Kulturpolitik im Nahost-Konflikt: (K)ein Raum für Diskurs

Der Berliner Senat droht, dem Kulturzentrum Oyoun die Förderung zu streichen, weil es propalästinensischen Gruppen Räume zur Verfügung stellt.

Palästina-Flaggen wehen vor dem Roten rathaus in Berlin-Mitte.

Der Nahostkonflikt überschattet auch die Kulturpolitik von Berlin Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | Louna Sbou ist sichtlich mitgenommen. Sie ist Geschäftsführerin des Oyoun, einem Kulturzentrum in Neukölln an der Hasenheide. Und dem droht wegen des Nahostkonflikts die Finanzierung wegzubrechen. Weil sie marginalisierten jüdischen und palästinensischen Gruppen Räume zur Verfügung stellen, sagt das Oyoun. Weil sie mit Gruppen zusammenarbeiten, die zum Boykott von Israel aufrufen und dessen Existenzrecht infrage stellen, sagt die zuständige Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das sei mit dem Landeskonzept zur Antisemitismusprävention nicht vereinbar.

Konkret geht es um den Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, der am vergangenen Samstag im Oyoun eine „Trauer- und Hoffnungsfeier“ zu seinem 20-jährigen Bestehen abgehalten hat. Eine Sprecherin der Senatskulturverwaltung bestätigt, im Vorfeld die Leitung des Oyoun „eindringlich gebeten“ zu haben, die bereits seit dem Sommer geplante Veranstaltung abzusagen, da diese Gruppe „aktiv die BDS-Bewegung unterstützt“. BDS ist eine internationale Kampagne, die zum Boykott und zur Sanktionierung Israels aufruft.

„Wir sehen das als Eingriff in unsere Arbeit und in die Kunstfreiheit“, sagt Oyoun-Geschäftsführerin Louna Sbou der taz. Bereits im Juni 2021 hätten sie auf Drängen der Senatskulturverwaltung eine Veranstaltung mit der Jüdischen Stimme, der Linken Neukölln und der Gruppe Palästina Spricht abgesagt. Auch bei anderen Veranstaltungen zu palästinensischen Perspektiven auf den Nahostkonflikt und teils auch bei der Arbeit mit palästinensischen Künst­le­r*in­nen habe der Senat Druck ausgeübt.

Das sei auch schon unter dem Vorgänger von Kultursenator Joe Chialo (CDU) so gewesen, Klaus Lederer von den Linken. „Für uns war insbesondere irritierend, dass das Veranstaltungen betraf, an denen die Linke Neukölln beteiligt war“, sagt Sbou. „Bei einer linken Hausleitung waren wir davon ausgegangen, dass Veranstaltungen eines Bezirksverbands der eigenen Partei unstrittig sind.“

Eine Million Euro Fördergelder pro Jahr

Die Geschäftsführerin bezeichnet die Einmischung des Senats in das Programm des Kulturzentrums als „rassistisch“. Eine solche Einflussnahme auf palästinensische Stimmen stelle diese unter antisemitischen Generalverdacht, sagt Sbou. „Wir verstehen uns als einen Ort der kritischen Auseinandersetzung, und wir wollen auch einen Raum öffnen, in dem es um antipalästinensischen Rassismus geht.“

Sbou versteht das Oyoun als „Brave Space“, einen Raum, in dem in einem geschützten Umfeld Dinge ausgesprochen werden können, ohne gleich bewertet oder verurteilt zu werden. „Wir sind ein Ort, der Dialoge möglich macht, die an anderer Stelle unbequem sind.“

Louna Sbou, Geschäftsführerin Oyoun

„Wir sind ein Ort, der Dialoge möglich macht, die an anderer Stelle unbequem sind“

„Die von uns geförderten Einrichtungen müssen sich im Rahmen demokratisch abgesteckter Grenzen bewegen“, sagt die Sprecherin der Kulturverwaltung auf taz-Nachfrage. Darauf hätten sie das Oyoun mehrfach hingewiesen. Die Verwaltung fördert das Kulturzentrum mit rund einer Million Euro im Jahr. Die Fortsetzung der Förderung werde aktuell „mit Nachdruck“ geprüft, so die Sprecherin.

Das Oyun stellt sich dennoch fest an die Seite der Jüdischen Stimme und sagte die Veranstaltung am Samstagabend nicht ab. Mehrere Gäste im großen Veranstaltungssaal tragen die Kufiya, das Palästinensertuch. Einige kommen mit Plakaten in der Hand direkt von der propalästinensischen Demonstration, die am Nachmittag mit rund 10.000 Teil­neh­me­r*in­nen vom Alexanderplatz zum Potsdamer Platz gezogen war und zu der die Jüdische Stimme mit aufgerufen hatte.

