Proteste gegen Justizreform in Israel: „Wir können das Land lahmlegen“
Israel steuert auf eine Verfassungskrise zu, sagt Yiftach Golob von Brothers and Sisters in Arms. Aber Golob glaubt an die Stärke der Protestbewegung.
taz: Herr Golob, Sie sind mit der Protestbewegung Brothers and Sisters in Arms seit mehr als einem halben Jahr auf der Straße gegen die sogenannte „Justizreform“ der Regierung. Wie groß war am Montag Ihr Schock, dass die Regierung in einem ersten Schritt die „Angemessenheitsklausel“ tatsächlich abgeschafft hat?
Yiftach Golob: Es war vorherzusehen. Und es ist auch das Beste, was der Protestbewegung in Israel passieren konnte.
Was meinen Sie damit?
Die Regierung hat den ersten Schritt ihrer Salamitaktik durchgezogen. Nun können sie nicht mehr die leere Terminologie verwenden, auf die sie immer zurückgreifen. Sie haben der Welt und den Israelis gezeigt, dass sie nur ein Ziel haben, nämlich die gerichtliche Kontrolle und die Gewaltenteilung auszuhebeln.
Yiftach GolobVeteran des israelischen Militärs (IDF). Führendes Mitglied der Bewegung Waffenbrüder und -schwestern und der Protestbewegung der IDF-Reservisten und IDF-Veteranen.
Sie sind einer von mehr als 10.000 Reservist*innen, die nun den Militärdienst angesichts des Demokratieabbaus verweigern wollen.
Ja, ich habe in einer Spezialeinheit gedient und bin nun Teil dieser großen Protestbewegung „Waffenbrüder und -schwestern“. Der Grund, weshalb wir weiter als Reservisten gedient haben oder dienen, sei es in der Luftwaffe, bei den Marines oder in der Armee, ist, dass wir auf die in der Unabhängigkeitserklärung verankerten Werte geschworen haben. Diese Werte sind die Grundlagen Israels: Demokratie, Bürgerrechte, Gleichheit und Freiheit. Wir sind derzeit an einem sehr sensiblen Punkt und sehr wachsam, was die Konsequenzen unseres Handelns angeht. Aber wir sind uns auch der Tatsache bewusst, dass wir als Patrioten Israels immer an vorderster Front stehen, um Israel und die Demokratie zu verteidigen, so wie wir es in der Vergangenheit getan haben und einige von uns es immer noch tun. Wir müssen verstehen, dass Israel jetzt gerade mit genau den gleichen Themen konfrontiert ist wie in Ungarn und Polen.
Die Protestbewegung hatte bislang großen Einfluss auf den israelischen Staatsumbau und sie hat ihn signifikant verzögert. Und doch: Diesen ersten Teil der Justizreform konnte sie nicht aufhalten. Müssen Sie ihre Strategie ändern?
Sie werden verstehen, dass ich unsere Strategie hier nicht genauer erklären kann. Denn wir haben es mit einem Feind zu tun. Leider ist dies die richtige Terminologie. Menschen in der ganzen Welt müssen verstehen, dass die Regierung in dem Moment, in dem sie die Angemessenheitsklausel abgeschafft hat, illegitim geworden ist. Was passiert jetzt? Machen Sie sich auf eine sehr lange Reise gefasst. An der werden Hunderte von Nichtregierungsorganisationen beteiligt sein: wir, die Waffenbrüder- und -schwestern, Unternehmen, die Wissenschaft. Und dann blicken wir noch mal auf die USA und auf Europa. Israel wird nicht der Finsternis anheimfallen, wie wir es anderswo gesehen haben, etwa in Polen, Ungarn, Argentinien und der Türkei.
Was macht Sie da so sicher?
Israel steuert auf eine Verfassungskrise zu. Aber Israel ist in einigen Aspekten einzigartig. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Stärke des israelischen Militärs mit der wirtschaftlichen Kraft als Start-up-Nation zusammenhängt, genauso wie mit einer unabhängigen Wissenschaft. Diese drei Bereiche hängen voneinander ab – und dieselben Leute halten sie am Laufen. Die derzeitige Regierung mit ihren Ministern, die oft nicht im Militär gedient haben, die an religiösen Schulen studiert haben, sind das genaue Gegenteil. Wenn wir – also die Vertreter*innen von Wirtschaft, Militär und Wissenschaft – beschließen, dass wir das Land lahmlegen werden, dann werden wir es lahmlegen.
