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Israels ProtestbewegungWo ist der Gegenentwurf?

Kommentar von Gil Shohat

Israels Protestbewegung muss solidarisch sein mit den Pa­läs­ti­nen­se­rn. Und mit dem Interesse der jüdischen Bürger an einem Leben in Sicherheit.

Protest gegen den Siedlungsbau nahe dem palästinensischen Dorf Beit Dajan im Juni 2023 Foto: Nasser Ishtayeh/imago

E s gab im israelischen Parlament, der Knesset, einen symbolischen Moment an diesem für die Geschichte Israels denkwürdigen 24. Juli 2023. In Live-Aufnahmen der Plenardebatte zur Abschaffung der sogenannten „Angemessenheitsklausel“, mit der das israelische Oberste Gericht bisher Regierungsentscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Interesse der Allgemeinheit kassieren konnte, ist zu sehen, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant vehement auf Justizminister Yariv Levin, den Architekten dieser radikalen Schwächung des Justizsystems, einredet.

Levin solle wenigstens einen der unzähligen Einwände der Opposition in den Gesetzestext aufnehmen, um zumindest ein kleines Entgegenkommen zu signalisieren. „Gib ihnen doch etwas!“, sagt Gallant mehrmals. Levin beharrt darauf, dass der Gesetzesentwurf genau so durchgehen werde. Zwischen den beiden sitzt Premierminister Benjamin Netanjahu, scheinbar geistig abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde. Er lässt die beiden munter auf offener Bühne streiten, während er parallel einen weiteren Einwand der Opposition mit seiner Stimme ablehnt. Kurze Zeit später steht er kommentarlos von seinem Sitzplatz auf und verlässt den Plenarsaal.

Dieses Video lief am Abend nach der Abschaffung der „Angemessenheitsklausel“, die trotz monatelanger, bisher nie dagewesener Proteste der israelischen Bevölkerung durchgesetzt wurde, in allen Hauptnachrichtensendungen des Landes. Der Tenor: Netanjahu habe sein politisches Schicksal in die Hände der antidemokratischen Hardliner seiner Regierung gelegt. Es seien diese Kräfte, die den radikalen, unilateralen Umbau Israels von einer liberalen, funktionierenden Demokratie mit einer dynamischen Wirtschaft in eine Diktatur vorantreiben würden.

Die zunehmend fassungslosen Jour­na­lis­t:in­nen sprachen von der „Verantwortungslosigkeit“ Netanjahus im Hinblick auf die nationale Sicherheit sowie die finanzielle Stabilität des Landes. Er sei bereit, Israel „in den Abgrund zu führen“ – trotz des Drucks der israelischen Armeereservisten, trotz drohender Herabstufungen durch internationale Ratingagenturen und vor allem trotz der deutlichen Kritik der US-Regierung.

Bauboom in den Siedlungen

Es kann keine Demokratiebewegung ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben

Was in der gegenwärtigen liberalen Medienlandschaft (mit wenigen Ausnahmen) in Israel zu wenig Beachtung findet: Die zentralen Akteure beim anvisierten Abbau der demokratischen Schranken des israelischen Staates sind ebenfalls treibende Kräfte der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung. Sie übertragen dabei ihre antidemokratischen Überlegenheitsvorstellungen aus dem Westjordanland auf das israelische Kernland.

Gleichzeitig eskaliert die Gewalt von Sied­le­r:in­nen gegenüber Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen in den besetzten Gebieten unter Duldung der israelischen Armee, wie etwa beim Überfall auf das Dorf Huwara im Frühjahr 2023 oder in Umm Safa im vergangenen Juni. Als Finanzminister ist der Siedler Smotrich zudem für die massive Umschichtung von Steuergeldern aus dem israelischen Kernland in die völkerrechtswidrigen Siedlungen verantwortlich, was dort unter anderem zu einem regelrechten Bauboom führt.

Es ist gleichzeitig wichtig zu betonen, dass es zahlreiche Interessengruppen in dieser Regierung gibt (etwa die Ultraorthodoxen, die Mizrachim), die aus unterschiedlichsten Gründen die radikale Schwächung des Justizsystems unterstützen. Doch keine Gruppe benötigt die Abschaffung der unabhängigen Gerichtsbarkeit für ihre Ziele so sehr wie die Siedler:innen-Bewegung.

Wegen dieser Verknüpfungen sprechen Ak­teu­r:in­nen des „Blocks gegen die Besatzung“, darunter „Breaking the Silence“ und „Standing Together“, im Kontext der Antiregierungsproteste von der „Siedler-Revolution“. Ihr Ziel ist es, die Mehrheit der Protestbewegung davon zu überzeugen, dass es keine „Demokratiebewegung“ ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben könne.

