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Todesschüsse in DortmundEin verstörender Prozess

Im August 2022 erschoss die Polizei den Geflüchteten Mouhamed Dramé. Vor Gericht offenbart sich in den ersten Prozesstagen das Versagen des Staates.

Die Brüder Mouhamed Dramés, Sidy und Lassana, beobachten den Prozess in Dortmund Foto: Federico Gambarini picture/alliance

Dortmund taz | Im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts spricht Polizeikommissar Fabian S. ruhig, aber bestimmt. Am 8. August 2022 hat der damals 28-jährige Beamte 6 Schüsse aus einer Maschinenpistole auf den aus dem Senegal stammenden Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé abgefeuert. Er traf den Suizidgefährdeten im Gesicht, am Hals, in Schulter, Arm und Bauch. Dramé starb kurz darauf im Krankenhaus. Und Fabian S. muss sich seit dem 9. Dezember 2023 wegen Totschlags verantworten.

Getroffen wirkt am Mittwoch auch der vom Dienst suspendierte Polizist. Vom Tod des 16-jährigen Jugendlichen habe er erst nach Ende des Einsatzes erfahren – auf der Polizeiwache in der migrantisch geprägten Dortmunder Nordstadt. „Das ist so, als ob das Herz stehen bleibt“, sagt Fabian S. an diesem 13. Prozesstag in seiner ersten Aussage vor Gericht. „Ich habe mich jeden Tag gefragt, was ich hätte anders machen können. Ich habe sein Gesicht jeden Tag vor Augen“, sagt der Kommissar.

Eine Verurteilung wäre das Ende seiner Polizeikarriere. Schon zu Prozessbeginn hat der Todesschütze seinen Anwalt Christoph Krekeler deshalb erklären lassen, er habe sich von dem 16-Jährigen bedroht gefühlt. „In dieser Situation“, betonte Krekeler, „kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe von Mouhamed Dramé überhaupt nicht an.“

Nicht nur Ak­ti­vis­t:in­nen werfen der Polizei dagegen „strukturellen Rassismus“ vor. Nichts anderes habe Mouhamed Dramé das Leben gekostet, glauben sie. Denn der Polizeieinsatz, den Zeu­g:in­nen und Beschuldigte vor Gericht immer wieder schildern und der den Teenager das Leben kostete, wirkt bei jeder Beschreibung erneut verstörend.

Schließlich war ein Hilferuf Auslöser für die tödlichen Schüsse: Am 8. August 2022, einem Montag, hockt der Geflüchtete im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung. Der 16-Jährige hält ein Messer gegen seinen Bauch. Be­treue­r:in­nen sprechen ihn an – doch Dramé reagiert nicht, lässt das Küchenmesser nicht los. Um 16.25 Uhr bittet der Chef der Jugendhilfeeinrichtung deshalb die Polizei per Telefon um Hilfe. Um 16.44 Uhr, nur 22 Minuten nach dem Notruf, schießt Fabian S. Neben ihm sind vier weitere Po­li­zis­t:in­nen angeklagt – drei wegen gefährlicher Körperverletzung, der Einsatzleiter Thorsten H. wegen Anstiftung dazu.

Reizgas ohne Alternative?

Verstörend wirkte auch, wie Thorsten H. den von ihm geleiteten, katastrophal gescheiterten Einsatz am 11. Prozesstag im April beschrieb. Plan sei gewesen, Dramé durch massiven Pfeffersprayeinsatz dazu zu bringen, sich die Augen zu reiben und dafür das Messer fallen zu lassen, erklärte der Dienstgruppenleiter. Zur Eigensicherung seien außerdem zwei „Distanzelektroimpulsgeräte“, also Elektroschocker, sowie die Maschinenpistole in Stellung gebracht worden.

