piwik no script img

Gemeinsames Europäisches AsylsystemWillkür statt Willkommen

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Menschen in Not, die in Europa Schutz suchen, stehen noch härtere Zeiten bevor. Sogar Minderjährige werden bei ihrer Ankunft erst einmal eingesperrt.

Vor der Küste Libyens am 28. September 2023: 61 Mi­gran­t:in­nen wurden in Internationalen Gewässern gerettet Foto: Darrin Zammit Lupi/reuters

D ie Zeit lief für die Populisten. Was vor Jahren noch kaum denkbar war und was nur Hardliner wie Ungarns Premierminister Viktor Orbán vertraten, ist nun Konsens in Europa, dem selbsternannten „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“: Wer hier ankommt und Aufnahme sucht, ob alt, ob krank, ob jung, ob unbegleitet, wird erst einmal eingesperrt. Darauf verlassen, dass sein Schutzanspruch noch geprüft wird, kann er oder sie sich nicht mehr.

Nach Jahren des Streits einigte sich die EU nun auf ein neues Gemeinsames Asylsystem (Geas). Aus Angst vor der Stärke der rechten Populisten – und unter deren aktiver Beteiligung – schaffte die Union damit grundlegende Rechte für Menschen in oft großer Not ab. Der Umstand, dass man sie hier nicht will, findet dabei seine direkte juristische Entsprechung: Es wird getan, als seien sie gar nicht da.

Die „Fiktion der Nichteinreise“, ein juristischer Trick, soll den Menschen in den Internierungslagern das vorenthalten, worauf sich Europa immer so viel zugutehält: das Recht, das hier gilt, zumindest in Teilen. So entrechtend die neuen Asylvorschriften, die Anfang kommenden Jahres formal beschlossen werden sollen, auch sind – noch schlimmer ist vielleicht das, was sie nicht regeln: Denn so viele Details lässt das Geas offen, so viele Ausnahmetatbestände wurden in die Regeln hineinverhandelt, dass Willkür nur wenige Schranken finden wird.

Die Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, werden umso karger sein. Kaum eine Regierung in der EU mochte am Ende noch beim Grundrechteabbau dagegenhalten. Die Grünen in der Ampelregierung hatten lange so getan, als vermochten sie das Ganze zu einem guten Ende zu bringen, hatten von Ausnahmen für Minderjährige, einem verbindlichen Verteilmechanismus gesprochen. Doch am Ende riss der Rat alle menschenrechtlichen roten Linien ein.

Grüne Grundsätze verworfen

Umso irritierender ist, wie die grüne Außenministerin Annalena Baerbock nun das Paket lobt, das schlichtweg nichts von dem enthält, wofür ihre Partei angetreten ist. Die neuen Gesetze richten sich indes nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen jene, die ihnen helfen. NGOs können als „nichtstaatliche feindliche Akteure“ eingestuft werden, die die EU „destabilisieren“. Welche Möglichkeiten der Repression das eröffnet, ist leicht vorstellbar.

Ist das also der letzte Stein in der „Festung Europa“? Kaum. Nicht einmal der Tod auf dem Mittelmeer hatte Menschen in der Vergangenheit abgeschreckt. Das Geas wird Menschen auf ihrem Weg entrechten, fernhalten wird es viele nicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Niemand auf der Welt nimmt die EU doch noch ernst, wenn sie von Menschenrechten und Humanität schwadroniert.



    Dieses Gesetz ist ein Geschenk an alle Despoten weltweit. Denn jedesmal, wenn die EU in Zukunft auf Menschenrechtsverstöße hinweisen wird, kommt der Finger sofort zurück.



    Das selbe gilt für die Ampelparteien, vor allem SPD und Grüne, die sich ja angeblich etwas anderes auf die Fahne schreiben.



    Diese Parteien und alle, die unter diesen Umständen noch Mitglieder bleiben, sind moralisch verkommen, und sollten niemals mehr die Worte "Moral", "Menschenrechte", "Humanität" in den Mund nehmen.