Die nächsten Monate entscheiden

Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die politisch heterogene Protestbewegung. Die zentrale Frage ist, ob es ihr gelingen wird, einen programmatischen Gegenentwurf zu den rechtsautoritären Plänen der Regierung zu entwickeln, der einerseits die Mehrheit der Bewegung hinter sich versammelt, andererseits aber auch mutig genug ist, um den oben beschriebenen ideologischen Ursprung dieser rechtsautoritären Agenda zu benennen.

Bisher sieht es jedoch nicht danach aus: Erst am vergangenen Demo-Wochenende hat eine der Anführerinnen der Protestbewegung, Shikma Bressler, mit Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder auch Iran öffentlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates verneint. Dies ist taktisch und auch emotional verständlich.

Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten sozialen Frage und dem Rassismus

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die Protestziele in eine integrative politische Botschaft auszuweiten, die neben der Solidarität mit den Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen in Israel und in den besetzten Gebieten auch das legitime Eigeninteresse der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels nach einem Leben in Sicherheit aufnimmt.

Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten sozialen Frage (Israel ist eines der OECD-Länder mit den höchsten Einkommensunterschieden) sowie mit dem strukturellen Rassismus innerhalb der israelischen Gesellschaft (gegenüber den palästinensischen Staats­bür­ge­r:in­nen des Landes, aber auch gegenüber marginalisierten Teilen der jüdischen Bevölkerung, etwa den Mizrachim oder den äthiopischen Jüdinnen und Juden), um diese Bevölkerungsgruppen für die Proteste zu gewinnen.

Dies klingt in der jetzigen Situation zugegebenermaßen realitätsfern, doch es ist genau diese Realität, die schon eine ganze Zeit lang für die meisten Menschen hier vor Ort untragbar ist.

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7 Kommentare

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  • Mit diesem Dilemma bzw. dieser Herausforderung ist die Linke international derzeit konfrontiert.



    Gerade in Deutschland ist das mehr als offensichtlich: die Identitätspolitik des urbanen Bildungsbürgertums ist in ihren Zielen, der Bekämpfung von Diskriminierung, eine gute Idee. Solange sie aber weite Teile der Bevölkerung, insbesondere prekär beschäftigte, von Armut betroffene oder gefährdete Menschen, solche mit niedrigem Bildungsniveau, Menschen auf dem Land etc. ignoriert oder sogar auf sie herabschaut, wird die AFD an Zulauf gewinnen und im Grunde werden ur-linke Positionen über Bord geworfen.



    Wir müssen den Kampf gegen verschiedene Formen sozialer Ungleichheit wieder zusammendenken, Solidarität schaffen und aktiv werden statt uns auf Spaltungsversuche einzulassen.



    In Deutschland, in Israel, überall.

  • Der Autor möchte also die liberale und demokratische Protestbewegung gegen den autoritären Umbau des Staates darauf verpflichten, alle ihm wichtigen Positionen zum Teil ihres Forderungskataloges zu machen. Dabei ist der "kausale Zusammenhang zwischen Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates" doch sehr konstruiert - dass rechtsradikale Siedler an diesem Umbau interessiert sind, ist keine Kausalität - alle wie auch immer motivierten Rechten und Autoritären dürften bei einem solchen Projekt wohl dabei sein.



    Die Besatzung ist eben ein Dilemma: einerseits Folge arabischer Aggression und Schutz gegen diese, andererseits illegale Landnahme und Vertreibung durch die Siedler. Der demokratische Protest würde sich an diesem Thema wahrscheinlich zerstreiten und zersplittern.



    Den "Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder auch Iran" finde ich da viel treffender, denn die liefern die Blaupause für die aktuelle israelische Agenda.

    • @dites-mois:

      Die Blaupause mit Blick auf die genannten Länder besteht wohl auch darin, die Proteste “totlaufen” zu lassen, mit genügend Chuzpe, den Staatsbau hin zum Autoritarismus trotzdem unbeirrt voranzutreiben.



      Dennoch verbietet es sich, Israel in dieser Hinsicht gerade mit dem Iran zu vergleichen, da dort die Diktatur seit vielen Jahrzehnten besteht und die Opposition mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. In Israel ist das allein deshalb schon nicht notwendig, weil der Verweis auf die äußere Nesrohung von Hamas & co. stets reichte, um diese extrem heterogene israelische Gesellschaft zusammenzuhalten. Insofern stimme ich Ihnen zu, dass eine Ausweitung der Proteste auf das Thema der Besatzungspolitik wohl das baldige Ende dieser Bewegung nach sich ziehen würde. Und ich fürchte, dass - trotz beeindruckender Zahlen auf den Straßen - die Protestbewegung sich tatsächlich totlaufen wird, da eine gemeinsame politische Agenda schlicht fehlt, die über die Verhinderung der Justizreform (und den Erhalt des säkularen Staats) hinausgeht.



