten sie ja etwas verändern müssen. Gegen die 2-Grad-Grenze rebellierten aber vor allem die kleinen Inselstaaten. Ihr Argument war damals der Bungee-Sprung: Würdet ihr euch in die Tiefe stürzen, wenn die Überlebenschance bei nur 70 Prozent liegt?

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Weil dieses Argument nicht wegzuwischen war, beschlossen die Staaten 2015 auf der 21. Welt-Klimakonferenz ein 1,5-Grad-Ziel. Allerdings war damals schon klar, dass dieses nur noch sehr schwer einzuhalten sein wird – einfach weil schon viel zu viele Treibhausgase in der Atmosphäre sind. Im Paris-Protokoll wurde deshalb als vages Ziel formuliert, dass „Anstrengungen unternommen werden“ für das 1,5-Grad-Ziel.

Kein Veggieday, kein Tempolimit, kein Kohle-Aus

Seitdem sind die Emissionen immer weiter gestiegen. 2023 lag die globale Mitteltemperatur laut der Weltorganisation 1,45 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Und weil es in Staaten wie Deutschland eben noch immer kein Tempolimit, kein Verbot von Kohlekraftwerken, keinen Veggie-Day, noch nicht einmal überall Wärmepumpen gibt, hat der UN-Generalsekretär António Guterres jetzt mal Tacheles gesprochen: Vergesst das 1,5-Grad-Ziel! So wie es derzeit läuft, ist das nicht mehr zu halten.

Ein großer Vorteil des Paris-Protokolls war, dass sich die Restmenge exakt berechnen lässt, die jedes Land noch ausstoßen darf – will es einen fairen Beitrag zur 1,5-Grad-Politik beisteuern. Deutschland hätte demnach im vergangenen Jahr noch 19 Millionen Tonnen produzieren dürfen. Tatsächlich waren es aber 594 Millionen. Wir sind als Nation also schon weit drüber.

Unionschef Friedrich Merz hat zur Klimapolitik gerade erklärt: „Wenn wir in den nächsten zehn Jahren die Weichen richtig stellen, sind wir auf einem guten Weg.“ Es ist nicht bekannt, ob der Möchtegern-Kanzler auf dem Feld der Wirtschaftspolitik ähnlich kompetent ist. Unbekannt ist auch, ob Merz schon mal mit António Guterres telefoniert hat. Keinesfalls aber ist zu empfehlen, Friedrich Merz die Länge Ihres Bungee-Seils ausmessen zu lassen!

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Nick Reimer
Seit 1998 bei der taz (mit Unterbrechungen), zunächst als Korrespondent in Dresden, dann als Wirtschaftsredakteur mit Schwerpunkt Energie, Klima und Landwirtschaft, heute Autor im Zukunftsressort.
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24 Kommentare

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  • Populisten sagen das, was Populus gerne hören will.



    Sonst wären sie ja ehrliche Realisten. Aber damit kann man nichts verkaufen und gewinnt kaum Wählerstimmen.

  • Es sind Dinosaurier wie Merz welche die Lebensperspektive junger Menschen gefährden. Ich kenne die Diskussionen über die Umwelt seit den frühen 80er, damals saurer Regen, Waldsterben und Ozonloch. Dann kam noch Tschernobyl dazu. Politiker in Regierungsverantwortung haben ähnliche Phrasendrescherei betrieben wie heute Merz, Lindner und Konsorten. Das Todschlagargument waren dann Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit.

    Wenn sich noch heute der Lobbyismus der Autoindustrie, der Landwirtschaft und der fossilen Energien durchsetzen kann, habe ich absolut null Verständnis mehr für die etablierten Parteien.

    Es ist einfach eine Schande, alleine wenn man sich die im Artikel genannten Zahlen ansieht.

    Und da sich die ganze Diskussion um den co2 Gehalt dreht, bitte irgendwann, auch in den Medien, den Artenschutz mit berücksichtigen.

    Biodiversität ist eine noch unbekanntere Größe als die oftmals erwähnten Kipppunkte.

  • Das Hauptproblem liegt im immer größeren Ziel vom Wirtschaftswachstum begraben. Geschwindigkeit und Konsum, schneller und mehr Geld zu erzielen. Leider eine Form des Kapitalismus, der uns durch Investitionen viele kleine Fortschritte in der Technologie und einen gewissen Wohlstand erleben lässt, der uns aber das wichtigste unserer Zukunft kostet.

    Wir Menschen haben auf so viel Ebenen versagt, da ist zum einen def Umgang mit Asbest, welches unbedenklich in außereuropäischen Staaten ohne Schutzmaßnahmen in die Umwelt gelangt. Oder PFAS und Mikroplastik welches in die Luft gewirbelt wird wenn die Wellen der Nord- oder Ostsee den Strand erreichen. Endlager, die keine Verifizierung zum Lagern von Atommüll haben.