  • Ich denke, dass folgende Begriffe hier auch angebracht sind, neutral kann man sich dazu sicher nicht verhalten: ZEITENWENDE MIT PARADIGMENWECHSEL.



    /



    Man muss, man darf nicht alles dulden oder gar mitmachen. Eine Frau als Galionsfigur und Leuchtturm zugleich:



    "Kapitänin Carola Rackete



    Mit klarem Kompass



    Sie rettete Menschen aus Seenot und nahm dafür das Gefängnis in Kauf. Jetzt ist Carola Rackete wieder auf freiem Fuß. Wer ist diese Frau?"



    taz.de/Kapitaenin-...-Rackete/!5603951/



    /



    Die Saat geht nicht nur auf, wir sehen erste "Früchte"



    Aus dem taz-Archiv zur Saat:



    taz.de/Rechtspopul...anderung/!5221941/

  • Das wird sowas von auf uns zurückfallen.



    Das ist genau das Gegenteil von dem, was immer groß "Fluchtursachen bekämpfen" genannt wird.



    Wie soll Europa in anderen Ländern für Menschenrechte eintreten, wenn wir diese selbst mit den Füßen treten? Ergo: In anderen Ländern wird es noch schlimmer, daraus folgt: Noch mehr Menschen wollen hierher. Und wissen noch weniger, wie sie es legal schaffen könnten.



    Derweil gehen hier die Boomer in Rente und unsere Gesellschaft implodiert.



    Danke, ihr Blaunen *geigen.

  • Um es mit den Worten von Victoria Nuland zu sagen: Fuck the EU!

  • Interessant dazu das heutige Interview mit Gerald Knaus, Migrationsforscher, im ZDF.



    Es wird sich nichts ändern, sagt er. In inoffiziellen Statements würden das auch alle Innenminister/innen zugeben.

    Das deutet auf eine braune Zukunft hin. Dss ist sehr erschreckend!

  • Die EU gibt es seit gestern nicht mehr. Jedenfalls nicht als meschenrechts - orientierte Wertegemeinschaft. Dem Großteil des rechtsdegrillten Durchschnitts Bommer/ Wutbürgers dürfte das egal sein. Dumm nur, dass die Chose früher oder später auch sie trifft. Ob in Form von gekürzten Renten oder noch beschisseneren Arbeitsbedingungen wird sich zeigen.

    • @David Kind:

      War die EU denn jemals WIRKLICH eine Wertegemeinschaft? Ging es net eher immer um Wirtschaft?

    • @David Kind:

      Die EU wurde als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. In Sachen Asyl- oder Zuwanderungspolitik war sie nie eine Wertegemeinschaft nach deutschem Dünkel. Deutschland war eines der wenigen Länder, die bisher die Bildung einer gemeinsame europäischen Wertegemeinschaft blockierten. Wer Deutschland als Mittelpunkt der Welt betrachtet, mag nun enttäuscht sein. Wie die meisten Einwohner der EU und auch Deutschlands die Zuwanderungsfrage wirklich bewerten, werden wir bei den Europawahlen 2024 genauer erfahren. Die Basis der SPD und die der Grünen haben bereits in den letzten Wochen ihre Haltung zu einer gemeinsamen europäischen Wertegemeinschaft in Bezug auf Zuwanderung veröffentlicht. Wenn sie richtig liegen sollten, werden sie – und ähnlich denkende andere europäische Parteien – bei den Wahlen 2024 erhebliche Zugewinne verbuchen.

    • @David Kind:

      "Dumm nur, dass die Chose früher oder später auch sie trifft. Ob in Form von gekürzten Renten oder noch beschisseneren Arbeitsbedingungen wird sich zeigen."

      -----------------

      Die Renten wurden bereits durch Gerhard um 25% gekürzt und ein Niedriglohnsektor etabliert. Ein noch größerer Niedriglohnsektor durch noch mehr unselektierte zugewanderte Menschen wird also nichts an der Situation ändern.