Es ist immer wieder von einem drohenden Bürgerkrieg die Rede. Sehen Sie den kommen?
Ich denke, genau das will die Regierung. Sie will Blut auf den Straßen. Aber das Problem der jetzigen Regierung ist, dass alle Menschen, die in den Einheiten der Armee gedient haben, die Stärke Israels ausmachen. Die israelische Armee ist wirklich eine des Volkes, der ganzen Bevölkerung. Der Ministerpräsident in Israel kontrolliert die Armee nicht, sie ist fast völlig unabhängig. Und der Militärchef, der Chef des Inlandsgeheimdienstes und des Mossads haben eine sehr klare Erklärung abgegeben, dass sie auf der „richtigen Seite“ stehen werden bezüglich der Justizreform. Auch wenn also die Regierung alles tut, um Israel in einen Bürgerkrieg zu stürzen, ich sehe es nicht kommen.
Leser*innenkommentare
Rudolf Fissner
"genau den gleichen Themen konfrontiert ist wie in Ungarn und Polen."
Eben nicht.
In Polen versucht man auf die oberste Gerichte Einfluss zu nehmen in dem man einen Teil der Richter des Landesjustizrats nicht mehr von Richtergremien bestimmt werden sollen sondern vom Parlament. Deren Entscheidungen sind aber immer noch bindend.
Mit der Justizreform in Israel verfolgt die israelische Regierung das Ziel, dem Parlament zu ermöglichen, mit einer einfachen Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben.
Damit würde dessen Befugnis zur rechtlichen Überprüfung von Gesetzen fast vollständig abgeschafft werden.
Das ist im Gegensatz zu den polnischen Begehrlichkeiten eine vollständige Aufhebung der Position der Justiz.
Rudolf Fissner
Der ehemalige Premierminister Ehud Barak ist im Spiegel Nr. 31 / 29.7.2023 zum Thema.
SPIEGEL: Befindet sich Israel auf dem Weg in eine Diktatur? Oder ist es bereits eine, seit die Oberste Gerichtsbarkeit am Montag der- art entscheidend geschwächt wurde?
Barak: De-facto-Diktatur ist meines Erachtens der richtige Begriff. Und das ist Israel nun geworden, nach der Abschaffung des Ange- messenheitsprinzips durch das Parlament am Montag. Aber der Kampf um die Demokratie wird weitergehen, wenn die Regierung so wei- termacht, wie sie es plant.
ingrid werner
Nochmal was zu dem obligaten Polen-, Ungarn- Vergleich (abgesehen davon, dass es dort so dunkel auch nicht ist, es gibt auch dort noch eine lebendige Zivilgesellschaft): Diese Länder sind mitnichten mit den selben Problemen konfrontiert wie Israel. Sie haben weder einen territorialen noch einen ethnischen Konflikt. Diese sind es, die in Israel den formalen Abbruch (de facto waren sie für die Palästinenser schon immer mindestens beliebig) des normiert Rechts, der Institutionen und der Kontrolle der Exekutive so brandgefährlich machen, und die Zeloten schon bald freie Fahrt haben könnten.
Henriette Bimmelbahn
@ingrid werner Natürlich haben, oder hatten sowohl Ungarn, wie auch Polen ethnische Konflikte, aktuell bedient sich z.B. die ungarische Regierung dieser ethnischen und territorialen Konflikte um kräftig bei den Nachbarstaaten zu stänkern:
www.mdr.de/geschic...ag-ungarn-100.html
Daraus: "Besonders schwerwiegend war die Verleihung der doppelten Staatsbürgerschaft an all jene Auslandsungarn, die in den alten ungarischen Grenzen leben."
ingrid werner
@Henriette Bimmelbahn Polen ist das aktuell glaube ich ethnisch homogenste Land Europas. Seine Minderheiten hat es im zweiten WK an die SU verloren, wissen Sie sicher. Bisher jedenfalls hat Polen offiziell keine Ansprüche angemeldet (Orban auch nur mehr symbolisch) Polen gibt es auch noch ein paar in Weißrussland, weniger noch in der Ukraine. Mit der Ukraine ist man sogar aktuell richtig dick befreundet. Polen erkennt seine Grenzen an. Kein Konflikt nirgends. Vor allem: alle benachbarten großen Ethnien: Weißrussen, Ukrainer, Littauer haben ihren eigenen Staat. Soll ja mit den Palästinensern sich ein bisschen verhalten, hab' ich gehört,
Henriette Bimmelbahn
@ingrid werner Wie "mehr symbolisch" in Ungarn ethnische Minderheiten behandelt werden:
lernen-aus-der-ges...hren/content/14410
Wir sprechen hier von 2008.