Alternativlos sei der von ihm angeordnete Pfeffersprayeinsatz gewesen, glaubt Einsatzleiter H. noch heute. Schließlich habe er unter massivem Zeit- und damit Handlungsdruck gestanden: „Soll ich warten, bis sich Herr Dramé ein Messer in den Bauch rammt? Und 11 Polizisten stehen drumrum und tun nichts“, fragte er vor Gericht. „Das kann nicht Sinn der Sache sein.“

Doch der Plan scheiterte. Kurz nach dem Reizgaseinsatz richtete sich Mouhamed Dramé auf und bewegte sich in Richtung der Po­li­zis­t:in­nen – der Geflüchtete saß ja in eine Art Sackgasse fest: Vor ihm war ein hoher Metallzaun, hinter und links neben ihm waren Gebäudemauern. Die Be­am­t:in­nen werteten die Bewegung als Angriff. Ohne Vorwarnung setzten sie zunächst die beiden Elektroschocker ein. Nur 0,7 Sekunden später zog Fabian S. dann auch den Abzug der Maschinenpistole.

Begründet haben Zeu­g:in­nen dies immer wieder mit der sogenannten „Sieben-Meter-Regel“: Danach sei es zum Selbstschutz zwingend nötig, auf einen mit einem Messer bewaffneten Angreifer zu schießen, wenn dieser weniger als sieben Meter entfernt sei. „In der Situation ging’s um die Frage: Sticht er zu – oder schießt die Polizei?“, erklärte auch deren oberster Dienstherr, Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister Herbert Reul, kurz nach der Tat.

Doch auch Reul hat „zunehmend Zweifel“ am Vorgehen seiner Beamten, die in jedem Streifenwagen gleich zwei Maschinenpistolen mitführen. Denn auf die Idee, die Lage „statisch“ zu halten und zur Betreuung Mouhamed Dramés psychologische Hilfe hinzuzuziehen, kam der Einsatzleiter nicht.

Jahrelange Odyssee

Dabei war klar, dass Dramé psychische Probleme hatte. In einer jahrelangen Odyssee war der Teenager über Mali, Mauretanien, Marokko und Spanien nach Deutschland gekommen. Nach seinen Angaben ertrank sein Stiefbruder im Mittelmeer. In der Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung, wo Dramé seit wenigen Tagen lebte, konnte er sich kaum verständlich machen – der 16-Jährige sprach nur Französisch und die senegalesische Landessprache Wolof.

Zwei Tage vor seinem Tod hatte er seine Sachen gepackt und war abgehauen. Die Polizei griff ihn auf und brachte ihn in die Psychiatrie. Dramé gehörte damit zu den etwa eine Million Geflüchteten, die unter psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Doch wie der Großteil von ihnen erhielt er keine adäquate Hilfe – die Klinik sah „keine akute suizidale Gefährdung“.

Zwei Tage später starb Mohamed Dramé. „Ich möchte nicht wissen, wie man sich fühlt, wenn man einen Angehörigen auf solche Art verliert“, erklärte der Polizei-Schütze Fabian S. am Mittwoch in einem persönlichen Wort an zwei Brüder Dramés, die den Dortmunder Prozess mithilfe von Spendengeldern beobachten können. „Ich erwarte nicht, dass man mir glaubt – aber es tut mir sehr leid.“

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27 Kommentare

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  • Mich wundert ein wenig, dass der Einsatzleiter „nur“ als Anstifter eingestuft wird. Für mich steht dieser als befehlender in erster Verantwortung.

    • @Gorch:

      Der Einsatzleiter war rechtlich gesehen Anstifter. Der Anstifter wird genauso bestraft wie der Täter selbst.

  • Was soll das ganze Gerede? Die Lösung ist einfach: Bei jeglichem Verdach auf eine psychische Auffälligkeit oder gar Erkrankung des Delinquenten ist vorrangig der zuständige psychosoziale Dienst oder der Polizeiarzt beizuziehen.



    Die "sieben-Meter-Regel" ist keinesfalls anzuwenden, wenn sich zwischen dem Delinquenten und den sich bedroht fühlenden Beamtenein Zaun oder eine Mauer befindet

    • @wrd:

      👍👍 Zudem muss der Mitarbeiter der Jugendeinrichtung unbedingt an einer Nachschulung / Fortbildung für Krisenintervention teilnehmen.

    • @wrd:

      Es befand sich kein Zaun zwischen dem Schützen, weiteren Polizisten und Mouhamed Dramé.

  • Ein Kind erschiessen? Ein durchgedrehtes Kind mit MP bedrohen? Ich finde, dass geht null klar in unserem Land…

  • Tragisch.