Hamas bleibt bei Jüdischer Stimme eine Leerstelle

„Israel spricht nicht in unserem Namen“, sagt Nirit Sommerfeld von der Jüdischen Stimme bei der Begrüßung. Mit dem „Schock und Horror des Hamas-Massakers“ habe sich die „grausame Gewissheit“ eingestellt, „dass Israels Antwort darauf unerbittlich sein würde“. Die Welt erlebe gerade einen Genozid, sagt sie, „Angriffe von Milizen aus Gaza“ seien keine Rechtfertigung für Bombardierungen. „Die Ursprünge liegen weit vor dem 7. Oktober. Darüber wollen wir uns austauschen.“

Vom „jüdischen Mainstream“ würden sie geächtet, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Stimme, Wieland Hoban. „Aber man hört uns etwas eher zu als palästinensischen Stimmen.“ Für ihn wird der deutsche Erinnerungsdiskurs perfide gegen Minderheiten gewendet, aus dem Holocaust seien „falsche Lehren“ gezogen worden, sagt er. Ähnlich wie bei der propalästinensischen Demonstration am Nachmittag bleibt auch an diesem Abend die Verantwortung der Hamas eine Leerstelle.

Wie sehr, das zeigt sich auch in dem Statement von Gründungsmitgliedern, die nach Hoban sprechen. „Hamas sind keine Politiker, sie haben keine Konventionen unterschrieben“, sagt etwa Iris Hefets. „Deshalb sind unsere Adressaten auch die Politiker.“ Sie weine in beide Richtungen, „ich will aber nicht den Anschein erwecken, dass es eine Symmetrie gibt“, sagt Fanny-Michaela Reisin. „In Israel zu leben ist eine selbstgewählte Entscheidung. In Gaza ist es das nicht.“ „Wenn es so weitergeht, sehe ich nicht, wie alle dort zusammenleben können“, sagt Refets am Ende.

Oyoun Das Kulturzentrum besteht seit 2020 und ist die Nachfolge der Werkstatt der Kulturen. Jährlich finden rund 600 Veranstaltungen mit fast 82.000 Be­su­che­r*in­nen statt. Das Oyoun arbeitet intersektional und legt laut Leitbild einen „Fokus auf queer*feministische, dekoloniale und klassenkritische Perspektiven“.

Landeskonzept Im Berliner Konzept zur Antisemitismusprävention heißt es: Berlin „bekennt sich zu Israels Existenz- und Selbstverteidigungsrecht“ und erteilt „antisemitischen Boykottkampagnen eine klare Absage“.

BDS Die BDS-Bewegung hat zum Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren. Führende Personen aus dem BDS-Umfeld sprechen Israel das Existenzrecht ab. Der Bundestag hat die Gruppierung 2019 als antisemitisch eingestuft. (usch)

Große Sorge bereiten den Teil­neh­me­r*in­nen die möglichen Pläne Israels, die zwei Millionen Menschen im Gazastreifen nach Ägypten umzusiedeln. „Was Todeszahlen und Vertreibung betrifft, stellt das die Nakba in den Schatten“, sagt Ahmed Abed, Linke-Abgeordneter aus Neukölln, der an dem Abend für die palästinensische Seite auf der Bühne spricht. Er beklagt die „Jagd“ auf BDS-Unterstützer*innen, dabei sei dies „die friedlichste Art des Widerstands“.

Willkürliche Entscheidung

Oyoun-Geschäftsführerin Louna Sbou und ihre Kollegin Nina Martin sagen, sie wollen jüdischen Projekten einen Raum geben, unabhängig von deren Positionierung zum BDS. Insgesamt hätten sie rund 600 Veranstaltungen pro Jahr. „Wir setzen uns aktiv gegen Antisemitismus ein und machen bei Palästina keine Ausnahme“, sagt Sbou. Sie hätten Antisemitismusbeauftragte, drei von zehn Personen im Beirat seien jüdisch. „Wenn jemand das Existenzrecht Israels infrage stellt, ist das auch für uns ein absolutes No-Go.“

Verboten ist der Verein Jüdische Stimme nicht, ebenso wenig die Organisation Palästina spricht. Dass der Senat das Kulturzentrum dennoch gedrängt habe, keine Veranstaltungen mehr mit ihnen durchzuführen, „weil das ‚politisch zu brisant‘ sei“, findet Sbou willkürlich. Denn es gebe vom Senat keine Kriterien, ab wann das gelte.

Die Jüdische Stimme steht aktuell allerdings nicht nur wegen ihrer Nähe zum BDS in der Kritik, sondern auch wegen ihrer Reaktion auf das Pogrom der Hamas. „Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Pa­läs­ti­ne­ne­r:in­nen sind“, schrieb der Verein 10. Oktober in einem Statement.

Sbou will das nicht bewerten. „Gelebte Erfahrung steht für uns im Zentrum unserer Arbeit. Es steht uns nicht zu, zu beurteilen, wie sich eine Gruppe von Betroffenen ausdrückt.“ Ihre Kollegin Nina Martin ergänzt: „Gerade eine Demokratie braucht Diskurse und muss Debatten aushalten, die dazu noch in Nordneukölln wichtig sind.“ Wenn tagtäglich Menschen auf der Sonnenallee protestieren, sei es umso wichtiger, Räume zu öffnen, um auch zu diskutieren.

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