Debatte um Berliner Sonnenallee: Hausgemachte Probleme

Jahrzehntelang wurden Palästinenser in Berlin gezielt von Arbeit und Teilhabe ausgeschlossen. Linke und arabische Stimmen warnten früh vor den Folgen.

Alte Aufnahme einer Familie in einem Zimmer

7 Menschen auf 25 Quadratmetern: eine geflüchtete palästinensische Familie in den achtziger Jahren Foto: Ralph Rieth

Reden wir nicht um den heißen Brei. Immer wenn wir über #Palästinenser, #Neukölln, #Sonnenallee, #Silvesternacht, #Integrationsverweigerer und #Baklava diskutieren, dann sprechen wir auch über Langzeitfolgen eines grandiosen Versagens der Westberliner Politik.

Bis zu 45.000 Menschen mit palästinensisch-libanesischem Hintergrund leben in Berlin. Niemand weiß so genau, wie viele es tatsächlich sind. Die überwiegende Mehrheit der Familien kam im Zuge des libanesischen Bürgerkriegs und der Konflikte im Nahen Osten zwischen 1975 und 1990 nach Berlin. Viele westeuropäische Länder verweigerten den Bürgerkriegsflüchtlingen damals noch die Einreise, da sie in der Regel keine politisch Verfolgten waren. Westberlin wurde für sie zum Nadelöhr.

Und so verlief die Einreise: Die Asylsuchenden stiegen in Beirut in eine Maschine von Interflug, der staatlichen Fluggesellschaft der DDR, und landeten vier Stunden später sicher und wohlbehalten auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Da nur PLO-Funktionäre in der DDR Asyl erhielten, wurde das einfache Volk mit einem Transferbus für fünf DDR-Mark vom Flughafen zum S-Bahnhof Friedrichstraße gebracht, dem Grenzübergang im Herzen Ostberlins.

Im Tiefgeschoss der Friedrichstraße gab es eine Haltestation der Westberliner U-Bahnlinie 6, mit der man in wenigen Minuten nach Westberlin gelangte. Da Westberlin aus politischen Gründen auf jede Kon­trolle der Einreisenden verzichtete – dies hätte eine faktische Anerkennung der innerdeutschen Grenze bedeutet – konnten die Flüchtlinge ungehindert in Kreuzberg oder dem Wedding aussteigen und einen Asylantrag stellen. Nach dem damals gültigen Asylgesetz waren sie damit vor sofortiger Abschiebung geschützt.

Geflüchtet vor Massakern

Jede Eskalationsstufe des Bürgerkriegs im Libanon, in dessen Verlauf rund 90.000 Menschen getötet und rund 800.000 vertrieben wurden, löste einen Flüchtlingsstrom nach Westberlin aus. Im August 1976 griffen christlich-maronitische Falangisten gemeinsam mit der syrischen Armee das palästinensische Flüchtlingslager Tel al-Zaatar im Norden Beiruts an und zerstörten es. Bis zu 3.000 Palästinenser, darunter viele Zivilisten, wurden getötet. Viele der Überlebenden sind nach Berlin geflüchtet. Das Massaker in Tel al-Zaatar war eine Rache für das Massaker im christlichen Dorf Damur am 20. Januar 1976, bei dem palästinensische und muslimische Milizen Hunderte von Christen töteten. Jenes Massaker von Damur war wiederum eine Reaktion auf das an Palästinensern verübte Massaker von Krantina, als am 18. Januar mehr als 1.000 Zivilisten getötet wurden.

1978 marschierte die israelische Armee in den Libanon ein, um im Süden des Landes eine Sicherheitszone einzurichten. Viele der vertriebenen Libanesen und Palästinenser flüchteten nach Berlin. Im September 1982 verübten Falangisten nach dem Abzug der PLO aus dem Libanon erneut ein Massaker in Beirut – diesmal in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Auch bei diesem Massaker wurden zwischen 1.500 und 2.000 Menschen getötet. Erneut flüchteten Menschen nach Westberlin.

„Zumeist die Ärmsten“

Es waren nicht die Privilegierten und Gebildeten, die sich aus dem Libanon nach Westberlin aufmachten. „Es waren zumeist die Ärmsten, die wegen der So­zial­hilfe und der leichten Einreise über die DDR in die Bundesrepublik kamen; Menschen, die weder Verwandte im Ausland hatten, noch reich genug waren, um zu wählen, wohin sie gingen“, schreibt Ralph Ghadban, der 2000 seine Dissertation zu „Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Flüchtlinge“ im Verlag Das Arabische Buch veröffentlichte.

Einmal auf diesem Weg in Westberlin angekommen, erhielten die Geflüchteten keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Anspruch auf Asyl hatten sie in der Regel nicht, da sie keine politisch Verfolgten waren. Aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, die auch in Westberlin bindend war, durften sie aber auch nicht in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben werde. Eine auf wenige Monate begrenzte Duldung reihte sich so an nächste. Auch erhielten sie in der Regel keine Arbeitserlaubnis und wurden in ein System reduzierter Sozialhilfe gepresst. Einer Sozialhilfe, die zum Teil nicht als Bargeld, sondern in Form von Lebensmittelgutscheinen ausgezahlt wurde.

Erzwungenes Nichtstun

Die Menschen reagierten auf das erzwungene Nichtstun und richteten sich in der Schattenökonomie ein. Diese hatte viele Facetten. Zwei Beispiele von vielen: In den achtziger Jahren durchstöberten am Fruchthof Beusselstraße jeden Tag um vier, fünf Uhr in der Früh Dutzende von Geflüchteten das weggeworfene Obst und Gemüse nach Verwertbaren. Sie boten dieses in ihren Kiezen und Nachbarschaften zum Kauf an. Es war eine Möglichkeit, an Bargeld zu kommen.