Henriette Bimmelbahn
@ingrid werner Und wissen Sie auch, wie Polen so hübsch ethnisch homogen geworden ist? Das ethnisch homogene Polen war bekanntermaßen vor dem 2 WK das Land mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil weltweit, etwa 10%. Nach dem Krieg wurden die übriggebliebenen ca. 240 000 Juden verfolgt, z.B. 1946 beim Pogrom von Kielce de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_Kielce . Die nicht als "wahre Polen" Anerkannten verließen ihre Heimat in Scharen.
Über die, in den 60-Jahren verbliebenen etwa 40 000 brach bald die nächste schwere Verfolgung herein. Eine wirtschaftliche und politische Krise wurde von den zwei starken Männern Polens, des Parteichefs Gomulka und des Innenministers Moczar, genutzt um Juden in allen Medien , bei "spontanen" Demonstrationen, bei Partei- und Betriebsversammlungen, etc. als nicht "wahre Polen" zu brandmarken, die der heroischen ponischen Nation schaden wollten.
taz.de/68er-Proteste-in-Polen/!5495381/ Im Anschluss wurden Juden, auch Halb-, Viertel-, oder Sechzehnteljuden massenhaft entlassen und so wirtschaftlich stranguliert. In einer in Nachkriegseuropa einzigartigen Kampagne zwang die polnische Regierung die nicht "wahren Polen" das Land zu verlassen. Einzig mögliche Destination: Israel. Da gehörten die "volksfremden" Juden,ihrer Meinung nach, hin.
So entstand das ethnisch homogene Polen.
Noch etwas Background: de.wikipedia.org/w...der_Juden_in_Polen
www.bpb.de/themen/...mitismus-in-polen/
ingrid werner
@Henriette Bimmelbahn Sie wollen also sagen, weil früher andere Nationen größere ethnische/ relig. Minderheiten unterworfen, vertrieben umgebracht haben (und es auch jetzt noch da und dort zu rassistischen Übergriffen kommt), ist Israel jetzt auch mal dran und darf auch seinen Schnitt machen?
Es geht mir, das wird Ihnen sicher nicht entgangen sein, v.a. um den Vergleich der Regime im Hier und Heute – dass U u P nicht die allerdemokratischsten u rechtstaatlichsten L. sind und auch in der Vergangenheit ethnische Minderheiten verfolgt, vertrieben, umgebracht, assimiliert haben, ist mir bekannt. Aber: es findet sich dort
h e u t e kein bewaffneter Konflikt in der Dimension wie wir ihn heute in Israel/ Palästina sehen. Und: Im Moment bricht diese Besatzung/ Kolonisierung bzw ihre Akteure der israelischen Halbdemokratie den Hals u gefährdet auf längere Sicht der Existenz des Staates o glauben Sie, dass Sie es schaffen sich am Ende der Palästinenser, immerhin die Hälfte der Bevölkerung zw Meer u Jordan, zu entledigen? Um Ungarns u Polens Existenz braucht man sich hingegen keine Sorgen machen.
ingrid werner
mal was zum Thema Sprache: Warum ist es eigentlich Usus geworden jede Sache oder wie hier die Organisation Achim Leneshek (Waffenbrüder ; ) auf Englisch anzugeben (selbst wenn sie nicht aus den USA oder GB kommt)? In Frankreich oder z.B. in der franz. Ausgabe der Times of Israel läuft sie ganz selbstverständlich als 'frères d’armes'. Neulich hat es eine taz- Redakteurin in einem Artikel über die Lage in berliner Bädern sogar fertiggebracht den Song von Stromae 'Alors on danse’ auf Englisch aufzuschreiben. Pourquois?
Emmo
Traurig - Israel gleicht sich seinen nahöstlichen Nachbarn an, aber auf eine Weise, die wir uns nicht gewünscht haben :-(
festus
Streiche "den Marines", setze "der Marine". Israel hat zwar Flotille 13 und Hafensicherheitskräfte, aber keine Marineinfantrie.