    Gut einerseits, dass es einen Versuch gibt, das vor Gericht aufzuarbeiten.

    Was mich dabei wütend macht (ausser des schrecklichen Vorgangs selbst) ist, dass der Schütze für das Versagen seiner Behörde und seiner Vorgesetzten verheizt wird.

    Ihm nehme ich am meisten ab, dass er die Tat bereut.

  • Schlimm, dass dieser psychisch nicht ausgeglichene Mensch so leiden musste. Allerdings geht Selbstschutz immer vor, das ist richtig. Ich möchte als Polizist auch nicht verletzt werden.

  • ...wieso ruft der Mitarbeiter einer Jugendeinrichtung , bei offensichtlicher Erkrankung eines Jugendlichen, nicht einen Arzt oder Psychologen - sondern die Polizei ???

    • @Alex_der_Wunderer:

      Weil sich die Mitarbeiter Mouhamed, der ein 20cm langes Küchenmesser in der Hand hielt. wohl nicht nähern wollten.

    • @Alex_der_Wunderer:

      Das mit dem Messer haben sie gelesen, oder? Ich bezweifle, dass sich viele Ärzte oder Psychologen so einem Risiko aussetzen wollen.

      • @gyakusou:

        Warum? Ein Psychologe mit der Fähigkeit der französischen Sprache hätte es sicher geschafft diese Situation zu entschärfen. Ein wesentliches Problem an diesem Fall liegt sicherlich darin, dass das Opfer über unzureichende Sprachkenntnisse verfügte und die Polizei vermutlich nicht auf französisch kommunizierte. Statt eine zweite MP im Gepäck zu haben, sollte die Polizei über bessere Sprachkenntnisse verfügen. Schließlich sind wir ein bunter Haufen in unserer Gesellschaft.

        • @Sonnenhaus:

          👍👍

      • @gyakusou:

        Wenn ein Feuer ausbricht, empfiehlt es sich auch die Feuerwehr zu rufen und nicht die Polizei. Ein Anruf in einem Krankenhaus der Stadt, wäre wohl in dieser Situation angebrachter gewesen.

        • @Alex_der_Wunderer:

          Sorry, aber da haben sie falsche Vorstellungen. Kein Rettungsdienst wird sich einer mit einem Messer hantierenden Person nähern.

          Das steht ganz sicher nicht in deren Jobbeschreibung.

  • Dass der angeklagte Polizist vor Gericht zu seiner Verteidigung eine Räuberpistole nach der anderen aus der Tasche zieht, ist sein gutes Recht.

    Wenn Polizeibeamte, die als Zeugen auftreten, es ihm gleichtun zeigt es das große Problem der Polizeikultur.

    Die zeitlichen Abläufe, insbesondere die wahnsinnig schnelle Schussabgabe durch die MP passen überhaupt nicht zu einer wahrgenommenen Bedrohungssituation.

    Hier wurde eher auf eine Gelegenheit gewartet, schnell abdrücken zu können.



    Ich glaube dem Angeklagten kein Wort.

    • @TeeTS:

      Keine Ahnung, welchen Artikel Sie gelesen haben. Ich habe weder eine Räuberpistole vom Schützen mitbekommen, noch von Zeugen.



      Ob man dem Polizisten glaubt, hängt von der eigenen Wahrnehmung ab. Ich wäre grundsätzlich vorsichtig mit einer Bewertung, wenn ich nicht dabei war und mich auf das verlassen muss, was andere aufschreiben.

  • "Um 16.25 Uhr bittet der Chef der Jugendhilfeeinrichtung deshalb die Polizei per Telefon um Hilfe."



    "... deshalb ... " !?

    Wie kamen denn ein oder mehrere Mitarbeiter einer einer Einrichtung der Jugendhilfe auf diesen "Lösungsansatz"? Bei einem medizinischen (hier psychiatrischen) Notfall richten sie ihren ersten und sogar einzigen Hilfruf an die Polizei.



    Wie das? Hätten sie dies auch bei einem epileptischen Anfall getan?



    Also, weshalb wurde hier denn die Polizei gerufen?