      Als Vergleichsmaßstab fallen mir da eher noch die USA unter Trump ein, nur dass Netanyahu und seiner Rechtskoalition offenbar das gelingt, was in den USA mit der Abwahl Trumps mit Mühe und Not noch verhindert werden konnte. Wenn dem Kerl von den amerikanischen Wählern allerdings noch ein zweiter Lauf zugestanden wird, wird er mit Sicherheit konsequent da weitermachen, wo er 2020 aufhören musste.



      Aber Netanyahu benötigt dann auch nicht mehr die Unterstützung Trumps, da er diesem bis dahin weit vorausgeeilt ist.

      • @Abdurchdiemitte:

        Stimmt, der Iran gehört nicht rein, in die Aufzählung. Ungarn, Polen, Türkei und - weit fortgeschritten: Russland - liefern die Blaupause.

        • @dites-mois:

          Sehe ich auch so. Der Iran hat keine Ähnlichkeiten in irgendeiner Weise. Bei Ungarn, Polen gibt es Entsprechungen, allerdings ist, war und bleibt Israel immer ein Land des Nahen Ostens. Da sind Wechselwirkungen mit den Nachbarn zwangsläufig. Netanjahus treuste und zahlreichste Wählergruppe sind Juden aus orientalischen Ländern: www.nzz.ch/interna...gruesst-ld.1749210 Wir stellen fest, dass Israel dem Libanon, Syrien und Jordanien ähnlicher wird, sich sozusagen in der Nachbarschaft integriert.

          • @Henriette Bimmelbahn:

            “Wir stellen fest, dass Israel dem Libanon, Syrien und Jordanien ähnlicher wird, sich sozusagen in der Nachbarschaft integriert.”



            Ihre Einschätzung mag stimmen, trotzdem ist es eine beunruhigende Perspektive, muss es v.a. für säkulare, liberale europäische Juden sein.



            Auf der anderen Seite wird Israel wohl immer von radikalen, islamistischen Arabern als Fremdkörper in ihrer Nachbarschaft betrachtet werden, da können Netanyahu und seine rechten Regierungspartner noch so konsequent daran arbeiten, Staat und Gesellschaft ihren Nachbarländern ähnlicher zu machen. Israel ist und bleibt in ihren Augen immer der Staat ihrer jüdischen Erzfeinde.



            Natürlich kann dieser Prozess auch als eine (zwangsläufige) Entwicklung des demografischen bzw. gesellschaftlichen Wandels gedeutet werden. Aber ob nun politisch motiviert oder demografische Zwangsläufigkeit (oder beides), in jedem Fall verliert Israel zunehmend seinen Charakter als westliche, “europäische” Gesellschaft, wie auch immer man das bewerten mag.

  • “Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die Protestziele in eine integrative politische Botschaft auszuweiten, die neben der Solidarität mit den Palästinenser:innen in Israel und in den besetzten Gebieten auch das legitime Eigeninteresse der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels nach einem Leben in Sicherheit aufnimmt.”



    Unter den gegebenen Bedingungen ist das zwar gut gemeint, erscheint mir allerdings wie die Quadratur des Kreises. Denn der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern ist älter als der politische Rechtsrutsch der israelischen Gesellschaft und die gesellschaftspolitische Faschisierung ist schon ein über Jahrzehnte andauernder schleichender, aber abzusehender Prozess, er hat jedenfalls lange vor Netanyahu eingesetzt.



    Spätestens die Ermordung Jitzchak Rabins 1995 war ein unübersehbares Fanal, in welche Richtung die innenpolitische Reise geht, welche Kräfte nach Dominanz und Machtgewinn streben und mit welchen Mitteln sie das durchzusetzen versuchen.



    Insofern markierte Rabins Tod nicht nur das Ende der Hoffnungen auf den israelisch-palästinenschen Friedensprozess. Gleichzeitig bedeutete dieser Einschnitt auch das endgültige Scheitern eines freiheitlich-sozialistischen Zionismus der israelischen Gründergeneration um Ben-Gurion.



    Jüdische Denker wie Buber, Arendt oder Leibowitz haben früh auf den “blinden Fleck” verwiesen, der der zionistischen Idee innewohnt, nämlich, dass das Problem der Unterwerfung oder Vertreibung der ursprünglichen palästinensischen Bevölkerung als Voraussetzung des israelischen Staatsgründung ausgeklammert wurde.



    Die Feindschaft zwischen Juden und Palästinensern ist jedoch kein Naturgesetz und das Angebot der israelischen Seite muss die Rückkehr zur Zwei-Staaten-Lösung sein. Daran wird kein Weg vorbeiführen und Israel muss hier als erstes die Initiative ergreifen.



    Das löst zwar nicht das Problem der Gewalt von palästinensischer Seite, man sollte es aber wenigstens versuchen. Danach sieht es in Israel leider derzeit nicht aus.