    Alles um den Gedanken Geld und Macht zu erstreben?



    Man kann nur sagen, cool, dass nicht einmal die Vermögen der Erde es rechtzeitig schaffen werden, einen Exoplaneten zu finden und taugliche Raketen haben werden um diesen zu erreichen.



    Dafür müssten Alle zusammenarbeiten, was ja jetzt schon nicht funktioniert. Ich denke weil das viele wissen und selbst vielleicht schon das 40. Lebensalter überschritten haben, keinen Gedanken an Wohlstandseinschränkung verschwenden. -Schade

  • Aktuell weist nichts, aber wirklich gar nichts darauf hin, dass die Menschheit intelligent genug ist, dem Klimawandel adäquat zu begegnen. Umgesteuert wird genau dann werden, wenn die Unternehmensgewinne von ausreichend vielen großen Konzernen durch die Effekte des Klimawandels ausreichend gemindert sind. Wie die Welt dann aussehen wird, werden unsere Nachkommen erleben.

  • Detail-Fakten sind nicht Merz' Sache, auf keinem Gebiet (siehe "gehobener Mittelstand", siehe "einziges Land mit individuellem Asylanspruch").

    Es gibt nur eine Zukunft, die tatsächlich eintritt. Wie wird die aussehen?



    Die Begrenzung auf 1,5° wird ziemlich sicher nicht stattfinden, und das hat Guterres zum Ausdruck gebracht.

    Ich sehe es auch als unwahrscheinlich an, dass die Begrenzung auf 2° stattfinden wird.

    Denn wie soll das gehen?

    Es gibt drei Kategorien von großen Industriestandorten:



    1: Betreiben mehr oder weniger ernsthaft irgendwie etwas Klimaschutz.



    Das sind Europa (mit UK, Schweiz) und Japan+Südkorea.



    2: Investieren in klimafreundliche Technik, versuchen aber kaum ernsthaft, CO2 zu sparen (USA, China).



    3: Kaum Klimaschutz zu erwarten (Indien, S-Amerika).

    Es dürfte ziemlich klar sein:



    Von den erwähnten 6 Regionen müssten mindestens 5 in Kategorie 1 aufrücken, um _überhaupt_ etwas ändern zu können - allein um die anderen Länder mitzuziehen.

    Doch das sehe ich nicht kommen -



    nicht einmal in Indien, das vom Klimawandel die ärgsten Auswirkungen zu spüren bekommen wird.

    Klimaschutz ist politisch zu Scheitern verurteilt.



    Und das wusste man auch schon vor 40 Jahren.

    • @Frauke Z:

      Nichts ist "verurteilt". Es gibt keine Ausrede anzupacken, was das Richtige ist. Bei FCKW hat es halbwegs funktioniert.



      Trittbrettfahrer-Thematiken sind mit Regeln, Anreizen und Sanktionen grundsätzlich anpackbar.

      • @Janix:

        FCKW war ein begrenztes Problem das sich technisch lösen ließ. Nicht zu vergleichen.

        • @Machiavelli:

          Natürlich zu vergleichen, das haben Sie ja gerade getan. ;-)

          Siehe ansonsten meinen zweiten Absatz. Nein, nicht trivial, aber kein Grund zu bequemem Fatalismus.

  • > Seitdem sind die Emissionen immer weiter gestiegen …



    > Und weil es in Staaten wie Deutschland …

    dabei fehlt der wichtige Punkt, dass die Emissionen in Deutschland und Europa seit Jahren sinken.

    Nicht genug sinken, aber sinken.

    Teilweise, weil unsere Konsum-Emissionen den Asiatischen Produktionsländern zugeschrieben werden, aber nicht vollständig.

    ⇒ ja, wir müssen mehr machen. Um das schaffen und vermitteln zu können, müssen wir auch unsere Erfolge sehen und feiern.

  • Bungee Springen ohne Garantie ist doch besser



    Als ohne Seil

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Sie benötigen kein Seil,



      wenn dieses Seil in der Länge zu lang abgemessen worden ist.



      Sie erfahren in beiden fällen den Effekt,



      der sich ab dem Sprung in eine unumkehrbare Situation manifestiert.

      In ca. 2 von 3 Wahrscheinlichkeiten werden es unsere Nachfahren es aktuell schaffen. Und weil das so lange dauert, wird es keinem bewusst sein, weshalb eine positive Formulierung eher fehl am Platz ist.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Wo ist denn das Seil in Sachen Klimapolitik geblieben?