Eine andere waren Kurierdienste. Mitte der 80er Jahre transportierte Interflug nicht nur Menschen von Beirut nach Westberlin, sondern auch Mangelprodukte wie Sesamsoße, die Gewürzmischung Zatar und unverzollte Zigaretten. Die Waren nahmen den gleichen Weg wie die Menschen. Die Zigaretten wurden von Frauen aus den Flüchtlingswohnheimen auf dem unterirdischen U-Bahnhof Friedrichstraße in Empfang genommen und in Handtaschen und unter den Röcken versteckt in den Westteil der Stadt transportiert. Dort klapperten die Auftraggeber die Wohnheime ab und sammelten die Ware wieder ein.

Marginalisierung

Die Berliner Politik der siebziger und achtziger Jahre setzte gegenüber den Geflüchteten nicht auf Integration, sondern auf Marginalisierung. Anders als die Arbeitsmigranten sollten die Palästinenser nicht Teil der Stadtgesellschaft werden. Sie wurden bewusst wirtschaftlich, sozial und kulturell an den Rand gedrängt. Weder der Schulbesuch der Kinder noch der Spracherwerb wurden gefördert. Manche Kindertagesstätten und Schulen verweigerten gar die Aufnahme palästinensischer Schüler*innen. Das war legal, denn es gab in Berlin für Kinder aus geduldeten Familien keine Schulpflicht. Die Folge: Viele palästinensische Kinder, heute sind es Erwachsene im Alter von vierzig, fünfzig, sechzig Jahren, haben nur sporadisch eine Schule besucht.

Auch als der rot-grüne Senat 1990 die Schulpflicht einführte, änderte sich an der Bildungsmisere nur wenig. Weder wurden die Kitas und Schulen in Nordneukölln dem Bedarf entsprechend ausgestattet, noch wurden die Er­zie­he­r*in­nen und Leh­re­r*in­nen befähigt, Deutsch als Zweitsprache erfolgreich zu vermitteln. Es war auch ein pädagogisches Scheitern. Nach der Wende kam es dann zu einer bizarren Entwicklung. Der „Überhang“ von Leh­re­r*in­nen aus den Schulen Ostberlins wurde nach Nordneukölln an Brennpunktschulen umgesetzt, an denen kaum jemand unterrichten wollte. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie den sozialen und pädagogischen Herausforderungen in dem ihnen völlig fremden Umfeld auch aufgrund ihrer Ausbildung nicht gewachsen. Das Ergebnis: Viele Schü­le­r*in­nen verließen weiterhin die Schule ohne Abschluss. Das war ein bildungspolitisches Scheitern.

Unterstützung für Religiöse

Zurück in die achtziger Jahre. Zur Politik der Ausgrenzung gehörte, dass der CDU-Senat lieber religiös-konservative palästinensische Gruppen unterstützte und nicht die säkularen, die in den achtziger Jahren wohl die Mehrheit der Palästinenser repräsentierten. Das Kalkül: Die Religiösen würden die kulturelle Identität der Geflüchteten und ihrer Kinder stärken und würden so deren Rückkehrbereitschaft fördern. Es gab bereits damals viele Stimmen, die vor den Langzeitfolgen dieser Politik der Marginalisierung und vor dem damit einhergehenden wachsenden Einfluss der Islamisten warnten. Sie kamen von links – aus den Gewerkschaften, der Sozialarbeit, aus der Pädagogik und aus libanesischen und palästinensischen Kreisen.

Als Heinz Buschkowsky, der Neuköllner Bürgermeister, 2004 „MultiKulti ist gescheitert!“ rief und in der Folge „Islamkritiker“ und der gesellschaftliche Mainstream sich dem Thema zuwandten, war es bereits zwei Stunden nach zwölf. Und der Presse blieb im Zuge dieser Neukölln-Debatten nicht mehr viel anderes übrig, als wie Regina Mönch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2007 überrascht festzustellen: „Etwas läuft grundsätzlich schief.“ Am auffälligsten unter den jungen kriminellen Tätern Berlins seien die arabisch-libanesischen Jugendlichen: „Mit oder ohne deutschen Pass stellen sie inzwischen 44 Prozent der so genannten Intensivtäter.“ Rund 90 Prozent der einstigen arabischen Flüchtlinge arbeiteten zu dieser Zeit gar nicht oder in der Schattenwirtschaft. Rund 60 Prozent der Kinder verließen die Schule ohne Abschluss.

Für viele zu spät

Häufig werden der Islam und vorgebliche Besonderheiten der arabischen Mentalität für dieses sozial- und bildungspolitische Desaster verantwortlich gemacht. Diese Argumentation wird der Geschichte nicht gerecht. Vielmehr gilt: Als die Politik nach Jahrzehnten endlich den Weg zur Integration der Geduldeten ebnete, war es für viele zu spät. Alles, was wir heute unter den Chiffren Parallelgesellschaft, Clankriminalität, Intensivtäter und Islamismus diskutieren, sind Spätfolgen der Politik der Marginalisierung.

Diese Zusammenhänge zu benennen, ist keine Entschuldigung der Sympathiebekundungen für das Morden der Hamas in Neukölln und auch nicht für den grassierenden Antisemitismus. Aber sie sind ein Hinweis, dass die Berliner Palästinenser seit bald 50 Jahren hier leben, inzwischen mehrheitlich Deutsche sind, es sich um keine importierten Probleme handelt, sondern um hausgemachte.

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