    Sind diese Fragen jemals an diese Einrichtung adressiert worden z. B. von Jugendhilfe selbst oder vielleicht Journalisten. Und was kam dabei heraus?

    Auch in diese Jugendhilfeeinrichtung sollte eine 'Root Cause Anlysis (RCA)" zum Vorfall (der leicht vermeidbare Tod eines Migranten) stattfinden, falls das bisher nicht geschehen ist.

    Diese RCA kann weder eine Entschuldigung noch eine Rechtfertigung für das offensichtliche Versagen der Polizei liefern.



    Aber nur sie kann die Grundlage für eine systemische Behebung der Fehler in der Einrichtung liefern. Nur so kann dort (und vielleicht auch anderswo) ihr Wiederauftreten verhindert oder zumindest unwahrscheinlicher gemacht werden.

    Das (oder allgemeiner ein) Strafverfahren wird dies nicht leisten (können), völlig unabhängig von seinem Ausgang (Urteil). Das Personalisieren der Verwortung im Form von Schuld im Strafverfahren führt nicht zu einer Verringerung von Fehlern.



    Am Ende macht es den eigentlichen verantwortlichen Systemen bzw. Einrichtungen (hier Jugendhilfe und Polizei) sogar leichter, ihren Teil der Veranwortung zu negieren:



    "Es war nur ein (bedauerlicher) Einzelfall von persönlichem Versagen."

    • @DHM:

      Wen soll man sonst rufen, wenn eine Person mit einem Messer hantiert, nicht auf Zureden reagiert und eine Gefahr für sich (und vielleicht andere) darstellt?

      • @gyakusou:

        Den Rettungsdienst.



        Der wird die Polizei allerdings auch hinzuziehen. Zur Sicherung.



        DHM hat vollkommen Recht damit, dass der Ruf nach der Polizei als einziger Notruf vollkommen unzureichend ist.



        Was es gebraucht hätte, wäre der Rettungsdienst, psychologische Hilfe und ein Dolmetscher.



        Die Polizei hätte da im Idealfall nur am Rand ne Rolle gespielt.

        • @Piratenpunk:

          Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass sich Mitarbeiter des Rettungsdienstes einer Person nähern werden, die ein Messer in der Hand hat. Das steht ganz sicher nicht in deren Jobbeschreibung, sich in so eine Gefahrensituation zu begeben.

          Das ist Sache der Polizei. Und da kann man sicher darüber reden, was das optimale Einsatzprotokoll für so einen Fall ist, ob es speziell geschulte Polizeipsychologen zum deseskalieren braucht usw.

  • An jemanden, der in staatlichem Auftrag eine Maschinenpistole führt, müssen sicher besonders hohe Anforderungen an Besonnenheit, Beherrschtheit und Karakterstärke gestellt werden.

    Die reine Eignung zum Polizeidienst scheint mir doch für eine so weitgehende Verantwortung deutlich zu wenig zu sein.

    Eine Maschinenpistole dient ja nicht dazu Leben zu bewahren.



    Sie dient dazu sich einer Gruppe von Angreifern zu erwehen.

    • @Bolzkopf:

      In der Maschinenpistole ist be der Polizei die gleiche Munition wie in einer normalen Dienstwaffe. Man kann nur besser zielen.

  • Schon kurz nach der Tat wollte Herbert Reul "ganz unbefangen" den Prozess abwarten um den Hergang zu bewerten. Seither hat er nichts anderes getan als sich systematisch hinter bzw. vor die Polizei zu stellen. Ganz unparteiisch. Den Rest der Story kennen wir: Sich gegenseitig schützende Beamte, verständnisvolle Richter und milde Urteile.

    • @David Kind:

      Sie vorverurteilen die Beamten. Ist dieselbe Masche die auch die Afd benutzt -nur in die andere Richtung.



      Lassen sie die Gerichte ihre Arbeit machen , vorher gilt die Unschuldsvermutung! Das gilt auch für @Nietsch3

    • @David Kind:

      Das erwarte ich von einem Vorgesetzten, dass er sich vor seine Leute stellt bis ein Gericht die Umstände klärt.



      Was sollte er auch sonst machen? Vorverurteilen?

    • @David Kind:

      sehr traurig, aber so wird es vermutlich laufen