      Das haben sich die wohlstandsverwahrlosten Konsumjunkies, auf deren Stimmen Politiker nicht verzichten wollen, schon lange selbst durchgeschnitten.

  • Das Schlimmste ist doch: Selbst wenn die Emissionen gegen Null gingen, die Klimakatastrophe hat begonnen und wird noch für viele Dekaden die Menschheit in ihren Möglichkeiten einschränken. Da aber zu wenig passiert, werden die Konsequenzen immer drastischer, und die Optionen schmelzen dahin wie Grönlandeis.

    • @Patricia Winter:

      Nicht nur das, richtig dumme und gierige Menschen, blenden das einfach aus, weil sie eben jetzt leben und in 50 Jahren sowieso nicht mehr sind.



      - Am besten sind die, die ihren Vermögens-wohlstand mit aller Deutlichkeit ausleben müssen.



      Mit social Media und dem Rummel um das präsentieren wie abgefahren man doch auf dieser Welt ist, wird's sicherlich nicht besser.

      Prunk und Kitsch, haben die meisten Menschen eben verdorben.

  • 4G
    48798 (Profil gelöscht)

    Wir sollten uns gerade nicht zu sehr auf Hrn Merz konzentrieren, sondern auf die amtierende Bundesregierung. Die sich ja selbst mal als „Klimakoalition“ bezeichnet hat.

    Die deutsche Umwelthilfe hat gegen diese Regierung gerade erfolgreich Klage geführt, weil diese mit dem ihrem Vorgehen im Verkehrs- und Bausektor gegen die gesetzlich verankerten Ziele des Klimaschutzes verstößt.

    Der Klimaschutzminister Habeck dieser „Klimakoalition“ hat dagegen Revision eingelegt.



    Und unterstützt damit die skandalöse Politik der FDP, Union und SPD.



    Und zeigt erneut, das von auch den Grünen hier keine Besserung zu erwarten ist.

    • @48798 (Profil gelöscht):

      Die Frage die man stellen muss ist Warum?



      Habeck macht zumindest mal den Anschein klare und "ehrliche" Argumente zu finden warum das politische jonglieren nicht sofort umgesetzt werden kann oder warum es doch umgesetzt werden muss, wie beim Atomausstieg. Wenn er könnte wie er wollte, würden wir als Staat viel Geld in die Hand nehmen um viel zu bewegen, was notwendig ist. Leider bringt in einer Wirtschaft aus lauter kleinen Verzahnungen, ein Zahnrad das andere, damit Bewegung in die Sache kommt und Keiner oder keine Branche ober Lobby unter die Räder gerät. - Die Medienmacht der Lobbys dürfen Sie nicht unterschätzen wenn man in der Politik bleiben möchte. Zu schnell gibt es Populisten, die der Wählerschaft das blaue vom Himmel erzählen wollen, nur im Äther der Macht zu sitzen und nicht dem Wohl, aber wohl dem Prunk und Kitsch hinterher jagen.



      - Menschen halt.

  • Es gibt immer wieder Argumente und sie Vortragende, die getrost eingeordnet erden können als Querschießen(r).



    Gelegentlich ist das Wort Rohrkrepierer zutreffend.



    Ein Beispiel:



    Michael Mann hatte sorgfältig beschrieben, wie die Zusammenhänge sind.



    Darüber berichtet die fr



    www.fr.de/wissen/w...rden-11517414.html



    Falsch interpretiert werden die Umstände aber dennoch immer wieder von Laien, auch in der Politik.



    Unter der Eisdecke in Grönland passieren viele Dinge, die ebenfalls höchst interessant sind:



    www.scinexx.de/new...er%20abflie%C3%9Ft.

    Falsch zitiert wurde

  • Am Sonntag lässt sich den Leugnern etwas entgegenhalten, der Stimmzettel.



    Mehrere Parteien setzen auf eine nachhaltige Zukunft, andere nicht. Wir haben die Entscheidung.

    • @Janix:

      Ich wäre überrascht, wenn es doch einige Viele gebe, die sich für einen Verzicht im eigenen Kreis aussprechen, was auch bitter nötig ist, als den Wohlstand zu feiern den man für einen kurzen Augenblick erhalten könnte, der aber dann so oder so, in weite Ferne rücken wird.

      Ich werde mein Teil zum Verzicht beitragen, damit wir eine Chance bekommen. - den Versuch, uns zu retten.

  • Seit wann gibt es bei Bungee-Sprüngen irgendwelche Garantien?

    • @DiMa:

      Ach, manchmal gibt es ja da auch positive Überraschungen nachgerufen: "Ich habe Ihnen, weil Sie so nett waren, noch ein wenig Extraseil dazugegeben"